Nicht sehr ergiebig das Gespräch, denkt Kathrin und legt die Pfanne in die Spüle. Spült sie später.
Sie geht zum Fenster und steckt den Zeigefinger zwischen zwei Jalousienlamellen. Es regnet noch immer.
Ihre Freundin ist schlecht drauf. Seit einigen Wochen macht sie eine echte Depriphase durch, ruft nicht an, geht nicht aus, blockt ab, wenn man sie fragt, was mit ihr los ist. Sie wird dieses Jahr vierzig, das ist deprimierend genug. Und jetzt hat sie sich auch noch von Olivier getrennt, einem sehr netten Kerl. Vielleicht ist sie doch nicht so abgebrüht, wie sie tut, und ist einfach traurig, hat keinen Bock, etwas über das Liebesglück anderer zu erfahren. Sie hat gar nicht zugehört. Sonst hätte sie zumindest mit ihren männerfeindlichen Witzen angefangen. Es muss schlimm sein, wenn sie nicht einmal mehr darauf Bock hat, denkt Kathrin.
Auch wenn Sarahs ironische Remarquen über Männer ihr manchmal fürchterlich auf den Geist gehen, findet Kathrin sie irgendwie tröstlich. Sarah übernimmt eine Rolle mitsamt ihren bissigen Repliken und enttäuschtem Zynismus, die Kathrin selbst nicht spielen möchte. Es entsteht derart ein Wechselspiel, das Kathrin als vorteilhaft empfindet: je sarkastischer Sarahs Bemerkungen werden, umso mehr Gründe darf Kathrin aufzählen, um ihr das Gegenteil zu beweisen: Es gibt sie, die Liebe, das heißt die Liebe für Kathrin, das heißt Männer, die Kathrin lieben, das heißt Männer, die lieben! Es ist Sarahs Ergänzungsleistung innerhalb dieses Wechselspiels, mit der Kathrin gewohnt ist zu zählen. Nicht heute, wie es scheint. Vielleicht war es auch nicht der richtige Zeitpunkt, um Sarah von Günther zu erzählen. Von ihrem Liebesglück erzählen, allein darüber. Über alles andere könnte Kathrin weder Sarah noch sonst jemandem etwas erzählen. Über die Lust, die sie empfindet, wenn sie ihre Rollen spielt, die ihre Lust am Sex weitaus übersteigt.
Die Nacht mit Günther macht ihr das klarer als zuvor.
Ihr Blick auf seinen Hosenschlitz muss ihn wirklich rasend gemacht haben. Er hat ihr schroff den Büstenhalter über den Kopf gezogen, während er sie zwischen seinen Schenkeln festhielt, dann ihr die Schulter nach unten gedrückt, ihre Brüste gebissen und ihr die Zunge so tief in den Hals geschoben, dass sie beinahe gewürgt hätte. Unangenehm, sehr unangenehm, aber gerade das brachte sie auf die Idee: Sie ist blitzschnell in eine neue Rolle geschlüpft. Sie brauchte außerdem eine schnelle, wirksame Ablenkung vom aufsteigenden Übelkeitsgefühl.
Es war eine Eingebung!
Sie hat das Unbehagen, das sie irritierte, zum Leiden befördert und sich diesem Leid wohllustig hingegeben. Hat es mit experimenteller Neugier zugelassen. Den Seiltanz zwischen Trieb und Vernunft hatte sie schon immer beherrscht, umso mehr musste sie es jetzt tun, sagte sie sich, um sich Mut zu machen.
