Ein tausendmal gelesenes Buch – das sind tausend verschiedene Bücher.
Andrej Tarkowskij: Von der Verantwortung des Künstlers
Es gibt Sätze, die haben etwas Subversives. Man nimmt sie zwar wahr, aber nicht recht zur Kenntnis. Und doch bleiben sie haften. Unterschwellig. Entfalten ihre Wirkung schleichend, dafür aber umso nachhaltiger: Haben sie sich erst mal häuslich niedergelassen, bekommt man sie nicht mehr aus dem Kopf – was zuvor völlig selbstverständlich erschien, wird nun bis in alle Ewigkeit prinzipiell in Zweifel gezogen.
„Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache“. Das ist solch ein Satz. Zumindest für mich. Was Ludwig Wittgenstein mir damit angetan hat, kann ich, konsequenterweise, kaum in Worte fassen.
So ist es mir zum Beispiel nicht mehr möglich, ganz unbefangen einen Blick in ein Wörterbuch zu werfen, um die Bedeutung eines Wortes zu klären. Wenn ich nur daran denke, überfällt mich schon ein intellektueller Schüttelfrost, der sich bisweilen zu einem veritablen geistig-grippalen Infekt mausert: Was soll mir denn das Lexikon sagen, wenn doch jedes Wort, das ich suche, dort ungebraucht vorliegt?
Auch erweist sich mir im Gebrauch der Gebrauch der Wörter seit Lektüre dieses Satzes als derart vielfältig, dass ich nicht mehr den Hauch einer Chance sehe, ihre Bedeutungen, die sich aus dem Gebrauch ergeben, auch nur annähernd erfassen zu können – die Bedeutungen eines Wortes sind so zahlreich wie es „die Sprache und die Tätigkeiten (sind), mit denen sie verwoben ist“. Unendlich, um genau zu sein.
Da ist es nur folgerichtig, dass, wenn nun verschiedene ‚Sprachspiele’, wie Wittgenstein es nennt, aufeinandertreffen, das Missverständnis die Regel ist, nicht aber das Verständnis: Wenn zwei das gleiche Wort benutzen und meinen, sie würden damit auch das gleiche meinen, befinden sie sich von vornherein auf dem Holzweg.
Das gilt für den philosophischen Diskurs ebenso wie für das alltägliche Gespräch. Und auch für solche kulturpolitische Debatten, wie sie 2016 in Düsseldorf anlässlich des Streits um den Erhalt der Eigenständigkeit der Kunsthalle geführt wurden. Die drehte sich nämlich um einen Begriff, den zwar die Beteiligten immer wieder gebrauchten, von dem aber alle einen anderen Gebrauch zu machen schienen: Teilhabe.
Die Demokratie stabilisieren
Teilhabe, so damals die Aussage des Düsseldorfer Oberbürgermeisters Thomas Geisel, sei die Möglichkeit der Menschen, „am zivilisierten bürgerlichen Leben“ teilzunehmen. Sei sie nicht gegeben, fühlen sich die Menschen in der Gesellschaft abgehängt. Ein Umstand, der, wie er in einem Interview mit der ‚Welt’ betonte, erst den „Aufstieg von Demagogen wie Donald Trump oder Marine Le Pen“ ermöglicht hat.
Wie, wo und wann er diese demokratiestabilisierende Form der Teilhabe beispielhaft realisiert sah, tat er in diesem Interview auch kund: „Für die Tour de France werden wir vielleicht vier Millionen Euro (Anm: mittlerweile, 07.09.17, beziffert er den Verlust auf 7,8 Millionen Euro…) ausgeben und an diesem Ereignis können – umsonst und draußen – über eine Millionen Menschen teilhaben.“
Dieser Gebrauch des Wortes Teilhabe ist natürlich völlig legitim. Zumal die dort angesprochene Form von Teilhabe, wenn sie auch nicht immer ganz umsonst ist, doch Millionen begeistert. Das wird einem jeder Fußballfan landauf, landab mit leuchtenden Augen gerne bestätigen. Aber ob sich eine solch rein zuschauende Teilhabe an der Tour de France bereits als eine Teilhabe am „zivilisierten bürgerlichen Leben“ verstehen lässt oder ob sie gar ein probates Mittel darstellt, den Aufstieg der Trumps und Le Pens dieser Welt zu verhindern, sei einmal dahingestellt.
