Heimat ist dort, wo wir begraben liegen
Kante
Literatur hat ihren eigenen Wahrheitsgrund. Für Walter Benjamin war das Erzählen eng verknüpft mit der Vermittlung sozialer Erfahrung – und stand damit in diametralem Gegensatz zum Roman, dem für ihn genuinen Genre der Moderne. Auch Worte brauchen Hebammen. Narration gleicht einem fortwährenden Geburtsprozess, in welchem die Welt durch das Instrument der Sprache erkannt, verwandelt und forterzählt wird. A.J. Weigoni schafft es in seiner Liebeserklärung an das Rheinland, die vermeintlich eindeutigen zwischenmenschlichen Verhältnisse in ihr Gegenteil zu verkehren. Er verarbeitet das Luhmannʼsche Prinzip der Beobachtung höherer Ordnung erzählerisch. Es gelingt Weigoni auf diese Weise, die eine vermeintliche Wahrheit, die eine vermeintliche Realität als Konstruktion zu entlarven. Die Außenseiter, auf man im Rheinland trifft, sind meist nur auf den ersten Blick liebenswerte Exzentriker, ihre Schattenseiten, ihre Abgründe sind noch unberechenbarer als die Folgen der Globalisierung.
Die Stärke des Romans liegt im panoramatischen Aufbau der Szenarien, die epische Breite, mit der auch dieser Roman angelegt ist, dies erlaubt ein gehöriges Maß an auktorialer Willkür. Literatur wird dadurch zur Poesie, dass sie sich vom sprachlichen Alltagskleid abhebt, das macht die Literarizität dieses Romans aus, in diesem Sinn ist literarische Rede per se Sprachkritik. Literatur setzt eine Prozedur der Klärung, aber auch der Aufklärung in Gang. In diesem Sinne folgt Weigonis Sprachkritik einer demokratischen Geistesschärfung. Die Deterritorialisierung der Sprache, die in der Vorstellung von Sprache und Kultur als portativer Heimat findet im Rheinland ihre ambivalente Kompensation. Nicht zur Karnevalszeit ist das Rheinland von Spaß-Utopisten besetzt, die alles Irreale und Unmögliche so schnell zur Möglichkeit und Tatsächlichkeit, zum Produkt oder zum Stil machen, dass jeder Versuch zum fundamental Anderen sofort an der Tradition. Die Rheinländer wissen, wie widersprüchlich man sein muss, um wirklich konsequent zu sein.
Dieser Romancier macht sich – jedoch nicht in Besserwisserei eines versteinerten 68-er – verdächtig, der überall nur die Kulturindustrie oder Verblendungszusammenhänge globaler Natur sah und von den so viel feineren Bewusstseinsverwerfungen der Alltagskultur keine Ahnung hatte. Die Flucht vor der Realität hinein in die Leichtigkeit des Rausches gelingt am besten auf dem direkten Weg zum Brauhaus. In dieser auf private Beziehungen abgebildeten ökonomischen Analyse, die ganz auf den konkreten Ort – das Rheinland – und die dort lebenden Figuren konzentriert ist, liegt der Kern der Geschichte. Wie ein Puppenspieler eine Marionette nach der anderen aus dem Sack zaubert, zieht der Autor von irgendwoher einen Erzählstrang nach dem anderen auf. Am Ende wachsen sie zusammen, doch zu Beginn stehen sie disparat nebeneinander.
Das Narrative erlebte im 20. und frühen 21. Jahrhundert eine ungeheure Konjunktur. Und dennoch müssen Geschichten reifen wie alter Wein. Anekdoten haben die unerschütterliche Eigenschaft, sich schwer widerlegen zu lassen, ausser man erzählt sie gegen den Strich und dies gelingt Weigoni überzeugend. Das Wort Heimat löst widersprüchliche Reaktionen aus, kaum ein anders ist so drückend voll von intimster Erinnerung an Angenehmes und Unangenehmes, kaum ein anderes rührt so unabweislich nah an frühen Schmerz, Urvertrauen und Angst. Die Rheinländer waten knietief durch metaphysischen Weltschmerz. Die Entfremdung des Einzelnen von der Welt ist das Thema, der Rest ist Selbstbespiegelung. Diese Typen haben ihr eigenes Schicksal von der Geschichte der Welt abgekoppelt. Psyche und Physis sind unzureichende Kategorien, um die Komplexität eines Geschehens zu beschreiben, das sich immer neu rekonfiguriert. Weigoni setzt ins Bild, dass im Rheinland ohne Sprache nichts wäre außer stummem Entsetzen, mit Sprache jedoch wird das Entsetzen nicht weniger, aber es wird zu einer menschlichen Situation.
