Historisch-Kritische Ausgabe

Ruppigkeit ist die eigentliche Folklore von Berlin

Für viele junge Menschen ist die DDR im Geschichtsunterricht heute genauso weit entfernt wie das Mittelalter. Wie oft bietet Literatur die Möglichkeit zur Zeitreise. Die Prosa über die verdrängten Brüche in der deutschen Gesellschaft konfrontiert uns bei der Lektüre von Abgeschlossenes Sammelgebiet dem eigenen Verdrängten. Nichts ist wieder zusammengewachsen. Utopien sind mit dem jämmerlichen Ende des „realexistierenden Sozialismus“ ein für alle mal desavouiert.

 Hier ist er also, der große Zeitroman für Marcel Reich-Ranicki.

Wend Kässens, NDR 3, Literatur vor Mitternacht

Die Abkürzung BRD wurde im Kalten Krieg für die Bundesrepublik Deutschland als eine nicht offizielle Abkürzung verwendet, mitunter im wissenschaftlichen und insbesondere politischen Kontext analog zu dem meist in Anführungszeichen gesetzten Kürzel „DDR“ während des Zeitraums von 1949 bis 1990. A. J. Weigoni gelingt in seinem ersten Roman Abgeschlossenes Sammelgebiet die detaillierte Abbildung seiner Epoche in der Sprache. Darin ähnelt er Arno Schmidt, der in seiner Prosa der 1950er–Jahre die unmittelbare Gegenwart der Adenauer–Ära brennscharf einfangen hat, das konservative Bedürfnis nach Rückkehr zur Normalität, dem Wunsch nach Änderung, nach Neuanfang.

Nichts, was sich jemals ereignet hat, ist für die Geschichte verloren zu geben. Für die Gegenwart auch nicht.

Walter Benjamin

Es gehört zu den Paradoxien der Gesellschaftskritik, daß sie in spürbarer Retromanie jener vorglobalisierten „BRD“ hinterher trauert, die sich doch selbst mit derselben Betroffenheitsrhetorik soziale Kälte, Umweltverschmutzung und kapitalistischen Wildwuchs vorwarf. Wer Geschichte zum Zwecke politischer Bildung – und das bedeutet konkret: der Schärfung politischer Urteilskraft – betreiben will, muß sich klarmachen, daß konsequente Historisierung eine Vorbedingung dafür ist, die Verführungskraft von Ideologien richtig einzuschätzen. Die DDR war ein Land, das die BRD gespiegelt hat, als dieser Spiegel Risse bekam, bedeutet dies, daß die Bürger beider Länder ihre eigene Identität überprüfen mußten. Weigonis Absicht beim Schreiben ist es, die Literatur mit dem Leben in Verbindung zu bringen, andere Sprachen aus der Wissenschaft, dem Journalismus oder der Kunst mit einzubeziehen. Er hinterfragt die patriotischen Gründungsmythen einer Nation zu. Die atmosphärische Dichte dieses Romans verdankt sich genauen Recherchen und frappierenden historischen Details. In der nostalgischen Rückschau auf 1989 haben sich die Illusionen der postbourgeoisen Arrieregarde jener Jahre in ihre Köpfe einzementiert. Der Sozialismus, so geht die oft erzählte Legende, bestand hauptsächlich aus fröhlichem Jugendleben. Hässliche Hosen, aber gewagten Dissidentenpartys. Wenig Freiheit, aber viel Sex. Wo die Liebe in die Krise gerät, gerät die ganze Welt an den Rand des Abgrunds. Und umkehrt.

Hegel bemerkte, daß alle großen weltgeschichtlichen Tatsachen sich zweimal ereignen. Er hat vergessen, hinzuzufügen: das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce.