Das Bestreben, möglichst viele Menschen mit einem möglichst geringen finanziellen Aufwand zu erreichen, ist, aus rein haushaltspolitischer Sicht, sicherlich sehr löblich. Aber darf allein schon die projektierte Anzahl teilhabender Bürger als eines der wesentlichen Kriterien für die Förderungswürdigkeit kultureller Ereignisse definiert werden? Sollte man die Subvention rein kommerziell getriebener sportlicher Großevents mit der im Staatsvertrag festgeschriebenen Verpflichtung zur öffentlichen Förderung kultureller Ereignisse in einen Topf werfen? Ist die Verwendung des Begriffs Teilhabe auch bei lediglich passivem Konsum, insbesondere „niedrigschwelliger Angebote“, angemessen? Die Antwort auf all diese Fragen schien bei Geisel schlicht zu lauten: Ja. Ja. Ja.
Vitale Kultur als Voraussetzung wirtschaftlichen Wohlstands
„Kultur ist, was uns definiert“, sie ist „Spiegel unserer Geschichte und unserer Identität“. Insofern hat „Kunst nicht nur einen Preis, sondern auch einen Wert“ – einen kulturellen Wert. Darauf machte Kulturstaatsministerin Monika Grütters in einer bemerkenswerten Rede anlässlich einer Veranstaltung des Industrieclubs Düsseldorf 2016 aufmerksam:
„Kultur schafft Werte jenseits der Maßstäbe ökonomischer Verwertbarkeit. Wo, wenn nicht in der Kultur, wird nach Antworten auf letzte Fragen gerungen, auf Fragen nach den Sinn stiftenden Kräften und Werten, die unsere Gesellschaft zusammen halten?
Dies zu ermöglichen, ist Aufgabe einer Kulturpolitik, die sich der Freiheit der Kultur und der Kunst verpflichtet fühlt. In Deutschland haben wir aus zwei deutschen Diktaturen in einem Jahrhundert eine Lehre gezogen, die da lautet: Kritik und Freiheit der Kunst sind konstitutiv für eine Demokratie. Wir brauchen sie, die mutigen Künstler, die verwegenen Denker! Sie sind der Stachel im Fleisch unserer Gesellschaft, der verhindert, dass intellektuelle Trägheit, argumentative Phantasielosigkeit und politische Bequemlichkeit die Demokratie einschläfern. Sie sind imstande, unsere Gesellschaft vor gefährlicher Lethargie und auch vor neuerlichen totalitären Anwandlungen zu schützen. Die Freiheiten dieser Milieus zu schützen, ist oberster Grundsatz, ist vornehmste Pflicht verantwortungsvoller Kulturpolitik. Kunst, Kultur, Literatur dürfen, ja sie sollen und müssen zuweilen Zumutung sein. Deshalb müssen wir alles daran setzen, ihre Freiheiten und ihre ästhetische Vielfalt zu sichern. Die staatliche Fürsorge für die Kultur und ihre Freiheit, die mit dem Mut zum Experiment natürlich auch das Risiko des Scheiterns einschließt, hat immer wieder weltweit beachtete Leistungen hervorgebracht. Ich bin überzeugt: Dieses hartnäckige Engagement für die Kultur und die Künste hat entscheidenden Anteil am mittlerweile wieder hohen Ansehen Deutschlands in der Welt. Kultur ist eben nicht das Ergebnis wirtschaftlichen Wohlstands; sie ist vielmehr dessen Voraussetzung. Sie ist nicht allein Standortfaktor, sondern auch und vor allem Ausdruck von Humanität. Sie ist der Modus unseres Zusammenlebens.“
Grütters schloss ihre Rede mit einem Appell an Düsseldorf, der durchaus als Appell an alle kommunal Verantwortlichen in Deutschland zu verstehen ist: „Geben Sie der Kultur in Ihrer Stadt so viel Raum wie nur möglich!“
Aktive Partizipation vs. passiver Konsum
Gerade vor dem Hintergrund der Bedeutung von Kunst und Kultur als konstituierende und stabilisierende Kraft für eine offene, zivilisierte Gesellschaft, bekommt der erweiterte Gebrauch des Wortes Teilhabe eine Bedeutung, deren Dimension sich einem erst nach und nach eröffnet: Teilhabe bedeutet da nicht mehr passiver Konsum, sondern aktive Auseinandersetzung mit dem Werk – KünstlerInnen zwingen den Einzelnen durch ihre inspirierende Nötigung zur spontanen, selbstverantworteten Stellungnahme.
