Frank Steigenberger, Sektierer mitten unter uns, nahm den Film Matrix ganz ernst. Er glaubte, er stecke in der Matrix, versklavt von Computern, die die Weltherrschaft an sich gerissen haben. Frank glaubte, er sei Teil eines Programms. Über seinem Bett hatte der 24-Jährige, der Physik studierte, ein großes Filmposter hängen: „The Matrix has you.“ Wenn er in Marzahn, tief im Osten Berlins, unterwegs war, trug er einen schwarzen Trenchcoat, wie ihn Hollywood-Star Keanu Reeves als Darsteller der Hauptfigur Neo in dem Film trägt. Matrix, das wusste Frank, ist die Hölle der Chromosomen, Form, Muster, Schema, Schaltschema, Idee, eine falsche Wirklichkeit.
Eines Tages kaufte sich Frank eine Schrotflinte mit zwölf Patronen Munition, wie sie der Filmheld benutzt. Neos Mund wächst zu. Matrix hat mich zum Schweigen gebracht. In meinen Bauchnabel krabbelt ein Insekt aus Metall, ich werde maschinell kontrolliert. Es ist kein Traum, es ist die Wirklichkeit. Am 17. Februar ging Frank mit dem Gewehr in den Keller seines Elternhauses, schoss siebenmal auf seinen Vater, zweimal auf seine Mutter. Die Operation findet in einem Auto statt, draußen regnet es, und die Tropfen an den Fensterscheiben fließen, die Zahlen fallen vor den Bogen der Brücke, den das Auto durchquert. Mein Weg ist die Hölle. Ich will aus der Zeit fallen, aus der Kausalität meiner bisherigen Welt. Steigenberger rief die Polizei an, der er nüchtern und ganz unaufgeregt mitteilte, dass er soeben seine Eltern erschossen habe.
Ich beginne ein neues Leben. Es ist die Geburt des neuen Messias. Mein Weg zum Inferno führt durch den Erdtrichter zum Mittelpunkt der Erde, zu Alice in den Brunnen, in dem mein altes Leben ertrinkt. Ich will raus aus dieser dunklen Höhle, weg von den Schatten an der Wand. „Auf seinem Weg zur Rettung der Welt war Frank nicht sicher, ob er der Auserwählte ist, er zweifelte. Er suchte Gewissheit, die er nicht von außen erlangen kann“, sagte Ekaterina, seine Freundin. „Er sagte immer wieder: Meine Gewissheit muss von innen kommen.“ „Frank hat ernsthaft geglaubt, dass er in der virtuellen Welt der Matrix lebt“, stellte ein Psychiater in einem Gerichtsgutachten fest. Sogar der Staatsanwalt plädierte auf Schuldunfähigkeit. „Er war völlig besessen von der Idee.“
„Da war dieser entsetzliche Gedanke, den ich einfach nicht loswurde: Eine Vorhersage der Zukunft ist unmöglich angesichts des Zufalls, der nach den Erkenntnissen der Quantenmechanik nicht vorhersagbar ist. Eine berechenbare, also beschreibbare Kausalkette von Ereignissen ist unmöglich“, sagte Steigenberger. Die Freundin liebte ihn wegen dieser Gedanken, denn sie verstand Franks Philosophieren als seine Suche nach ihr. „Er war auf der Suche nach der Liebe“, sagte Ekaterina vor Gericht. „Ich glaube, dass er mich immer noch sucht. Ich bin die Antwort auf seine Fragen. Jetzt ahnt er es.“ Wie weit weg er von ihr war, wusste sie nicht. Seine Verzweiflung war kein Grund ihrer Hoffnung. Sie verstand die Welt nicht mehr, als er in der Ebene des Philosophierens blieb, das nichts als die Verzweiflung über die Unmöglichkeit, sich selbst zu finden, bedeutete. „Es hat mit Träumen angefangen, aber dann habe ich gemerkt, dass die Träume echt waren. Sie wollen, dass du glaubst, es sei nur ein Traum, aber es ist die Wirklichkeit“, sagte Frank vor Gericht.
