Tacheles

Am Donnerstag Abend der letzten Woche lief plötzlich eine junge Frau in die Räume der Künstlergruppe Beautiful Factory im dritten Stockwerk der Halbruine Tacheles, schrie: „Ich mache Schluss!“ und zerschnitt Jan West, spoken word artist aus Neukölln, der gerade mit der Factory ein gemeinsames Projekt besprach, mit so scharfen Augen, dass er vom Stuhl hochsprang, sie fest am Arm packte – sie aber riss sich los und stieß ihn weg: „Hau ab! Alles ausgeleiert, Fotze, Arsch und Titten! Das Leben kotzt mich an!“ Dann rannte sie wieder raus, warf die Tür, stieß im Treppenhaus die spitzen Schuhe von sich und lief barfuß die steinigen Stufen nach oben. Jan betrachtete die rot lackierten Schuhe, sah ihre Füße brennen, löste sich langsam aus der eingefrorenen Haltung, drehte den Kopf ins Zimmer zurück und hob dann die Schuhe auf. Er stellte sie einen Schritt breit auseinander auf den Tisch, mitten in die Papiere, und drehte die Augen ins Delta.

„Bestürzend!“, meinte Ray Kurzweil. Ray war der intellektuelle Kopf der Factory. Er übersetzte, während er rasch die Schuhe vom Tisch nahm und eng zusammen auf den Boden stellte, den Vorfall ins Allgemeine. „Wieviel Schmerzen und Selbstaufgabe Frauen in Kauf nehmen, um Männern zu gefallen – und sich selbst! Was für eine Selbstentfremdung, was für ein ganz auf den Tod projiziertes Leben!“ Ray senkte den Kopf, sah auf den roten Lack und lenkte langsam den Blick in Jans Augen. „Wenn so viel Mühe aufgebracht würde zum Lernen, für Selbsterkenntnis und vernünftigere Gestaltung des alltäglichen Lebens…!“ Das Leben dient nicht der Vernunft, dachte Jan, Ray ist ein verdammter Moralist, weil ihm der Mut zum sinnlicheren Leben fehlt. Sein Blick zu Ray brach, als die Tür zum Treppenhaus aufkrachte. „Ich kann nicht! Ich schaff das nicht!“, schrie die Frau, die in ihrer Verzweiflung Jan immer schöner erschien. Er las in ihren Augen. Sie war in den fünften Stock gerannt, stand über der Stadt, die sie hasste, und heulte vor sich hin, sie sackte zusammen und fand keine Kraft für den kleinen Schritt. „Wie heißt du?“, fragte Jan. „Elisa“, sagte sie leise.

„Ich weiß alles“, sagte Elisa, als sie sich an den Tisch setzte, „ich kenne mich, aber ich kann mir nicht helfen.“ Ray sagte jetzt nichts, aber er dachte sich seinen Teil. Die permanente Selbstverjüngung führt auf den Weg ewigen Lebens. Allerdings fragt sich, ob und mit welchen seelischen Folgen das alternde Gehirn verjüngt werden kann, wie es mit einem doppelten, dreifachen, mehrfachen Leben fertig wird. Entweder wächst der Wille zu sterben, oder die Angst vor tödlicher Verletzung wird zur unerträglichen hypochondrischen Keule… Ray atmete tief, er starrte unentwegt die junge Frau an. Unser Leben wird zur Hölle, wenn wir nicht mehr sterben wollen. „Jan wird sie auch nicht retten“, sagte er halblaut, aber keiner hörte hin. Jan war aufgestanden. Jetzt fasse ich sie nicht an. Er trat hinter sie und sagte: „Komm mit!“ Jan ging mit ihr in einen anderen Raum, ihm war egal, was Ray dachte.

Alles ging schnell. Die Geschichte raste. Sie tranken Campari, sie sprachen kaum ein Wort, er sagte ihr nicht einmal seinen Namen. Ihre Körper sprachen wortlos, unlesbare Grammatik, sie steckten sich gegenseitig in den Mündern, aber das war alles nur leere Syntax, sie verstanden sich nicht. Die Liebe ist eine gute Medizin für Gesunde, würde Ray sagen, dachte Jan jetzt. Die Frauen sind nicht aus einem Punkt zu kurieren, der Mann schon eher. Mein Körper funktioniert, das schmiert die Seele. Ich liebe sie nicht, und das stört mich überhaupt nicht. Sie kann mich nicht lieben, das ist ihr großer Schmerz. Sie fasst meinen Schwanz mit verschlagenen Augen, als berühre sie sich selbst. Sie hat Angst sich zu verlieren, obwohl sie sich gar nicht hat, ich bin glücklich im Tod, weil ich weiß, dass ich immer wieder auferstehe. Ich denke mit meinem Körper, der bleibt im Raum der Logik, aber sie reist mit ihren vielen Seelen von Mann zu Mann und findet keine Heimat. Elisa lag auf dem Rücken und schaute mit offenen Augen durch Jan, der über ihr lag. „Dreh dich!“, befahl sie, „ich will dich!“