Somit wären es nicht Kunst und Kultur, die „Werte jenseits der Maßstäbe ökonomischer Verwertbarkeit“ schaffen – dank ihrer inspirierenden Kraft schaffen Kunst und Kultur diese Werte durch und mit uns: In einem steten Prozess der Rezeption und Inspiration konstituieren sich alle Beteiligten mit ‚unsichtbarer Hand’ (Adam Smith) gemeinsam ihre gemeinsamen kulturellen Werte, ihre gemeinsame Geschichte und Identität. Diese stellen sich, da von niemandem beabsichtigt, als kollektives Resultat individueller Beiträge dar.
Dieses ungeplante und ungewollte synchrone Resultat ist im fortlaufenden diachronen Prozess von Rezeption und Inspiration in beständiger Entwicklung, Erneuerung und Wandlung begriffen. So wie es, was der Linguist Rudi Keller überzeugend dargelegt hat, auch in einer lebendigen Sprache geschieht. Eben in dieser Fähigkeit zeigt sich die Vitalität einer zivilisierten Gesellschaft – sie ist ein wesentlicher Ausweis ihrer Zukunftsfähigkeit. Und da ja, wie uns die britische Schriftstellerin A. L. Kennedy im letzten Jahr anlässlich ihrer Rede zur Verleihung des Heinrich-Heine-Preises ins Stammbuch geschrieben hat, „die Kunst das Herz der Demokratie“ ist, ist folglich die Demokratie umso gesünder je vitaler ihre Kunst ist.
Wird jedoch dieser Prozess nicht intensiv ge- und befördert, kann die kollektive kulturelle Dynamik einer Gesellschaft zum Erliegen kommen. Im Extremfall würden zukünftig kaum noch kulturelle Werte neben ökonomischen Werten geschaffen und aufrechterhalten, die Logik der Ökonomisierung würde die absolute Herrschaft übernehmen.
Da sich aber die Menschen nach Werten jenseits der Verwertbarkeit und Messbarkeit, jenseits merkantiler Interessen und durchgängiger Kommerzialisierung, jenseits eines rein rational und funktional definierten Primats sehnen, macht sich in ihnen ein Gefühl des Defizits breit. Ein Defizit, das sich, wie wir es gerade weltweit in seinen verschiedensten Ausprägungen erleben, rasend schnell zu einem Vakuum auswachsen kann – dann ist die Stunde der Demagogen gekommen.
Vordringlichstes Ziel jeder staatlicher und kommunaler Behörden, aber auch jedes Einzelnen sollte es deshalb sein, diesen Prozess mit allen zur Verfügung stehenden Kräften in einem stetigen Fluss zu halten: Darin zeigt sich unser aller gesellschaftliche Verantwortung und Verpflichtung.
