Aus dem Archiv gehoben

Vorbemerkung der Redaktion: 50 Jahre nach 1968 ist die Medienreaktion auf die sogenannte 68er eher mager gebleiben. Liegt es daran, daß nichts lächerlicher ist als das Pathos nicht realisierter Hoffnungen? – Enno Stahl blickt zurück auf ein regionales Ereignis, wie die Kölner Gruppe XSCREEN mit Filmvorführungen versuchte den Aufruhr anzustacheln:

The Notorious RDB

Die 68er-Bewegung ist ungleich präsenter als die beiden anderen deutschen Revolutionen. Das liegt daran, dass sie noch ziemlich nah ist. Das liegt aber auch daran, dass die Erinnerungskultur, die mit dem gescheiterten 68er-Aufstand verbunden war, zeitgleich begann und bis heute nicht verstummt ist. Anders als die Revolutionäre von 1848 oder 1918, von denen viele emigrieren mussten, andere ihren Einsatz mit dem Leben bezahlten, besetzten die 68er-Protagonisten, bedeutende Positionen in den Diskurszentralen der Bundesrepublik. Damit hatten sie organische Deutungshoheit.

In den staatlichen und kommunalen Archiven ist diese Zeit einigermaßen unterbelichtet. Einerseits wird das daher rühren, dass damalige Archivarinnen und Archivare die Ereignisse nicht für so bedeutsam erachteten. Andererseits liegt es – zieht man die Quellenlage von 1918 zum Vergleich heran – wohl auch an der ausufernden Aktenüberlieferung nach 1945. Die Kassationsquote ist heute und vor 50 Jahren ungleich höher als vor dem Zweiten Weltkrieg. Ich möchte als ein Ergebnis der archivarischen Forschung die sogenannte XSCREEN-Affäre herausgreifen, ein Ereignis, das in der deutschen Öffentlichkeit weithin in Vergessenheit geraten ist.

Vom 15. bis 19. Oktober 1968 wollte die Gruppe XSCREEN (Kölner Studio für unabhängigen Film) ein multimediales „Environment“ organisieren, parallel zum 2. Kölner Kunstmarkt, der heutigen Art Cologne.Es sollten Untergrundfilme gezeigt werden, aber nicht nur: Das Ganze sollte ein Happening-artiges Gesamtkunstwerk werden mit Lightshow, Flipperautomaten, Getränkeausschank und Würstchen. Neben Filmbeiträgen verschiedener Untergrundfilmer waren Lesungen Rolf Dieter Brinkmanns, Renate Rasps, Hans Werner Bierhoffs und Fred Viebahns angekündigt, dazu spielten jeden Tag Beat-Bands. Die Gruppe hatte den Kölner Kulturdezernenten Kurt Hackenberg angesprochen, der XSCREEN einen Zuschuss von 1.500 DM zudachte. Außerdem erwirkte er beim Bauamt, dass die Gruppe den Rohbau zum U-Bahnhof Neumarkt kostenlos nutzen durfte.

Dass XSCREEN durchaus provokative Absichten hegte, verriet das Gruppenmitglied Birgit Hein in einer Dokumentation 15 Jahre später: „Es lief, nur das Programm war zu harmlos. Uns fehlte ein Knüller. Da schrieb Karlheinz aus München, dass er alle Filme von Otto Muehl in Verwahrung hätte. Muehl hatte am 17.9. eine Veranstaltung im Independent-Filmcenter gemacht und seine Filme in München gelassen, weil er fürchtete, dass sie an der Grenze beschlagnahmt würden. Wir ließen uns die Filme zur Besichtigung schicken, denn wir hatten bisher nur davon gehört. Wilhelm (Hein) und (Hans-Peter) Kochenrath waren hell begeistert: Wir hatten den Knüller.“

Otto Muehl – das ist das berühmt-berüchtigte Mitglied der Wiener Aktionisten, das später eine sektenartige Kommune auf La Gomera gründete und wegen Kindesmissbrauchs verurteilt wurde.

Die Verwaltung gab sich im Vorfeld betont lässig, der Kölner Stadt-Anzeiger zitiert etwa den Beigeordneten für Recht und Sicherheit, Dr. Peter Schaefer, mit den Worten: „Bemerkenswert? Och … So schlimm ist das doch gar nicht.“ Selbst zu den Filmen Otto Muehls, der deshalb schon Schwierigkeiten mit der Polizei hatte, meint Schaefer: „Was soll’s denn, da erklären wir uns für nicht zuständig. Außerdem, wenn sie die Freiwilllige Selbstkontrolle passiert haben … Und außerdem, wenn da auch einige umstrittene Szenen sind – man kann sich über alles streiten.“

Während der erste Abend programmgemäß verlief – und mit 1.000 Besucherinnen und Besuchern ausgesprochen erfolgreich dazu –, kam es am Mittwoch, dem 16. Oktober 1968 zum Eklat: Kurz nach 22 Uhr stand die Polizei vor den Toren, kontrollierte sämtliche Anwesenden, wobei sie nach übereinstimmenden Augenzeugenberichten ziemlich unverhältnismäßig agierte.

