Heimatroman der tiefsinnigeren Art

Im rheinischen Brauhaus ist die Utopie der klassenlosen Gesellschaft zur Realität geworden.

Wer A.J. Weigoni uneingeschränkt Glauben schenken möchte, wird bei der Lektüre von seinem Roman Lokalhelden vorschnell annehmen, der wahre Rheinländer habe keine Heimat und sein eigentliches Zuhause sei dort, wo Obergäriges ausgeschenkt werde – im rheinischen Brauhaus.

Der Rausch durch das „Lekker Obergärig“ führt die Rheinländer nirgendwo hin, diese Typen brauchen immer wieder eine zerstörerische Verwirklichung, um überhaupt zu existieren.

Die tiefgründigen philosophischen und psychologischen Erkenntnisse über Kölsche und andere Anwohner am mittleren Teil des deutschesten aller Flüsse scheinen vor allem unter nicht immer geringem alkoholischen Einfluss der jeweiligen Bekenner beobachtet und aufgeschnappt worden zu sein. Und so mancher mehr oder weniger geschwätzige Brauhaus-Gast ist, wenn der Autor Recht behalten sollte, offenbar mit einem schier unermesslichen Repertoire wissenschaftlicher Fachausdrücke gesegnet. (Redaktionelle Anmerkung: Als Humanist hält Weigoni die Menschen nicht für dümmer als sie wirklich sind.)

Er beherrscht die verlorene Kunst, kleinste Details herauszuarbeiten.

Das lässt nicht allein Rückschlüsse auf den schier unermesslichen Wortschatz des hochbegabten Lyrikers Weigoni zu und macht die Romanfiguren zunächst eher unglaubwürdig, schafft allerdings Typen, die durch den Autor intellektuell überhöht werden, ohne dadurch als solche real unvorstellbar zu sein.

Über 25 Jahre hat Weigoni an diesem intellektuell anspruchsvollen und dennoch nicht abgehobenen Heimatroman gearbeitet. Dabei brachte er manches zusammen, was zunächst unvereinbar wirkt, zumal er den Rheinländer u.a. als Meister einer Philosophie widerspruchsloser Widersprüche darzustellen weiß.

Und nicht nur dabei verbindet Weigoni manches, was in der Form kaum vorstellbar ist. Für ihn wirkt der Rheinländer offenbar wie ein Sammelsurium unterschiedlichster Verhaltens- und Denkschemata. Was im übrigen den echten Historiker kaum verwundert, da das Rheinland bereits in vorrömischer Zeit nahezu unablässig von fremden Völkern durchwandert und erobert worden ist.

Somit wurde bereits vor Jahrtausenden die rheinische Anpassungsfähigkeit und Toleranz immer und immer wieder herausgefordert.

Und da Deutschland im Herzen Europas ebenfalls Jahrtausende lang Durchzugsgebiet war, steht das Rheinland in vielem auch noch nach der sogenannten Bonner Republik für andere deutsche Lande.

Unübersichtlich viele Lokalhelden lässt der offensichtlich äußerst belesende Romanautor mit ihren jeweils ureigenen Ansichten auftreten – ganz im Sinne der heutigen Massengesellschaft, deren Mitglieder zugleich unbedingt als Individualisten gesehen werden möchten und dennoch einer gewissen Spezies angehören wollen.

Die Rheinländer stehen fest auf dem Boden ihrer Instabilität.

Zu den Lebensstrategien der Rheinländer gehören nach Weigonis Wahrnehmung und Machart u.a., dass „er sich durchs Leben treiben“ lässt „und hofft, dass ihm irgendwann klar wird, worauf er eigentlich wartet.“

Es ist durchaus vorstellbar, dass der Roman Lokalhelden eine ähnlich abwartende Entstehungsgeschichte hat. Immerhin hat der Autor ein Vierteljahrhundert benötigt, um seinen Roman zu jenem Ende zu bringen, auf das er vermutlich gewartet und zugearbeitet hat. Und in dieser Zeit mögen ihm diverse rheinische Zeit-Genossinnen und Genossen begegnet sein, denen er in seinem Roman immer wieder ein Kurzaufnahme gewähren konnte.