Kunst lehrt uns Eigenverantwortung
Norbert Elias beschrieb den Prozess der Zivilisation, grob vereinfacht, so: In dem Maße, in dem wir unsere individuelle Freiheit gewinnen, müssen wir äußeren Zwang durch innere Kontrolle ersetzen. Das heißt, wir sind zunehmend zur Selbstverantwortung verpflichtet. Was mühsam ist, muss sie doch täglich in Eigenleistung neu erarbeitet werden. Da uns in unserer zunehmend globalisierten, im Zuge der Aufklärung so rationalisierten wie säkularisierten Welt mehr und mehr die liebgewonnenen ehernen Werte fehlen, die uns heilsgewisse Orientierung geben, leben wir in einer Zeit der Unverbindlichkeit, Ungewissheit und Unsicherheit. Wir sind auf uns geworfen. Müssen unseren eigenen Werterahmen schaffen, ihn beständig abgleichen, vor anderen rechtfertigen, ihn modifizieren, sozial kompatibel machen. Und ihn morgen womöglich komplett über den Haufen werfen, weil sich wieder mal die Umstände ändern.
Nun sind aber, so Elias, „die ‚Umstände‘, die sich ändern, (…) nichts, was gleichsam von ‚außen‘ an den Menschen herankommt; die ‚Umstände‘, die sich ändern, sind die Beziehungen zwischen den Menschen selbst.“
Dies, so hat es den Anschein, wird dem Menschen auf Dauer zu viel, zu kompliziert, zu anstrengend. Da ist es doch leichter und angenehmer, sich gleich in den warmen, wohligen Schoss eines wie auch immer gearteten Wir zu begeben. Sich ihm zu überantworten, um sich der Mühsal der Eigenverantwortung zu entledigen. Hier bin ich unter meinesgleichen, muss mich nicht mehr sonderlich anstrengen, vor anderen rechtfertigen. Sondern bekomme mundgerecht meine Ansichten zugeteilt, die ich zu haben habe, um wieder Teil eines großen Ganzen zu sein, in dem es für alle verbindliche Werte gibt – im Zweifelsfalle vorgesetzt von einer totalitären Autorität, die mir, gleichsam im zivilisatorischen Rückschritt wieder von außen kommend, die Umstände, in denen ich zu leben habe, so definiert, dass sie mir als absolut und ewig bestehend erscheinen.
Kunst, die frei ist, kann jedoch einen Beitrag zur Stabilisierung der Gesellschaft beitragen: In der Teilhabe an ihr, der individuellen Rezeption, lernt der Mensch ein Stück weit Eigenverantwortlichkeit, indem er sich von ihr inspirieren lässt, selber zu denken. Stellung zu beziehen. Seine eigene Meinung zu äußern und zu begründen. Er lernt, nicht einer autokratischen Instanz zu gehorchen und geistig in vorgestanzten Rastern zu vagabundieren. Er lernt, Vertrauen in sich selbst zu haben und zu einer individuellen Entscheidungsfindung zu kommen, die nicht auf ein Wir rekurriert, das ihm Halt, Sicherheit und Orientierung gibt. Sondern auf sein Ich, das durch seine Teilhabe an Kunst und Kultur aktiv zur Konstitution gemeinsamer kultureller Werte im sozialen Kontext beiträgt – zu einer Identität, die der Mensch aus sich selbst heraus entwickelt und die ihm eben nicht oktroyiert wird.
So gesehen stellt eine aktive Teilhabe an der Kunst fast schon so etwas wie ein pädagogischer Auftrag im Geiste Wilhelm von Humboldts zur Ausbildung der individuellen Fähigkeiten zum Wohle der Gesellschaft dar. Eine Ausbildung, die dem zunehmend als Belastung empfundenen Zwang zur Eigenverantwortung etwas von ihren Schrecken zu nehmen vermag: Ich erlerne sie spielerisch, abseits des lebensweltlichen Drucks.
Sicherlich ist damit nur wenig getan. Zu wenig. Aber wer sich selbst dem Wenigen verweigert, verweigert sich ganz. Und überlässt zum einen der Logik der Ökonomisierung, Verwertbarkeit und Messbarkeit die Macht – und zum anderen den Demagogen dieser Welt das Vakuum, das die Menschen angesichts der kulturellen Wertelosigkeit derzeit empfinden.
