Die Radiokunst ist trotz ihrer hundertjährigen Geschichte immer noch sehr unbekannt.
Nathalie Singer
Das Radio begann vor rund 100 Jahren, die Hörgewohnheiten zu verändern und die Kulturtechnik des Sendens und Empfangens zu revolutionieren. Der Begriff „Radiophonie“ bezeichnet die daraus erwachsene Konstellation aus technisch vermitteltem Klang und Raum: die Hörerfahrung, in der sich ein Klang mit den Nebengeräuschen von Medium und Kanal zu einem originären Erlebnis vereint. „Radiophonie“ beschreibt somit auch ein Wissen, das sich im Lauf des 20. Jahrhunderts im Umgang mit den Radioapparaten herausbildete. Seit Beginn der Digitalisierung befindet sich das Radio im Umbruch. Während die Formen der Radiokunst in andere Medien migrieren, vervielfachen sich die Möglichkeiten und Ereignisse des Sendens und Empfangens: Der Mensch des 21. Jahrhunderts „funkt“ ununterbrochen und in die verschiedensten Richtungen. Die Frage danach, was empfangen wird und was gesendet, was ausgeblendet und was verstanden wird, folgt dabei nicht nur technischen Prozessen und psychoakustischen Gewohnheiten, sondern auch politischen Interessen.
Welches Wissen stellte die Institution Radio im 20. Jahrhundert bereit und wie prägt es den radiophonen Raum heute?
Welche Bedeutung kommt dem Hör-Wissen in der von visuellen Kulturen geprägten Gegenwart zu?
Wie ändern sich Kulturen, Ästhetiken und Politiken des Sendens und Empfangens?
Welche Kriterien bestimmen heute die „Sendersuche“? Wer steuert wen?
Radiophonic Spaces verbindet die künstlerische Auseinandersetzung mit Radiokunst und Radiophonie mit einem wissenschaftlichen Forschungsprojekt unter Federführung des Experimentellen Radios an der Bauhaus-Universität Weimar. Ein Team von Radiokünstler*innen und -forscher*innen hat unter Leitung von Nathalie Singer einen Hör-Raum konzipiert, in dem sich über 200 Arbeiten internationaler Radiokunst von den Besucher*innen individuell hören und erforschen lassen. Radiophonic Spaces ist begehbarer Radioraum, experimentelles Archiv, Studio und Bühne des Sounds in einem, präsentiert Experimente, Produktionsformen und Kompositionsverfahren des Radios, seinen Apparaturen und Diskursen. Vermittelt durch eine immersive Audiotechnologie lösen die Besucher*innen mit ihren Bewegungen einzelne Werke aus 100 Jahren Radiokunst aus. Der Künstler, Architekt und Musiker Cevdet Erek entwirft dafür eine Architektur, die es möglich macht, das Zusammenspiel von Sound und Raum zu erforschen. Verschränkt wird diese Architektur mit einem digitalen Nachschlagewerk zur Geschichte der Radiokunst, das vor Ort zugänglich ist.
In unserer visuell überfrachteten Zeit steigt das Interesse am Hören wieder. Radiokunst fasziniert mit der Freiheit, die sie dem Hörer lässt. Sie eröffnet Welten und lässt den Raum assoziieren, imaginieren und erinnern.
Nathalie Singer
Die Soundexponate sind nach Themen wie „Funkstille“, „Remix und Neuinszenierungen“ oder „Plattengeschichten“ geordnet. Durch individuelle Bewegungsentscheidungen können Besucher*innen verschiedene Richtungen innerhalb der Radiokunst einschlagen. Arbeitsplätze ermöglichen ein tieferes Eintauchen in die Thematik. Was bisher häufig in Archiven verschwunden ist oder nur in einzelnen Publikationen beschrieben wurde, wird hier erstmals multimedial zusammengeführt: Hörstücke, akustische Auszüge aus Produktionen, Skripte, Partituren oder persönliche Aufzeichnungen, dokumentierende Bilder aus den Studios sowie filmische Statements der Komponist*innen, Autor*innen und Regisseur*innen. Auch Fragen nach den Zusammenhängen zwischen den kulturellen und politischen Entstehungskontexten der Werke, nach den experimentellen Studiobedingungen und der daraus resultierenden Ästhetik, nach den Laboren und ihren Künstler*innen lassen sich hier erforschen.
Radiophonic Spaces im Berliner Haus der Kulturen der Welt erforscht Originaltonkunst und die Geschichte des Hörens.
Die Veranstaltung Der Ohrenmensch eröffnete das begehbare Radioarchiv und erforscht das Wissen des Hörens. Internationale Künstler*innen und Wissenschaftler*innen fragen in experimentellen Formaten nach dem Zustand und den Möglichkeiten der radiophonen Konstellation. In Konzerten, Lectures und Performances erkunden die Beitragenden ästhetische und theoretische Bedingungen der Radiophonie sowie politische Handlungsmöglichkeiten im radiophonen Raum.
Auch nach den Eröffnungstagen können die Radiophonic Spaces intensiv genutzt, diskutiert und vermittelt werden: Jeweils von Donnerstag bis Montag ab 17 Uhr finden Gespräche, Vorträge, Performances, Führungen, Filmvorführungen oder gemeinsames Hören statt. Forschungsgruppen (Seminare, Radiomacher*innen u. a.) und Vermittlungsprojekte werden gemeinsam mit dem Publikum einzelne Arbeiten aus dem Archiv (laut) hören, vorstellen und untersuchen, um dem Verhältnis von Radiokunst und der Institution Radio nachzugehen.
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Radiophonic Spaces, ein begehbares Radioarchiv, noch bis zum 10.12.2018 im Haus der Kulturen der Welt, Do–Mo 11:00-19:00 Uhr
Radiophonic Spaces mit Arbeiten von Ammer & Console, Alessandro Bosetti, Andrea Cohen & Diego Losa, John Cage, Ferdinand Kriwet, Christina Kubisch, Friederike Mayröcker, Michaela Melián, László Moholy-Nagy, Kaye Mortley, Olaf Nicolai, Georges Perec, Paul Plamper, Milo Rau, Carl Sagan, Natascha Sadr Haghighian, Eran Schaerf, Dziga Vertov, Ror Wolf u. a.
Konzipiert von Nathalie Singer (Professur für Experimentelles Radio, Bauhaus-Universität) mit einem Team von Radioexpert*innen
Der Ohrenmensch mit Beiträgen von ARK (Johannes Ismaiel-Wendt, Sebastian Kunas, Malte Pelleter), Nathalie Anguezomo Mba Bikoro und Gilles Aubry, Hermann Bohlen, Lino Camprubí, Cevdet Erek, Wolfgang Ernst, Beatriz Ferreyra, Marie Guérin, Wolfgang Hagen, Ute Holl, Alexandra Hui, Hassan Khan, Sebastian Kunas, Verena Kuni, Aurélie Nyirabikali Lierman, Flora Lysen, Stefan Maier, Mara Mills, Nástio Mosquito und Martin Hirsch, Marko Peljhan, Marina Rosenfeld, Zoran Terzić, Viktoria Tkaczyk, Sarah Washington, Anna Zett, Elisabeth Zimmermann u. a.
Weiterführend →
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