Gegen sechs Uhr morgens fuhr Jan Elisa nach Tiergarten. Der Abschied war kurz und gefühllos. „Ich hasse dich!“, sagte sie heftig. „Ich nicht“, antwortete er. Sie kehrte aber zurück in die Oranienburger Straße, stieg barfuß in den fünften Stock des Tacheles, sprang aus dem Fenster, prallte auf das Dach eines leeren Wohnmobils und rollte auf den Asphaltboden des Hofs.

Stunden später wurde Elisa von Touristen und einer italienischen Schulklasse gefunden. Ein kunstsinniger Mann hatte alles auf Video aufgezeichnet, wie die Puppe im Fenster stand, wie das Manifest deklamiert wurde, den Sprung, den Schrei, das Aufschlagen der Puppe auf dem Wohnmobil, auf dem Asphalt, wo der Körper etwa drei Meter vor der Kamera liegen blieb – die Polizei beschlagnahmte später das Band -, und der Mann erklärte der erstaunten Klassenlehrerin, diese Installation übertreffe die besten Objekte von Douane Hanson, die derzeit Unter den Linden gezeigt würden. Ein 12-jähriger Schüler erkannte aber sofort, dass es sich um eine Leiche handelte.

Die Selbstmörderin, so das Protokoll der Polizei, sei drogensüchtig gewesen und habe an Schizophrenie und Depressionen gelitten. Die Obduktion habe als Todesursache ein Schädelhirntrauma als Folge des Sturzes ergeben. Es gebe keine Anhaltspunkte für Fremdverschulden. Gegen Jan West wurde nicht ermittelt. In einer Tasche, die Elisa im Tacheles abgestellt hatte, fand die Polizei einen bizarren Zettel: „Ich habe mit meinem Vater geschlafen… meinen Schwanz abgewertet… Ich kann so nicht mehr leben!“ Die Eltern der Toten waren völlig überrascht von der Selbsttötung. Am Tag zuvor hatte die junge Frau noch mit ihrem Vater gesprochen. Zwei Tage vorher soll sie mit ihrer Mutter Pläne für einen Umzug nach Dresden erörtert haben, wo sie eine Stelle als Firmenideologin antreten wollte. Auf diese Tätigkeit hatte sie sich gefreut wie nie in ihrem Arbeitsleben zuvor. „Ich räche mich am Leben, das mich so verarscht.“

Jan West zerschlug die Bilder im Kopf, als er die Leiche der jungen Frau identifizierte, die zerschmettert auf dem harten Asphalt lag, während er immer noch ihre letzten Worte hörte, die sie in die Nacht rief. Er streifte sie von seinem Körper, das war vor vier Stunden, jetzt malte die Sonne Schatten in die weiße Haut. Sie schrie in ihrer letzten Lebensbewegung die Erde an, auf die sie sich stürzte. Jan nahm die Augen vom Asphalt, hob den Kopf und schaute nach oben.

Ein Polizist äußerte Verständnis für die Fehleinschätzung beim Auffinden der Leiche: „Weil das Tacheles so makaber und ungewöhnlich von innen ist, wundert mich das nicht, dass man die Tote für einen Event hielt“, sagte er. „In dieser verrückten Stadt ist nichts abwegig.“ In den Tod kann man von jedem Baugerüst und von jedem Dach springen, dachte Jan, das hat nichts mit dem Tacheles zu tun.

 

 

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Kritische Körper von Ulrich Bergmann, Pop Verlag Ludwigsburg, 2006

Ulrich Bergmann bezeichnet den Zyklus Kritische Körper als ‚Criminal Phantasy’. Der Leser findet in diesen Kurzgeschichten eine für diesen Autor typische Montagetechnik, unterstützt durch einen imagistischen Bildgebrauch und die Verwendung extremer Bilder. Von der Figurenzeichnung bis zum Handlungsablauf ist jederzeit klar, wie in diesem Zyklus die moralischen Grenzen verlaufen. Bergmann schreibt gegen den drögen Realismus der modernen Literatur an, und in der Tat besteht das Realistische seiner Literatur darin, das Grausame in seine Texte einfließen zu lassen, wobei sie plausible Beschreibungen des Innen und des Außen seiner Figuren auch ins Fantastische verlängern. Er erklärt uns eine Welt, in der sich die Bedeutung der Wirklichkeit nicht an der Oberfläche erschließt. Der Leser muss sich selber von der Abgründigkeit überzeugen.

Weiterführend → Lesen Sie auch zum Zyklus Kritische Körper den Essay von Holger Benkel.