10 Jahre Twitteratur

 

Twitter wurde am 21. März 2006 unter dem Namen twttr gegründet und gewann weltweit rasch an Popularität: Der erste Tweet wurde am 21. März 2006 durch den Twitter-Mitgründer Jack Dorsey mit diesem Satz verschickt:

just setting up my twttr

Drei Jahre später erscheint die Textsammlung: Twitterature. The World’s Greatest Books Retold Through Twitter von Alexander Aciman und Emmet Rensin, das 2009 erschienen ist. Die Sammlung enthält Palimpseste einiger Werke der Weltliteratur in netzaffiner Jugendsprache. Die Kulturnotizen verstehen sich als Ort der Gesellschaft, an dem sich in Gesellschaft über Gesellschaft ästhetisch reflektieren läßt, daher hat die Redaktion diese neue Literaturgattung von Anfang an begleitet. Twitteratur ist im Fluß, hier die Hochkultur, dort die Allesverfügbarkeit und auch Allesproduzierbarkeit durch das Internet – dies ist kein Gegensatz, sondern der Beweis für das Langlebige und Überzeitliche der Poesie.

Was du ererbt von deinen Vätern hast,
Erwirb es, um es zu besitzen.

Johann Wolfgang Goethe, ab 1782 von Goethe

Johann Wolfgang Goethe hat erklärt (und Generationen von Germanisten sind ihm willfährig darin gefolgt), dass es „nur drei echte Naturformen der Poesie“ gebe, nämlich „Epos, Lyrik und Drama“ (WA I/7, S. 118). KUNO zählt den Aphorismus und seinen digitalen Nachfolger unbedingt dazu. Daher empfiehl die Redaktion eine Neuerscheinung, die dem Rechnung trägt. Laptops, Tablets und Smartphones haben Alltagskommunikation entscheidend verändert und neue Inhalte und Formen literarischen Erzählens hervorgebracht, etwa Twitteratur, E-Mail-Romane und enhanced E-Books. Diese Entwicklungen beeinflussten den Literaturmarkt sowie Schreib- und Lesegewohnheiten stark. Das Buch Internet – Literatur – Twitteratur – Erzählen und Lesen im Medienzeitalter zeigt, wie sich literarisches Erzählen durch neuste Medien verändert hat und wie sich diese produktiv im Deutschunterricht einsetzen lassen. Die Beiträge im ersten Teil erläutern, wie im ‚alten‘ Medium Buch und im digitalen Raum von medialen Umbrüchen erzählt wird. Im zweiten Teil stehen mit Blick auf neuste Medien Aspekte der Deutschdidaktik im Fokus. Der dritte Teil ist einer spezifisch neuen Form des Erzählens gewidmet: Gestaltungsmöglichkeiten von Twitteratur.

„Wer hats erfunden?“ Michel de Montaigne!

Nach dem Ende seiner Zeit als Bürgermeister im Spätsommer 1585 und der vorübergehenden Flucht vor der Pestepidemie setzte er sich in seine Bibliothek im Schlossturm, um neue Lektüren, Erfahrungen und Erkenntnisse in den Essais zu verarbeiten. Er zeichnet hier als analoger Blogger aus dem 16. Jahrhundert. Montaignes Aphorismen sind von spielerischer Offenheit, so reichhaltig und flexibel, dass sie von nahezu jeder philosophischen Schule adaptiert werden könnten. Andererseits widersetzen sie sich noch auch heute konsequent jeder konsistenten Interpretation, und damit haben sie mit der neuen Literaturgattung Twitteratur viel gemein.

Heinrich von Kleist stand als „Außenseiter im literarischen Leben seiner Zeit […] jenseits der etablierten Lager“ und der Literaturepochen der Weimarer Klassik und der Romantik. Den Titel seinen Essays kann man als analogen Tweet lesen: Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden.

