Jedes Mal wenn Nebel das Haus umwaberte, fühlte er sich glücklich. Keine weite Sicht konnte diese intime Heimeligkeit stören. Manchmal kamen Vögel aus dem Unerkennbaren angestürmt, vor allem schwarze Amseln. Sie setzten sich dann auf das gegenüberliegende Dach und trieben ihr Spiel damit, sich gegenseitig zu vertreiben. Wippten dann zwei drei Mal und zeigten ihren Stolz, den oder die Anderen vertrieben zu haben. Selbst jetzt im Herbst zu Beginn der Winterzeit. Die sahen alle gut genährt aus, hatten die letzten Monate aus dem Vollen schöpfen können, sich Speck angefressen, wie alle anderen Tiere auch, ein anstrengendes Jahr war vorüber gezogen, man hatte alles für den Winter vorbereitet. Dann kamen die obligatorischen Kohlmeisen, hängten sich kopfüber an die Dachüberstände und suchten jeden Winkel nach dicken Kreuzspinnen ab. Meist wurden sie fündig.
Herr Nipp hatte noch nie verstanden, warum der Nebel immer mit Grusel, mit Verbrechen und Grauen in Verbindung gebracht wurde. Die Horrorfilme bedienten sich gerne des Nebels, auch Psychothriller und seien es Duschschwaden. Auch in der Literatur starben die Leute gerne mit einem Messerstich oder wurden von hinten erwürgt, wenn der Nebel gerade am dichtesten war. Dabei hatte doch auch der Mörder mit den gleichen Tücken zu kämpfen, Herrn Nipp erschien dies immer ein wenig aus der Luft gegriffen. Andererseits gab es dieses Bild von Francis Bacon, in dem der Nebel, vielleicht auch eine Welle um die Hauswand schwappt. Ja, ungewiss war die Situation schon. Vielleicht eines der hintergründigsten Bilder überhaupt. Zuerst wird man der Schönheit gewahr und später dann erkannt man, dass genau dies zum eigenen Ende beitragen wird. Nebel hatte eine große Faszination und viel zu selten ließen sich die Menschen auf die klamme Erfahrung ein, wanderten durch die Natur, mit eingeschränktem Gesichtskreis, immer die Feuchtigkeit auf der Haut. Doch meist lichtete sich das Phänomen ganz plötzlich wieder, man trat ins Licht und konnte die schwebende Bläue des Himmels über sich sehen. Und wer liebte nicht das Bild von Caspar David Friedrich, Wanderer über dem Nebelmeer. Erhabenheit pur. Der Moment, in dem wir die Natur in uns aufsaugen und ein göttliches Wirken verspüren können.
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Das Mittelmaß der Welt, unerhörte Geschichten von Herrn Nipp, KUNO 1994 – 2019
Die unerhörten Geschichten von Herrn Nipp sind glossierende Anmerkungen die sich schnoddrig mit dem Zeitgeist auseinandersetzen. Oft wird in diesen Kolportagen ein Konflikt zwischen Ordnung und Chaos beschrieben. Wir lesen sowohl überraschendes und unerwartetes, potentiell ungewöhnliches, das Geschehen verweist auf einen sich real ereigneten (oder wenigstens möglichen) Ursprung des Erzählten.
Weiterführend →
Zum Thema Künstlerbucher lesen finden Sie hier einen Essay sowie ein Artikel von J.C. Albers. Papier ist autonomes Kunstmaterial, daher ein vertiefendes Kollegengespräch mit Haimo Hieronymus über Material, Medium und Faszination des Werkstoffs Papier.
Die bibliophilen Kostbarkeiten sind erhältlich über die Werkstattgalerie Der Bogen, Tel. 0173 7276421