Ohne Teilhabe keine Kunst
Individuelle Rezeption der Kunst qua Inspiration ist das exakte Gegenteil einer merkantilen Logik, die keine Abweichung von einer einmal definierten, für alle verbindlichen Norm erlaubt: Sie ist subversiv und assoziativ. Sie fordert die dysfunktionale Abschweifung und den aberwitzigen Exkurs. Die spontane Eingebung. Intuitive Reaktion. Und hemmungslose Subjektivität. Dort mäandern wir durch unsere Gedanken. Verfertigen sie allmählich beim absichtslosen Staunen und im interesselosen Wohlgefallen. Gehen methodisch Umwege. Reflektieren in Schlangenlinien. Laufen zickzack. Und flanieren lustvoll im Labyrinth unseres eigenen Hirns.
Besonders lustvoll wird es, wenn man sich dessen bewusst wird, dass Kunst als kulturelles Phänomen ja nicht in der Weise existiert, wie ein Stuhl existiert. Oder ein Tisch, ein Auto, ein Bild. Kunst ist ein Allgemeinbegriff, eine Universalie. So wie es der Markt ist, der Staat oder die Kirche. Wir nutzen diese Allgemeinbegriffe sinnvollerweise, um eine alltägliche, halbwegs problemlose Verständigung überhaupt erst zu ermöglichen.
Aber da, so Wilhelm von Humboldt, unsere Vorstellung von der Wirklichkeit von der Art und Weise geprägt wird, wie wir über die Wirklichkeit sprechen, kommt neben der sprachökonomischen Komponente noch eine weitere, psychologische hinzu: Wir nehmen die Sprache für bare Münze. Und halten es bei den Allgemeinbegriffen so, wie wir es bei den Konkreta tun – wir reden so von ihnen, als hätten sie ein physisches Pendant. Drum reden wir auch beständig von den ‚Selbstheilungskräften des Marktes’ oder davon, dass doch endlich mal ‚der Staat eingreifen muss’.
Sicherlich sind bei Abstrakta physische Momente involviert. Bei einem Ereignis wie der Mondphase ist es, zum Beispiel, der Mond, die Erde und die Sonne. Aber die Mondphase selber besitzt keine eigene physische Entität, ihre ‚Seinsart’ besteht allein in der relationalen Bewegung dieser drei physischen Komponenten zueinander.
Ganz ähnlich verhält es sich bei der Sprache. Sie ist „kein Werk (Ergon), sondern eine Tätigkeit (Energeia)“. Besitzt also keine eigene physische Entität, sondern ist, so Humboldt, flüchtig und an die stetige Aktualisierung durch uns, den Menschen – als Totalität des jedesmaligen Sprechens – gebunden:
„Die Sprache in ihrem wirklichen Wesen aufgefaßt, ist etwas beständig und in jedem Augenblicke Vorübergehendes. Selbst ihre Erhaltung durch die Schrift ist immer nur eine unvollständige, mumienartige Aufbewahrung, die es doch erst wieder bedarf, daß man dabei den lebendigen Vortrag zu versinnlichen sucht.“
Die ‚Kunst’ existiert deshalb nicht so, wie wir gemeinhin von ihr reden, sprich: wie wir sie uns gemeinhin vorstellen. Und schon gar nicht ‚als solche’ in einem diffusen Kosmos außerhalb und unabhängig von uns. Kunst als kulturelles Phänomen existiert in der Diachronie als stets im Wandel begriffenes kollektives ephemeres Resultat tausendfacher gleichgerichteter individueller intentionaler Handlungen von KünstlerInnen und Rezipienten, die alle eines ganz sicher nicht zum Ziel haben: ein allgemein akzeptiertes Verständnis von Kunst zu definieren.