Friedrich Hölderlins Leben ist die Geschichte eines Einzelgängers, der keinen Halt im Leben fand, obwohl er hingebungsvoll liebte und geliebt wurde. Als Dichter, Übersetzer, Philosoph, Hauslehrer und Revolutionär lebte er in zerreißenden Spannungen, unter denen er schließlich zusammenbrach. Erst das 20. Jahrhundert entdeckte seine tatsächliche Bedeutung.

Heinrich Heine gilt als als Überwinder der Romantik. Er machte die Alltagssprache lyrikfähig, erhob das Feuilleton und den Reisebericht zur Kunstform und verlieh der deutschen Literatur eine zuvor nicht gekannte, elegante Leichtigkeit.

Friedrich Nietzsche ist ein Meister des Cynismus. Oft leisten seine Texte viel mehr: Aufschreckende Brüche und Diskontinuitäten im Sprachlichen, unruhige und gewagte Kombinationen und Schnitte, alchemistische Verbindungen von Kontexten, die man so nicht erwartet hätte. Neben dem Zeremonienmeister Lichtenberg (und, so wagen wir zu behaupten, Martin Walsers alter ego Meßmer) ist Nietzsche sicher ein interessanter Vorläufer der Form des – bei ihm noch wortmechanischen – Tweet.

Dieser Text präsentiert sozusagen eine Urform der Twitteratur. Franz Kafkas kleine Skizze besteht aus einem einzigen Satz in der Möglichkeitsform. Er wird vielfach verlängert durch Nebensätze und wirkt gleichsam atemlos. Sprachlich wird eine Dynamik ohne Bodenhaftung dargestellt. Die Formulierungen wie „schief in der Luft“ und „kurz erzitterte über zitternden Boden“ erwecken fast mehr den Eindruck eines Fluges als eines Ritts.

KUNO erinnert an die philosophisch-literarischen Schriften des Walter Benjamin. Besonders beeindruckt hat die Redaktion nach der Re:Lektüre die Einbahnstraße, eine Sammlung kurzer Texte, die nur rund 80 Druckseiten umfaßt und wegen ihrer vielen aphoristischen Formulierungen bekannt ist.

Die von Theodor W. Adorno in Minima Moralia gewählten Formen des Kurzessays, der Miniatur, des Langaphorismus und Denkbildes haben ihre Vorläufer im romantischen Fragment, aber auch in Nietzsches Aphorismensammlung Menschliches, Allzumenschliches und Walter Benjamins Einbahnstraße.

Die LiteraturClips von A.J. Weigoni begreift KUNO als eine Vorform der Twitteratur. Er legte in 1991 mit dem Musiker Frank Michaelis und in Zusammenarbeit mit der Schauspielerin Marion Haberstroh und dem Schauspieler Kai Mönnich, die zum Schlagwort gewordenen Literaturclips beim Dortmunder Independent-Label Constrictor auf dem neuen Medium der Compact Disc (kurz CD, englisch für kompakte Scheibe) vorlegte. Eine grundlegende Ambivalenz und Reserve der Fachöffentlichkeit war kein Zufall.

Peter Meilchen beschreibt in der Reihe Leben in Möglichkeitsfloskeln die Augenblicke, da das Wahrnehmen in das Verlangen umschlägt, das Wahrgenommene schreibend zu fixieren.

Holger Benkels Gedanken, die um Ecken biegen gehen weiter als der geschriebene Text; sie sind kein Ende, sondern ein Anfang. Sie versuchen, diesen kleinen Rest an Sprache etwas aufzuhellen, und wagen es seine Ränder verstehbar zu machen. Benkels Aphorismen folgen keinem linearen und systemischen Denken, sie entfalten sich vielmehr assoziativ und labyrinthisch.