Karl Marx

Zäsuren sind die Scheren der Geschichte; sie schneiden zumiest tief ein. Poesie und Politik das sind die Pole, zwischen denen sich dieser Roman bewegt. Weigoni stellt die Welt auf die Vergänglichkeitsprobe. Er beschreibt Westberlin als nahezu mythisches, insulares Freiheitsversprechen und arbeitet in Abgeschlossenes Sammelgebiet einen Katalog von Sinnesdaten ab, erzählt nicht nur, er deutet die Welt und ist dabei mit allen Wassern aktueller Theorie gewaschen ist. Dieser Roman ist ein anregendes Spiel mit fiktiver Erzählung und faktischer Darstellung, er ist eine geschickt konstruierte Ereignisschilderung, in der viele subjektive Perspektiven von Zeitzeugen spannend zusammengeführt werden. Es ist kein imperialistischer Blick auf die DDR ist, sondern ein Roman über die Erfahrung, daß der individuelle Wunsch nach Freiheit immer von Verrat begleitet ist, immer Schmerzen verursacht. Weigoni hat den Roman deshalb auch nicht retrospektiv angelegt, sondern gegenwärtig. Als Parabel. Die Vielzahl der kleinen und großen Geschichten ergibt ein interessantes Gesamtbild, läßt Stimmungen entstehen und zeichnet Bilder von Tragik und Komik. Weigonis literarische Kunst basiert auf einer der Videodramaturgie nachempfundenen Technik. Die Hauptfigur Moritz ähnelt in gewisser Weise Melchior Sternfels von Fuchshaim, dem Heldem in Grimmelshausen „Simplicissimus“, er stolpert von einem Unheil ins nächste. Atemlos folgt man den Verwicklungen und aberwitzigen Verwinkelungen, den Verlusten und dann wieder fast zu fantastischen Glücksfällen dieses rastlosen Lebens.

Die unwahrscheinlichsten Gespräche, die hier geführt werden, sind wörtlich gesprochen worden; die grellsten Erfindungen sind Zitate.

Zitiert Weigoni eingangs ein Motto vom Godfather des Aphorismus, Karl Kraus. Die Kunst dieses singulären Werks besteht also darin, das Gehörte, Gelesene, Aufgeschnappte oder an entlegenen Stellen Entdeckte so in konkrete Situationen einzubetten, daß wir zu Zeitzeugen werden. In Abgeschlossenes Sammelgebiet ist alles literarische Erfindung, aber eine der glaubwürdigsten, schrecklichsten und wundervollsten. Weigoni weiß genau, wie er verzögert oder beschleunigt und wovon er schweigt. Seine Moral ist die Fortführung der Erzählung mit anderen Mitteln; sein Humor ist urteilslose Vollstreckung. Mit knappen Wendungen stößt er Assoziationsketten an und erzählt fast süffig von Identität und Liebe, Vergeblichkeit und Verwandlung. Die Wahrheiten in diesem Buch sind unendlich viel zahlreicher als die Irrtümer, der Mut ist viel größer, als es die Dummheiten und Fehler sind. Aber die Verbindung von beidem macht es zu einem wahrhaftigen, beeindruckenden Dokument über die Kämpfe in den Jahren der so genannten Wende. Literatur wird zu einem Passierschein in eine Möglichkeitswelt. Dieser Roman ist die Geschichte einer Erlösung durch das Erzählen. Prosa wie Abgeschlossenes Sammelgebiet kann man womöglich nur eingeschränkt mit Befriedigung lesen, man sollte ihn geniessen, die Heftigkeiten des Texts ertragen, man muss sich ihren Besonderheiten ausliefern, ihre Bewegungen mitvollziehen, zur Not der inneren Weigerung zum Trotz. Der Leser steigt nach der Lektüre als Profiteur heraus, um es mit einem Klassiker zu sagen: „Ein Buch, das nicht wert ist, zweimal gelesen zu werden, braucht man auch nicht einmal lesen.“

 

 

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Abgeschlossenes Sammelgebiet, Roman von A. J. Weigoni, Edition Das Labor, Mülheim 2014 – Limitierte und handsignierte Ausgabe des Buches als Hardcover

Postwertzeichen erschienen zum 20. Jahrestag der DDR. Entwertet am 9. November 1989

Weiterführend → Zur historischen Abfolge, eine Einführung. Den Klappentext, den Phillip Boa für diesen Roman schrieb lesen Sie hier. Eine Rezension von Jo Weiß findet sich hier. Einen Essay von Regine Müller lesen Sie hier. Beim vordenker entdeckt Constanze Schmidt in diesem Roman einen Dreiklang. Auf der vom Netz gegangenen Fixpoetry arbeitet Margretha Schnarhelt einen Vergleich zwischen A.J. Weigoni und Haruki Murakami heraus. Eine weitere Parallele zu Jahrestage von Uwe Johnson wird hier gezogen. Die Dualität des Erscheinens mit Lutz Seilers “Kruso” wird hier thematisiert. In der Neuen Rheinischen Zeitung würdigt Karl Feldkamp wie A.J. Weigoni in seinem ersten Roman den Leser zu Hochgenuss verführt.

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