Aber genau dies erfolgt. Wenn auch nicht expressis verbis artikuliert, sondern allein intuitiv und fluide im allgemeinen Verständnishorizont einer kulturellen Gemeinschaft verankert: Der britische Sprachphilosoph H.P. Grice entwickelte ein Modell der systematischen Herleitung der etablierten Bedeutung aus der Sprecher-Bedeutung, d.h. unserer singulären sprachlichen Äußerung. „Bedeutung ist emergent“, so der Sprachwissenschaftler Frank Liedtke. Sie entsteht in der Entwicklung von der niedrigen Stufe, der singulären Äußerung, über die Stufen des Idiolekts und Soziolekts hin zur höheren Stufe, zur etablierten Bedeutung in einer Sprache, „in deren Zuge sich aus Einzelverwendungen allmählich eine Einzelsprache als Durchschnitt der Verwendungen vieler Sprecher entwickelt“ (Liedtke).
Parallel zu dieser Bedeutungskonstitution, die wie gesagt nie einen fixen, starr definierten, auf ewig gültigen, sondern einen in jedem Moment stets fluiden Zustand beschreibt, ereignet sich als andere Seite der Medaille die Verständniskonstitution. Und so wie auf der sprachlichen Ebene bei der individuellen Teilhabe an der Verwendung des Begriffs ‚Kunst’ die etablierte Bedeutung kollektiv konstituiert, aber nicht intendiert wird (ein ‚Prozess der unsichtbaren Hand’, ein Phänomen der dritten Art, dazu: Keller 1990), so wird bei der Teilhabe an der Kunst als kulturelles Phänomen, dem unmittelbaren Kunsterleben, analog ein kollektives Verständnis von Kunst konstituiert – ich als Betrachter, Zuschauer, Zuhörer leiste somit, ohne dass ich es weiß oder intendiere, einen elementaren konstitutiven Beitrag zu dem jeweiligen gesellschaftlich etablierten Verständnis von Kunst.
Ähnliches passiert auch auf einer dritten Ebene, der der Zuschreibung des Labels ‚Kunst’ auf einzelne Werke: Das eine oder andere wird in der diachronen Entwicklung des kollektiven Verständnisses einmal als ‚Kunstwerk’ verstanden werden – ein Werk ist also kein Kunstwerk aus sich heraus, a priori und schon gar nicht durch irgendeine einsame individuelle Setzung.
Die aktiv rezipierende Teilhabe an der Kunst, die Teilhabe an der Hochkultur und freien Szene, der Subkultur, an Eigeninitiativen, Poetry-Slams und Literaturfestivals, an Lesungen und Open-Air-Festivals, an kleinen Galerien und großen Konzerten zu fördern heißt in diesem Sinne, Kunst als gemeinsam konstituiertes kulturelles Phänomen faktisch überhaupt erst zu ermöglichen.
Und Kunst zu fördern, indem ich sie ermögliche, heißt, so A. L. Kennedy, „das Herz der Demokratie“ zu stärken und die „Zukunftsfähigkeit einer Gesellschaft“ sicherzustellen: Je mehr und je intensiver sie daran teilhaben, desto stabiler die Demokratie. Die Teilhabe an der Kunst zu fördern ist somit keine Frage des Geldes, sondern die Gretchenfrage unserer gesellschaftlichen Haltung:
Wie hältst du es mit der Zukunft der Demokratie?
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Essays von Stefan Oehm, KUNO 2018
Literatur:
Elias, Norbert (1976): Über den Prozess der Zivilisation, Frankfurt a.M.: Verlag Suhrkamp.
Grice, Herbert Paul (1979), in: Georg Meggle (Hrsg.), Handlung Kommunikation Bedeutung, Frankfurt a.M.: Verlag Suhrkamp.
Humboldt, Wilhelm von (2007): Schriften zur Sprache, Stuttgart: Verlag Reclam Keller, Rudi (1990): Sprachwandel, Tübingen: A. Francke Verlag. Liedtke, Frank (2016): Moderne Pragmatik. Grundbegriffe und Methoden, Tübingen: Verlag Narr Francke Attempto.
de Saussure, Ferdinand (2013): Cours de linguistique générale – zweisprachige Ausgabe, Peter Wunderli (Hrsg.), Tübingen: Verlag Narr Francke Attempto.
Wittgenstein, Ludwig (1977): Philosophische Untersuchungen, Frankfurt a.M.: Verlag Suhrkamp.