Das Einstudieren dieser neuen Rolle war nicht ohne Gefahr. Die Rolle des Opfers hatte sie noch nie zuvor gespielt. Also sublimierte sie diese. Sie litt in Ekstase, war eine Gefangene in den Händen der Inquisition, der verzehrenden Rache eines tollwütigen Folterers ausgeliefert. Ihre Brüste taten weh und je fester er griff und biss, umso mehr bäumte sie sich und drückte ihre Brüste gegen seinen Mund. Je rauer sein Druck auf ihren Hals, umso mehr dehnte und presste sie ihn gegen seine Hand. Sie war euphorisch, wusste manchmal selbst nicht mehr, was gespielt und was empfunden war. Für eine Schauspielerin die Meisterleistung schlechthin, die Grenzen zwischen dem Ich und der Rolle zu verwischen. Das hat sie zutiefst befriedigt, inspiriert.
Sie fing an, frei zu improvisieren. Sie hat gestöhnt, gewinselt, den Kopf geschüttelt, ihren Körper gewunden und so getan, als würde sie sich aus seinem Griff befreien wollen. Er hat inne gehalten, seinen Hosenschlitz aufgemacht und sie angesehen. Sie wollte nicht hingucken, ihr Auffassungsvermögen ein schnelles Urteil fällen lassen, sie wollte ganz einfach nicht wissen, was sie zu erwarten hatte. Ein komischer Augenblick der Unterbrechung war das. Sie kam beinahe in die Versuchung, die Spielrichtung entgleisen zu lassen, sie dem Zufall beliebiger Pinballzickzackbewegungen auszusetzen. Ein echtes Opfer zu sein, nicht bloß zu spielen. Sie war neugierig zu erfahren, was geschehen würde. War es aber das Risiko wert? Sie hat das über sie gebeugte Gesicht gemustert und entschieden, nein, das war es nicht. Nicht mit diesem Mann. Er spielte nicht. Seine Augenbrauen waren zusammengezogen, sein Blick grimmig, sein Ausdruck verbissen.
Sie entschloss, ihn walten zu lassen und sich allein auf ihre Rolle und auf ihre Empfindungen zu konzentrieren.
Er packte ihre Handgelenke, verschränkte ihre Arme über den Kopf, hielt sie mit einer Hand fest, während er mit der anderen das Höschen wegriss und mit den Knien ihre Beine auseinander spreizte. Er drang mit einem Stoß endlich in sie ein. Bingo!
Sie spürte kaum etwas, aber sie tat so, als würde sie es tun, schüttelte ihren Kopf noch heftiger, zappelte und zuckte, während er seine Stirn gegen ihre Brust gestemmt hielt und in sie stieß. Seine Ungeschicklichkeit verwandelte sich allmählich zur echten Brutalität, hoffentlich ist er bald fertig, dachte sie.
Und hoffentlich nicht. Denn je beklemmender der Sex wurde, umso besser ließ sich die Rolle spielen.
Ob sie es wollte oder nicht, sie war zum Opfer der Umstände geworden: im Bett mit diesem Mann zu sein, war fast unerträglich. Kathrin ließ sich die schauspielerische Lust aber nicht dadurch verderben, litt leidenschaftlich weiter, war die Gepeinigte, das vergewaltigte Maid usw. usw. Sie flehte: „bitte, bitte“, selbstverständlich völlig undeutlich worum, und er hielt für einen Augenblick inne. Gott sei Dank. Die Hauptdarstellerin darf sich unbemerkt ausruhen. Sie war erschöpft, von seiner animalischen Kraft überwältigt usw. usw. Sehr dramatisch. Sie malte sich die Szene aus. Es war eine öffentliche Hinrichtung. Sie lag am Rad gekreuzt auf einem hohen Schafott auf dem von Gaffern überfüllten Platz einer mittelalterlichen Burg. Er war der grausame Henker, der ihren Körper mit boshafter, brachialer Gewalt marterte. Er riss sie mit seinem Folterstab auseinander, zermalmte ihre Brüste, spießte ihre Lenden auf usw. usw. Crescendo der Filmmusik. Alle konnten ihren nackt ausgestellten, geschundenen Leib sehen, jede Einzelheit ihrer Peinigung konnten sie sehen. Sie lag schuldlos da, bewusstlos und verwüstet.
War das nicht gut? Nun, vielleicht ein wenig übertrieben.