Hintergrund der Aktion war eine private Anzeige: Ein Tankstellenbesitzer hatte mit seinem Schwager und einem Kriminalbeamten seinen 15-jährigen Sohn gesucht, unter anderem waren sie dabei am Montagabend auch in die U-Bahn-Station geraten, den vermissten Jungen hatten sie dort nicht gefunden, aber sie entdeckten andere Jugendliche, die sie für minderjährig hielten. Außerdem sahen sie die Filme und stellten daraufhin Strafanzeige.

Die Polizei blockierte die Ein- und Ausgänge und kontrollierte die Personalien von 700 Personen, rund 50 Leute durchbrachen den Polizeikordon, es kam zu einem Handgemenge. Daraufhin stürmte die Polizei die Veranstaltung und konfiszierte mehrere Filme. Es wurden 20 Personen festgenommen, darunter Rolf Dieter Brinkmann, der sich in den Protestaktionen der nächsten Tagen stark engagierte.

Einige hundert Personen kehrten in den U-Bahnhof zurück, in erregten Diskussionen wurde gefordert, dass der Kunstmarkt aus Solidarität schließen solle. XSCREEN bemühte sich um die Herausgabe der Filme. Gegen 1.50 Uhr erhielten sie zumindest eine Quittung darüber.

Auch von anderer Seite wurden Fakten geschaffen. Der Republikanische Club entwarf ein Flugblatt, das noch in der Nacht im Stadtzentrum geklebt wurde; die gesamte Kunsthalle wurde damit tapeziert: „Die Kölner Polizei hat in der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag den 3. Veranstaltungsabend gesprengt und auseinandergenommen – sie hat den Vorführraum durchsucht ohne Durchsuchungsbefehl, die Filme beschlagnahmt ohne Beschlagnahmebeschluß. Dies lässt nur einen Schluss zu. In dieser Stadt wird die Kulturpolitik von der Polizei gemacht.“

Verschärft wurde die Lage dadurch, dass das Bauamt den U-Bahnhof für den Fortgang der XSCREEN-Veranstaltung schloss. Zwar hatten Stadtdirektor und Baudezernent bestritten, dass es einen Zusammenhang mit der Polizeiaktion gebe, das aber erschien unglaubwürdig. Eine öffentliche Diskussion beim Kunstmarkt wurde anberaumt, die Galeristen solidarisierten sich und kündigten an, die Pforten so lange zu schließen, bis die Filme wieder ausgehändigt würden. Das geschah zum Teil, die vier Filme Muehls blieben beschlagnahmt.

Nach der Diskussion bildete sich ein spontaner Demonstrationszug, der sich zur Kölner Oper aufmachte und durch eine Bühnenbesetzung die dortige Vorführung unterbrach, um auf die Affäre hinzuweisen. Das Publikum reagierte empört, die Theatermitarbeiter erklärten sich solidarisch. Der Generalintendant der Oper verlas sogar eine Erklärung der XSCREEN-Gruppe, danach verließen die Protestler das Haus.

Der Kunstmarkt öffnete wieder, die Staatsanwaltschaft gab zwei der Muehl-Filme heraus, erklärte die anderen aber endgültig für beschlagnahmt. Inzwischen hatte sich der SDS des Themas bemächtigt. Er forderte die erneute Schließung des Kunstmarkts, drohte mit Erstürmung der Kunsthalle, falls dem nicht Folge geleistet würde. Am 20. Oktober blockierten SDS-Aktivisten den Kunstmarkt und erzwangen eine erneute Solidaritätsadresse der Galeristen, die auch ihre Kundschaft dazu aufriefen, einen Demonstrationszug zum Kölner Polizeipräsidium am Waidmarkt zu begleiten. Dafür wurde der Kunstmarkt für zwei Stunden geschlossen. Dort angekommen, wurde eine Delegation zum Polizeipräsidenten geschickt, der Hans Vetter, ein Rundfunkredakteur, Rolf Dieter Brinkmann und Rolf Wiest, ein Mitglied von XSCREEN, angehörten. Speziell Brinkmann verweigerte jede Kommunikation, sodass die Verhandlungen ergebnislos abgebrochen wurden.

Für XSCREEN und die Galeristen war die Aktion damit zu Ende. Die Affäre insgesamt hatte allerdings Kreise gezogen, die gesamte deutsche Presse berichtete darüber. Auch liefen Strafanzeigen gegen einzelne Mitglieder der XSCREEN-Gruppe, die allerdings später eingestellt wurden.

 

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Die KUNO-Redaktion empfiehlt: Spätkirmes, Roman von Enno Stahl, Verbrecher Verlag 2017

Weiterführend 

Eine Würdgung des Hungertuchpreisträgers finden Sie hier. Lesen Sie auch den Artikel Perlen des Trash über 25 Jahre Gossenhefte und Enno Stahls fulminantes Zeitdokument Deutscher Trash. Eine Hörprobe von Trash me! finden Sie in der Reihe MetaPhon.