Das „Frühlingel“ auf dem Cover stammt von Peter Meilchen

In 2014 wurde das transmediale Projekt „Wortspielhalle“ mit dem lime_lab ausgezeichnet. Es ist ein temporäres transdisziplinäres Labor (ein Name, der anscheinend virulent unterwegs ist;-) zur Entwicklung experimenteller, medienüberschreitender Hörspiele und versteht sich als Experimentierraum für Sprache, Technik und Sound – mit dem Ziel, künstlerische Möglichkeiten für die auditive Kunstproduktion auszuloten. Es unterstützt Projekte, die neue Erzählformen im Sog des beschleunigten Medienwandels im Dialog mit anderen künstlerischen Genres suchen. Eine höherwertige Konfiguration entdeckt Constanze Schmidt in dieser Collaboration. Holger Benkel lauscht Zikaden und Hähern nach. Ein weiterer Blick beleuchtet die Inventionen von Peter Meilchen. Ein Essay fasst das transmediale Projekt Wortspielhalle zusammen. Vertiefend zur Lektüre empfohlen sei auch das Kollegengespräch :2= Verweisungszeichen zur Twitteratur von Reyer und Weigoni zum Projekt Wortspielhalle.

Gedankenstriche lautete der Titel einer Abfolge von Prosaminiaturen, die KUNO in 2016 regelmäßig präsentiert. Gäbe es eine Geographie lyrischer Formen, dann läge sie wahrscheinlich zwischen Haiku, Tanka und Monostichon, neudeutsch Twitteratur. Aufgrund seiner extremen Kürze werden diese Gattungen vor allem für Formen verwendet, die aus Verknappung und Verdichtung ihren ästhetischen Reiz ziehen, also literarische Kleinstformen wie Gnome, Epigramm, Sinnspruch, Sprichwort, Sentenz und Ähnliches. Joanna Lisiaks Gedankenstriche zeigen, wie das Leben so spielt, sie spiegeln einen Jahrmarkt der Eitelkeiten, eine fortgeschriebene Comédie Humaine, die durch den inszenierten Zufall wirklich Leben bekommt.

Von Herrn Nipp waren auf KUNO zwischen 1989 und 1994 Aperçus, Bonmots, und Sentenzen zu lesen. Eine Vorform der Twitteratur. Prägend für diesen Begriff ist die Textsammlung: Twitterature. The World’s Greatest Books Retold Through Twitter von Alexander Aciman und Emmet Rensin, die 2009 erschienen ist. Die Sammlung enthält Palimpseste einiger Werke der Weltliteratur in netzaffiner Jugendsprache. KUNO stellt in 2009 Kurznovellen von Herrn Nipp vor. Dieser Autor dampft die Gattung der Novellette zum Mikrotext ein. Es ist eine fasznierende Twitteratur über beobachtete Nebenmenschen, kleine politische oder alltagssoziologische Beobachtungen. Dabei nehmen sie sich Themen an, die manchmal auch unangenehm sind und zeigen an jedem Falkenmotiv eine neue, zumindest aber eigene Perspektive auf, die verblüfft oder nachdenklich stimmt.

 

 

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Internet – Literatur – Twitteratur – Erzählen und Lesen im Medienzeitalter. Perspektiven für Forschung und Unterricht von Anne-Rose Meyer, Deutsche Literatur & Kulturwissenschaften Reihe: Beiträge zur Literatur- und Mediendidaktik, Band 40

Ein einführender Rezensionsessay von Holger Benkel in den Aphorismus. Ein Essay über die neue Literaturgattung Twitteratur. Mit ‚TWITTERATUR | Digitale Kürzestschreibweisen‘ betreten Jan Drees und Sandra Anika Meyer ein neues Beobachtungsfeld der Literaturwissenschaft. Eine unverzichtbare Lektüre zu dieser neuen Gattung. Sophie Reyer bezieht sich auf die Tradition der Lyrik und vollzieht den Weg vom Zierpen zum Zwitschern nach. Gemeinsam mit Sophie Reyer präsentierte A.J. Weigoni auf KUNO das Projekt Wortspielhalle, welches mit dem lime_lab ausgezeichnet wurde. Mit dem fulminanten Essay Romanvernichtungsdreck! #errorcreatingtweet setzte Denis Ulrich den Schlußpunkt.