Kronos IV

Der Raum ist schwarz. Langsam fließt Blau steil hinab, tiefblau, hellblau, zartblau angestrichene Strahlen von Licht. Flirrende Töne fließen mit, sie schwellen an und füllen den Raum so laut, dass die Farben zittern, dann wird es leise. Trommelndes Summen schwingt weiter. Sand weht ins Blau. Aus der Tiefe wächst die sich biegende Erde. Stille.

Herzschlag. „Ich habe keine Ordnung. Ich schlafe noch in ihr. Ich habe keine Liebe. Ich sehe dich nicht.“

Wer spricht da? Der Kopf im Sand. Was meint er, wenn er sagt: Ich schlafe noch in ihr? Schläft er in der Erde? Der Kopf ist schon geboren, der Körper noch nicht. Aber wem sagt er das? In welcher Zeitfuge bin ich?

Der hellblaue Himmel, ein bebendes Tuch, senkt sich herab. Das Tuch zerreißt, dann knallt das Licht der Sonne. „Ich habe dich erschlagen, bevor ich da war. Jetzt bin ich wach.“ Leiser Herzschlag. Aus dem Sand wächst ein anderer Kopf. Doppelherzschlag.

 „Bist du allein?“ – Wer spricht?

Aus dem Sand der Erde wächst ein Bett. Eine Frau liegt darin. Ich erkenne das schöne Tier, das mich trug, meine Mutter. Ich will ihr Geheimnis sehen, das sie trägt, das Tier mit sieben Köpfen. Eine Lampe fährt über das Bett. Das blaue Licht wird nicht mehr in dir scheinen. Bald wird es keine Nacht mehr geben, denke ich. Ich trete, traumverloren, auf den Sand des Meeres. Nun taucht ein Schreibtisch aus dem Boden auf, vor dem auf einem Stuhl ein Mann im grauen Anzug sitzt. Das andere Tier, denke ich sofort. Sein Haupt und seine Haare sind wie Schnee, und seine Füße wie Erz aus einem feurigen Ofen. Er kommt mit den Wolken, denke ich. Er hält ein geöffnetes Buch in der Hand. Er reißt eine Seite heraus, schluckt sie, blättert weiter und schluckt die nächste Seite, blättert und schluckt. Das hat System. Mein Vater liebt nur sich. Das Buch wird ihm bitter im Magen liegen, aber süß schmecken die Worte im Mund! Er zieht den Schlips fester. Er schreibt. Das Schreiben hat System. Ich erschrecke: Ein Helm, ein Presslufthammer, ein schwebendes Tintenfass, in dem meterhoch die Tinte langsam schwappt. Ferne Sirenentöne. Die Köpfe im Sand verschwinden. Die Frau spricht mit dem Mann, der nicht aufschaut, wenn er redet. Wenn er redet, schreibt er weiter.

„Ich spüre dich.“

Stille. Ich höre mich sprechen. Aber keiner hört mich sprechen, sie hört mir nicht zu. Sie ist ein Weib, angetan mit der Sonne, und der Mond unter ihren Füßen, und in ihrem Haar sind zwölf Sterne. Sie ist schwanger und schreit in Wehen und Schmerzen der Geburt.

„Ich spüre dich.“

Die Ohren tun mir weh. Als sagte sie zu ihm: Komm, fahles Pferd, ich will dich reiten! – Was sagst du da? Sein Schwanz warf alle deine Sterne auf die Erde. „Ich weiß“, sagt er.

„Du arbeitest wieder an deiner Geschichte, du schreibst deine Geschichte immer wieder um, bis deine Geschichte gar nicht mehr da ist, du löschst dich immer wieder aus, aber du kannst dich nicht wegschreiben.“ „Ich entferne dich“, sagt er, „mit jedem Wort, das ich zwischen dich und mich schreibe.“ „Unsinn, das kannst du nicht.“

Sie gleitet aus dem Bett, weiße Haut aus weißer Haut, sie wirft ihr Haar zurück, steht auf und geht zu dem Helm, der im Sand liegt. Das Haar, von Wind erfasst, steht in der Luft. Der Drache, der ihr Kind verschlang, steht vor dem Weib. Sie ist schön, denkt er, sie führt ihren Krieg auch ohne Worte gegen mich, sie verletzt mich mit ihrem bloßen Körper.

„Du kannst keinen richtigen Krieg führen, nicht gegen mich.“ Sie nimmt den Helm in beide Hände und hebt ihn über ihren Kopf. „Du bist wehrlos. Die Worte, die du schreibst, können mich nicht treffen.“ Sie stößt den Helm hinter sich, das Metall schlägt scheppernd auf den Boden. „Gib mir meine Kinder zurück!“, sagt sie scharf. Er schaut nicht auf. Er schweigt und schreibt. Ich musste sie in meine Sätze stecken, ich wäre sonst verhungert: „Nein.“ „Lass sie frei!“

Nein! ich bin doch nicht verrückt und entmachte mich. Ich habe sie gezeugt, nun sollen sie mir dienen.  „Nein“, sagt er leise. Wird er sie mit eisernem Stabe wie die irdenen Gefäße zerschlagen?

Ich vernichte dich genauer als mein Vater, denke ich im Bauch meiner Mutter, ich werde dich gebären, wenn ich hier raus bin. Ich erschaffe einen Körper, der meinen Körper erregt, erzittert und ermüdet. Ich erschaffe mich selbst. 