Lieber eine Märtyrerin des Christentums in der Gewalt finsterer Mächte. Keine Hinrichtung, nein, sondern eine schwarze Messe in einem mittelalterlichen finsteren Kloster. Besser so.
Sie war das atemberaubend schöne Opfer der abtrünnigen Mönche. Angekettet an vier goldenen Pfosten, geknebelt, mit gebundenen Augen, lag sie auf dem riesigen, mit schwarzen, seidenen Leichentüchern bedeckten Bett, während er, der schwarze Hexer, der lüsterne Bock, sie unter den Zurufen der blutrünstigen Gefolgschaft bestieg und schändete. Usw. usw..
Kathrin war so ekstatisch, dass sie fast einen Orgasmus hatte. Fast. Nun, weiter an die Arbeit! dachte sie, stöhnte, ließ ihre Augen rollen und bewegte sich nicht mehr. Sie hielt sogar ihren Atem an. Überzeugend war sie. Günther erschrak, geriet aus der Fassung. Sein Glied schrumpfte.
Oh, Gott, dachte Kathrin, dieser offensichtlich unerfahrene Schauspieler litt so sehr unter Lampenfieber, dass sie ihm helfen musste. Also seufzte sie leise, brachte ihr Becken wieder in Bewegung, öffnete die Augen, sah ihn sehnsüchtig an und flüsterte unverständliche Worte. Diesmal war er der Ritter, der sie befreite, ihren geschmähten Leib in seinen Armen hielt, sie mit Liebkosungen zum Leben erweckte usw. usw. Und er bekam wieder einen Steifen. Ausgezeichnete Vorstellung war das!
Nicht für sehr lange jedoch, er war schließlich außer sich vor Erregung und so erschöpft, dass er, nachdem er kam, noch auf ihrem Körper liegend, einschlief. Die Nummer mit dem Weinen vor Glück konnte sie nicht mehr abziehen, es war aber auch nicht mehr notwendig. Der Mann war platt. Fullhouse. Und schließlich war er allein gekommen. Sie hatte keinen Orgasmus, stattdessen aber das wunderbare Gefühl des Erfolgs, der künstlerischen Abgehobenheit. Und das befriedigte sie mehr. Genug auf jeden Fall, um es wiederholen zu wollen.
Kathrin verlässt die Küche und geht ins Schlafzimmer. Sie schmeißt sich auf das Bett und seufzt. Die Bettwäsche riecht noch immer nach ihm. Die Spur eines guten Deos. Er roch gut, das zumindest war angenehm. Sie nimmt den Hörer in die Hand. Halt! Sie hat doch Günthers Nummer gar nicht! Unglaublich, sie haben nicht einmal die Telefonnummern getauscht! Sie wird im Telefonbuch nachschauen müssen. Aber wohin hat sie dieses verdammte Buch verlegt? Lieber ruft sie bei der Auskunft an. Zum Glück weiß sie, dass sein Nachname Kimmerle ist.
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Am Todestag von Ioona Rauschan erinnert KUNO an diese Autorin mit einer Leseprobe aus: Abhauen. Dieser Roman erschien 2008 beim Pop Verlag, Ludwigsburg.
Auf der Schwelle. Ein Filmessay über Heinrich Heine von Ioona Rauschan. Edition Biograph, 1997
Die schöne Strickerin, Novelle von Ioona Rauschan, Edition Biograph, Düsseldorf 1995. (Antiquarisch erhältlich).
Weiterführend →
Ein Kollegengespräch mit Ioona Rauschan findet sich hier. Das Live-Hörspiel 5 oder die Elemente wurde in der Regie von Ioona Rauschan mit Marion Haberstroh und Kai Mönnich im Gutenberg-Museum zu Mainz uraufgeführt. Señora Nada, in der Regie von Ioona Rauschan, ist auf Hörbuch Gedichte erhältlich. Probehören kann man das Monodram Señora Nada in der Reihe MetaPhon.