Mit dem Erinnern wird bei den Rheinländern auch das Selbstbild labil, ihr fragwürdiges Ich versucht sich mit seinen Erinnerungen zu versöhnen, scheitert aber immer wieder an deren Leerstellen und Unsicherheiten, denn letztlich gehört zum Leben auch dessen ungelebter Anteil, jene Dinge, gegen die man sich entschieden hat, die aber dennoch präsent sind. Weigoni stellt eine Heterotopie ins Zentrum seines Romans. Das Rheinland ist ein Naturraum, an dem sich die Zerstörungskraft der Kulturgeschichte ablesen lässt, darüber hinaus spannt der Autor einen überzeitlichen Erinnerungsraum und verweist auf die beschränkte Reichweite von gesellschaftlicher Gewalt.
Die Heimat ist in den Lokalhelden ein schrecklicher Sehnsuchtsort. Dieser Roman ist ein Dokument ätzender Zeit– und Kulturkritik. Vielschichtig im Aufbau, in seiner Montagetechnik vergleichbar mit Berlin Alexanderplatz, Manhattan Transfer und Ulysses, zeichnet dieser Romancier ein düsteres Bild des heiteren Rheinlands, es bestehen unverhohlene Ressentiments bis hin zum offenen Rassismus gegenüber der Globalisierung, die weltpolitische Krisensituation steht kurz vor dem Abgrund. Schreiben ist für Weigoni kontemplative Erinnerungsarbeit, die Warnzeichen setzt. Weigonis Roman ist von Figuren bevölkert, die reale Vorbilder haben, die Einsichten, die er ihnen abgewinnt, stellt sich aber erst durch Fiktionalisierung ein. Sprache war für diesen Romancier, der sich nie als Lehrmeister oder Wortschatzhygieniker aufführte, ein feinstimmiges, wandelbares und dann auch ordinäres Organ, dies zeigt sich in den wie nebenbei hingestreuten, zahllosen poetischen Alltagsminiaturen. Es ist eine rhetorische Literatur, eine, die ihre imposanten Mittel nicht ständig ausstellt. Bei der Lektüre legt sich die Fragilität bloß, die in diesem Mikrokosmos angelegt ist. Sein Rheinland gibt das Geheimnis nie ganz preis.
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Lokalhelden, Roman von A. J. Weigoni, Edition Das Labor, Mülheim 2018 – Limitierte und handsignierte Ausgabe des Buches als Hardcover.
Weiterführend →
Lesenswert das Nachwort von Peter Meilchen sowie eine bundesdeutsche Sondierung von Enrik Lauer. Ein Lektoratsgutachten von Holger Benkel und ein Blick in das Pre-Master von Betty Davis. Die Brauereifachfrau Martina Haimerl liefert Hintergrundmaterial. Ein Kollegengespräch mit Ulrich Bergmann, bei dem Weigoni sein Recherchematerial ausbreitet. Constanze Schmidt über die Ethnographie des Rheinlands. René Desor mit einer Außensicht auf die Bonner Republik. Jo Weiß über den Nachschlüsselroman. Margaretha Schnarhelt über die kulturelle Polyphonie des Rheinlands. Karl Feldkamp liest einen Heimatroman der tiefsinnigeren Art. Walther Stonet lotet Altbierperspektiven aus. Conny Nordhoff erkundet die Kartografie. Zuletzt, ein Rezensionsessay von Denis Ullrich.