Natürlich waren dabei auch diverse Jecken bei unterschiedlichsten Karnevalsereignissen, die ihn einer seiner vielen, eher verständnislosen Protagonisten fragen lässt:

„Kann eigentlich unsere zivilisierte Welt noch länger akzeptieren, dass Hunderte von Betrunkenen mit bemalten Visagen und lustigen Hütchen durch die Straßen marodieren, um eine Schneise der mentalen und ästhetishen Verwüstung zu schlagen?“

Ja, denn hier hilft der nahezu zweitausendjährige rheinische Katholizismus. Er hat sich lebenspraktisch immer wieder bewährt und bietet ohne größeren Aufschub seine Hilfen an.

„Man hört sich schlechte Reden an oder hält sie selbst. Hinterher feiert man, dann ist es futschikato, wie nach der Beichte.“

„„Der Sumpf ist bereits trockengelegt, wozu noch mit Schlamm schmeissen? Es gibt eine Moral, auch im Morast und eigentlich gerade da„, schließt der Pastor den Abend“ im Brauhaus „salbungsvoll, faltet die Hände und ist mit sich und seiner Rolle zufrieden.“

Kleriker dieser Art sind äußerst beliebt in den rheinischen Gefilden. Dogmatische Erzbischöfe und ihre geistlichen Helfer bekanntermaßen eher nicht.

Natürlich lässt Weigoni sich sprachlich wohl klingend, wie es sich für einen begabten Lyriker gehört, über alle im ach so toleranten Köln lebenden Minderheiten aus. Schwule, Lesben, Transen sind seinem und ihrem eigenen rheinischen Singsang und Charme erlegen.  Banker, Unternehmer, Türken, diverse Künstlerinnen und Künstler, Prostituierte, Sozialarbeiter und sogar „Heteronormalverbraucher“ stromern durch die unzählige Romanszenen. Einen lässt er gar „im heiligen Unernst“ frauenemanzipatorische aufstöhnen:

„Ihr Weiber seid intellektuell echt unterfordert und emotional überfrachtet.“

Aber nicht selten eignen sich Weignonis Aussprüche im Sinne kreativ rheinischer Redseligkeit auch als Aphorismen, Kalendersprüche und andere Lebensweisheiten.

Allein deswegen ist der Roman mehr als lesenswert. Daher wird hier inhaltlich nichts weiter von den noch so lebensklugen Sprüchen verraten. Bis auf:

Keine Lösung ist auch eine Lösung. Oft sogar die bessere. Auch wenn der Roman endet:

„Es lässt sich nicht sagen, ob es (das Leben) besser wird, wenn es anders wird; aber so viel kann man wagen: Es muss anders werden, wenn es wirklich gut werden soll.

Und nach der Lektüre des Romans, den ich hier nicht nur Rheinländern empfehle, kann es nur besser werden, liebe Leserinnen und Leser.

 

 

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Lokalhelden, Roman von A. J. Weigoni, Edition Das Labor, Mülheim 2018 – Limitierte und handsignierte Ausgabe des Buches als Hardcover.

Coverphoto: Jo Lurk

Weiterführend →

Lesenswert das Nachwort von Peter Meilchen sowie eine bundesdeutsche Sondierung von Enrik Lauer. Ein Lektoratsgutachten von Holger Benkel und ein Blick in das Pre-Master von Betty Davis. Die Brauereifachfrau Martina Haimerl liefert Hintergrundmaterial. Ein Kollegengespräch mit Ulrich Bergmann, bei dem Weigoni sein Recherchematerial ausbreitet. Constanze Schmidt über die Ethnographie des Rheinlands. René Desor mit einer Außensicht auf die Bonner Republik. Jo Weiß über den Nachschlüsselroman. Margaretha Schnarhelt über die kulturelle Polyphonie des Rheinlands. Karl Feldkamp liest einen Heimatroman der tiefsinnigeren Art. Walther Stonet lotet Altbierperspektiven aus. Conny Nordhoff erkundet die Kartografie. Zuletzt, ein  Rezensionsessay von Denis Ullrich.