Mohnasche

Als sich die Blüten des Mohns lösten, rissen die Wolken. Starke atlantische Winde trugen die roten Flügelsterne in die strategische Höhe, schoben sie vor die Sonne und färbten die Luft, die plötzlich zitterte und tropfte. Ein kahler Wald von dünnen Fingern zeigte auf den Himmel. Kautsky las schwere Bücher, die er bis in die tiefe Nacht weiter dachte. Er schlief nicht, aber er war auch nicht wach. Er fiel in den Mohn.

Zuerst flogen Schwärme von Moskitos tief über den Fluss. Es ist totenstill. In der unterirdischen Zentrale zieht schwarze Tinte zwei Linien über die Karte, sie werden oben und unten durch zwei Kreisbögen geschnitten. Dazwischen liegt der Sektor des Todes. Millionen Mohnblüten stehen am Himmel. Unten kriechen die endlosen Schlangen der Treckfahrzeuge durch die Straßen, Achse an Achse, Deichsel an Deichsel. Neben den abgemagerten Pferden gehen die Männer. Unter den Planen kauern Frauen und Kinder. Die Musik bricht ab.

Ich höre das Ticken. Ich will schlafen. Steh auf! Lass mich!

Die Bahnsteige beben, Gepäck türmt sich auf. Gepresste Menschen steigen aus den Waggons, die Züge fahren leer weiter. Der Tag ist schon dunkel.

Ich werfe einen Blick auf die Uhr. Jetzt ist es halb zehn. Ich bin müde. Mach die Augen auf! Lass mich! Es geht um dein Leben! Ich will nicht. Ich drehe mich um und zieh mir die Decke über den Kopf.

Die Sirenen schreien von Klotzsche bis Racknitz. Der Masterbomber stürzt mit der Moskito aus siebentausend Meter Höhe durch drei dünne Wolkenschleier in die rote Sphäre. Da ist das Band der Elbe, da sind die dunklen Häusermassen im weiten Talkessel. Im gleichen Augenblick flammen vier grüne Leuchtbomben auf, hängen pendelnd am Mohn. Jetzt fallen die Christbäume vom Himmel. Der Masterbomber fliegt über den Fluss. Kein Lichtfinger fasst ihn. Die Christbäume leuchten über der Stadt, der Hauptmarkierer sieht den Zielpunkt, er stürzt auf das ovale Stadion zu, Zielvisier, Auslöseknopf. Das rote Licht der Zielmarkierer dringt durch den letzten dünnen Wolkenschleier. Dann das Heulen der Bomben, Krachen, Brand. Nach einer Minute verlischt das Licht am Himmel. Die Druckwellen der Luftminen pressen die Stahlrahmen der Luftschutzfenster auseinander. Beißende Rauchwolken quellen in den Keller. Wasserrohre platzen. Bis zu den Knien stehen wir im Wasser. Endlich steht das Wasser still. Aber jetzt fließt Feuer durch die Fensterritzen. Der Luftschutzkeller wird immer heißer. Wir können kaum noch atmen, so stark ist die Strahlungshitze der brennenden Nachbarkeller.

Ich renne raus. Vor mir laufen Frauen, deren Kleider sich entzünden, sie schreien, stolpern weiter, sinken nach wenigen Schritten zusammen, rollen sich auf dem Boden, um die Flammen zu löschen, aber der Boden brennt auch. Ich geh zurück in den Keller. Ein Offizier zieht die Pistole und erschießt seine beiden Kinder, seine Frau, sich selbst. Ich schütte mir ein paar Eimer Wasser über meinen Anzug, werfe eine nasse Decke über Kopf und Schultern und renne die Kellertreppe hinauf ins Feuer. Es regnet Mohn. Meine Schuhsohlen brennen. Ich springe über die verbrannten Frauen und klettere über eine zerborstene Mauer. Die Stadt glüht. Ich laufe durch den Mohn von Hof zu Hof und finde endlich die Brandlücke, eine schmale Straße zum Altmarkt. Ich springe über kleine blaue Flammen, die auf dem Asphalt spielen. Ich steige über dunkle Balken, verkohlte Menschen. Ich werde geschoben im Pulk der Gehetzten, die alle zum Altmarkt wollen, weil dort die großen Löschwasserbecken stehen. Der Platz ist weit und bietet Schutz vor den Flammen. „Zum Großen Garten!“, schreit einer. Dann schreien alle. „Zum Großen Garten!“ Die Schuhsohlen sind durchgebrannt, ich spüre nichts. Das Feuer flutet die Straßen. Wir erreichen den Großen Garten, der brennt nicht, aber da stehen die Christbäume wieder über allen vier Ecken. Der Feuermohn fällt eisig klatschend in den Garten. Pausenlos. Ich kralle mich in die Erde.

 

 

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Kritische Körper von Ulrich Bergmann, Pop Verlag Ludwigsburg, 2006

Ulrich Bergmann bezeichnet den Zyklus Kritische Körper als ‚Criminal Phantasy’. Der Leser findet in diesen Kurzgeschichten eine für diesen Autor typische Montagetechnik, unterstützt durch einen imagistischen Bildgebrauch und die Verwendung extremer Bilder. Von der Figurenzeichnung bis zum Handlungsablauf ist jederzeit klar, wie in diesem Zyklus die moralischen Grenzen verlaufen. Bergmann schreibt gegen den drögen Realismus der modernen Literatur an, und in der Tat besteht das Realistische seiner Literatur darin, das Grausame in seine Texte einfließen zu lassen, wobei sie plausible Beschreibungen des Innen und des Außen seiner Figuren auch ins Fantastische verlängern. Er erklärt uns eine Welt, in der sich die Bedeutung der Wirklichkeit nicht an der Oberfläche erschließt. Der Leser muss sich selber von der Abgründigkeit überzeugen.

Weiterführend → Lesen Sie auch zum Zyklus Kritische Körper den Essay von Holger Benkel.