Er steht auf. Er fasst den Kugelschreiber und stößt ihn in seinen Text. Er geht mit schnellen Schritten zu dem Presslufthammer und stellt den Motor an. Der Hammer pulst, die Stöße zittern laut. Die erhobene Lanze schüttelt seinen Körper, verwackelt den Gang. Er rammt den zuckenden Hammer (fast springt er im letzten Schritt) ins Bett, reißt die tosende Waffe aus der Wunde heraus und stößt die stählerne Pressluftspitze ins Tuch, in den Stoff, den Draht, das Blech, und wieder ins Tuch, ins Blech, immer wieder mit der ganzen Wucht der gepressten Luft, zerfetzt das Bett, das Tuch, den Draht, das Blech. Der Mann sinkt erschöpft zu Boden. Er liegt auf dem Rücken, Arme und Beine von sich gestreckt. Neben ihm der Presslufthammer.

Meine Mutter weint.

Ich werde dich rächen, sage ich, so leise, dass meine Mutter nichts hört, die Wunde, die mich erregt. Was steht auf den Blättern, die mein Vater schrieb? Welche Worte standen in der Wunde, die er sich stieß?

auch ich habe eine utopie, einen diesseitsglauben, in mir wohnen die seelen der ermordeten weiter.

Ja? Die Schlangen im Haar deiner Schwestern haben dich nie gestört. Du hast uns alle verraten im Namen deiner armen Ordnung!

ich glaube nur an mich.

Du bist zu schwach für deine Träume. 

lust will ich!

Du hast alle Wasser und die Iris des Spermienregens. Du quälst die anderen, Vater, weil du dich quälst. Du willst nur meinen Schmerz, die Lust deiner Macht.

Wo ist meine Mutter? Sie führt ihren Krieg ohne Worte. Ich werde meinen Vater überwinden. Sie hilft mir, sie hat mich geboren.

Aus dem Sand der Erde wächst das Bett, darin liegt das Tier. Die blaue Lampe fährt über das Bett, von unten kommt der Schreibtisch. Mein Vater wirft die Jacke ab. Er löst den Schlips. Das Tintenfass schwebt langsam herab. Die Tinte schwappt. Es wird dunkler, das ganze Licht fließt auf den Presslufthammer, zum Bett, zum Tintenmeer, zu mir, dem schwarzen Pferd, das den Hammer anhebt. Ich werde immer dunkler. Ich werfe sie aufs Siechbett. Ich bin es, der Herz und Nieren erforscht. Ich werde kommen wie ein Dieb.

„Ich spüre dich“, sagt er. „Ich weiß“, sagt sie.

Er zieht das Hemd aus, wirft es über die vollgeschriebenen Blätter. Sie gleitet aus dem Bett, weiße Haut aus weißer Haut, und wirft das Haar. „Sie ist schön!“, denkt er, „ich kann nicht immer Krieg gegen sie führen. Ich liebe sie“, glaubt er. Er streift die Schuhe von den Füßen, dann geht er zu ihr. Er hat einen Schwanz wie die Skorpione, einen Stachel, darin liegt seine Macht.

Die Macht der Pferde liegt in ihrem Maul und in ihren Schwänzen. Sein Schwanz ist wie die Schlange. Sie trägt einen Kopf. Da will dein Zorn umkommen und die Zeit des kleinen Todes.

Ich töte dich, denkt sie. Ich strafe und züchtige, die ich liebe. Du schreibst eine falsche Geschichte. Wenn er dich tötet, habe ich deine letzte Geschichte geschrieben.

Lege deine scharfe Sichel an und ernte!, denke ich. Schneide die Trauben des Weinstocks der Erde ab und gehe in die Kelter des Zornweins!

Ich. Den Presslufthammer hebe ich über das Bett, die Spitze ramme ich in den Rücken des Vaters! Der Motor rast, der Hammer stößt und bohrt durch das Tier, das auf ihr liegt, die neue Wunde ins Bett. Dann reiße ich meine laute Waffe hoch. Den zuckenden Hammer schleudere ich in die Luft. Ich höre die Kurve seines Falls. Der Hammer klatscht ins Tintenmeer und arbeitet wild weiter. Die Tinte schwappt und fängt zu schäumen an. Ich lasse den Kopf sinken. Ich weine. Leise singe ich mich selbst. Der Tintenschaum läuft über seine gläsernen Ufer. Bald ist der ganze Raum überschäumt. Das Bett geht unter im schaumigen Blau. Ich hebe den Kopf und schaue mich um, ich stehe mitten im Schaum. Das ist mein Ort. Das ist der Ort meines Lebens, das ich aus mir erzeuge, aus dem Schaum meiner Verletzungen.

 

 

***

Kritische Körper von Ulrich Bergmann, Pop Verlag Ludwigsburg, 2006

Ulrich Bergmann bezeichnet den Zyklus Kritische Körper als ‚Criminal Phantasy’. Der Leser findet in diesen Kurzgeschichten eine für diesen Autor typische Montagetechnik, unterstützt durch einen imagistischen Bildgebrauch und die Verwendung extremer Bilder. Von der Figurenzeichnung bis zum Handlungsablauf ist jederzeit klar, wie in diesem Zyklus die moralischen Grenzen verlaufen. Bergmann schreibt gegen den drögen Realismus der modernen Literatur an, und in der Tat besteht das Realistische seiner Literatur darin, das Grausame in seine Texte einfließen zu lassen, wobei sie plausible Beschreibungen des Innen und des Außen seiner Figuren auch ins Fantastische verlängern. Er erklärt uns eine Welt, in der sich die Bedeutung der Wirklichkeit nicht an der Oberfläche erschließt. Der Leser muss sich selber von der Abgründigkeit überzeugen.

Weiterführend → Lesen Sie auch zum Zyklus Kritische Körper den Essay von Holger Benkel.