„Weißt du“, sagte er, „da läuft angesichts der Unmessbarkeit der Lebensprozesse eine Katze durch deine Matrixwelt, die doch da gar nichts zu suchen hat.“ Frank Steigenberger las nicht nur physikalische Bücher. Er war sicher, die Dichter ahnten die Zukunft, bevor die Wissenschaftler, die die Welt nie deuten, sie mathematisch beschreiben konnten. Das war schon so bei Jules Verne. Jetzt wird Franz Werfels Stern der Ungeborenen Wahrheit. Schrödingers Katze war eigentlich auch nur eine geheimnisvolle Fabel. Sie ist nur die Fortsetzung der Cheshire-Katze von Lewis Carroll. Die Katze kann sich mitten im Dialog wegdimmen, sodass nur ein Bild ihres Grinsens übrigbleibt, sie wird so zur bloßen Form, zur Matrix ihrer selbst. So geht es mir auch, dachte Frank. Schrödingers Katze ist ein moderner Mythos, ein wissenschaftlich gemeintes Bild oder Gleichnis, wie wohl alle Versprachlichung immer zugleich die Mythologisierung des Bezeichneten ist. Vielleicht ist sogar die mathematische Sprache eine abstrakte Mythologie oder die Matrix aller Mythologien. Die schwarze und die weiße Katze in Lewis Carrolls Wunderland sind Verwandte von Schrödingers Katze. Die weiße Katze ist gut, die schwarze ist böse, aber Gut und Böse werden zum quantenmechanischen Spiel des Zufalls… Ich komm ganz durcheinander, sagte Frank.
„Hättest du sie auch erschossen, wenn ich nichts gesagt hätte?“ Wer spricht da? Das Orakel ist so profan! Es ironisiert sich selbst, indem es die Zukunft auf die Wahrscheinlichkeit reduziert, mit der ein eiliger Ratsuchender eine fast absichtlich dumm plazierte Vase umrennt. Das ist lächerlich. Zukunft ist nicht voraussagbar, weil physikalische Prozesse und menschliche Handlungen nicht notwendig nach dem Maßstab einer zweiwertigen Logik funktionieren. „Orakelsprüche sind nur handelnd auslegbar. Erst im deutenden Bezug auf werdende Gegenwart erfüllen sie sich, erst dann werden sie wahr“, antwortete Frank. Die dynamische Dialektik der Evolution des Geistes ist dem dualen Mechanismus im Software-Hardware-System überlegen, dachte er. Die Maschine ist keine Stufe der Evolution. Das Organische besiegt das Anorganische. Ich bin mehr als Matrix.
„Du bist nicht tot… Steh auf!“, sagte Ekaterina. „Ich liebe dich!“ Steigenberger hörte die Worte, aber er sah sie nicht. Natürlich ist die Logik des Satzes nicht wörtlich zu nehmen, dachte er. Es geht um das Wunder der Liebe, soll ich denken. Ich soll denken, es geht um den einzigen Sinn, Logik sei keine hinreichende Lebensbedingung, Liebe ist… die höchste Logik. Das ist das Märchen. Das Schlimme an der Wahrheit ist, dass sie nur als Lüge existieren kann. „Steh auf!“, sagte Ekaterina. Steigenberger hob den Kopf vom Boden seiner Zelle, die Wörter standen in der Luft vor seiner Stirn. Dann stießen die fliegenden Messer zu, steckten tief in seinen Augen. Ekaterinas Mund zitterte, als sie die blutroten Lippen küsste.
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Kritische Körper von Ulrich Bergmann, Pop Verlag Ludwigsburg, 2006
Weiterführend → Lesen Sie auch zum Zyklus Kritische Körper den Essay von Holger Benkel. In diesem Zusammen empfehlenswert auch den Essay The Matrix has you von Ulrich Bergmann.