zur lyrik von HEL = herbert laschet toussaint
hel, der seit fast 30 jahren in berlin lebt, stammt aus einer arbeiterfamilie im deutschsprachigen osten belgiens, wo er das abitur erwarb. mit mehreren sprachen, dialekte inbegriffen, früh vertraut, ist das dekonstruieren und neuformieren der sprache, die bei ihm verschiedenste wortherkünfte verbindet und derart multikulturellen lebensformen entspricht, seine literarische hauptmethode. »Ja wenn die türken Wien erobert hätten / hieß palatschinkenkuchl ponçik evl.«, schreibt er, und, über türkische nachbarn: »kinder längst entanatolt.« es lohnt sich, seine sprachlichen mittel und deren traditionen zu hinterfragen. denn er nutzt nicht nur worte unterschiedlicher sprachen, sondern zudem ältere und außer gebrauch geratene, daneben redewendungen, jargon, szenesprache, medienvokabular. alldas wird geprüft, reflektiert, verfremdet und verwendet. und der leser entdeckt, teilweise als reimworte, wortprägungen wie »schlitzmondaugenzelt«, »Hundertwassersimseranken«, »falschfarbpanoramenpixelmaler«, »highlifeshirngeplänkelpumpenschelte«, »himmelfahrtshauptmannsmaschine« oder »dummdenk in denkdummgelee«.
»Ich schab auch nicht mehr mehr als eine schabe«. schaben, das hier das zerreiben, sozusagen granulieren, normierter sprache meint, ist mit schaffen und schöpfen verwandt. grabend, schabend, schneidend, spaltend ward der mensch zum menschen. hel verfaßte einen sonettenkranz »Sonettenlage zum Knarz der Nation«. knarzen bedeutet knarren, brummen, zanken. als weitere synonyme werden genannt: krächzen, ächzen, krähen, bellen, krachen, rattern, prasseln, knistern und rascheln. verwandt sind knarren, knurren, knirschen, scharren, schnarren, schnarchen, schnorcheln, schnorren, schnurren und nörgeln. »Die thür im angel kan ich schmieren / Des sie nit knarzen kan noch kirren.«, meinte hans sachs, der selber der volkssprache nahe und sprachklangfähig war, zugleich aber eine handwerkermoral hatte, die das knarzen im realen leben wohl nicht mochte. hel schmiert seine sprache nicht, damit sie nicht glatt wird, sondern hebt deren rauheiten kunstvoll hervor. »Dante bezeichnete Worte als „gebuttert“ oder „zottig“, wegen der unterschiedlichen GERÄUSCHE, die sie machen. Auch als pexa et hirsuta, gekämmt und struppig.«, erklärte ezra pound, und: »Der Klang ist besser, wo die Sprache schlecht ist.«, »bei der Wahl zwischen dem Jargon und der Platitüde ziehe ich den Jargon vor.« roland barthes. dante schrieb über den volksmund, hel in einem brief: »Brecht schmeckt nach brot, Woody Guthrie nach staub und schwarzem kaffee. Wat nach nix schmeckt, is auch nix.«
außerdem verbindet er mit lust und list verschiedene orte, zeiten, mythen und kulturschichten. »Es gibt auch zeitgenußkosmopoliten / hethiter im exil der gegenwart / Sie spielen nicht einmal den gegenpart / sie spielen mit den Preußen Obotriten.«, heißt es, oder: »wer seine katze metaphorisiert hat / ist längst zum schweifstern unters all gekrochen.« die obotriten waren ein altslawischer stammesverband, der im nordundostdeutschen raum lebte, lange bevor preußen entstand. ich begegne gewiß oft nachfahren der obotriten, die ihre herkunft nicht mehr kennen. der kater verkörperte ägyptisch sonnengötter, mit deren sonnenaugen katzen wegen ihrer leuchtenden augen gleichgesetzt wurden. »Brenn keine löcher in die schwebnis / aus der die zukunft gewebt ist.« klingt wie ein orakelspruch aus delphi: bedenke die folgen.
zur traditionslinie der sonette, kurzgedichte und aphorismen hels gehören kukrez, catull, martial, juvenal, françois villon, françois rabelais, johannes vom kreuz, angelus silesius, andreas gryphius, heinrich heine, karl kraus, erich mühsam, paul zech, richard huelsenbeck, theodor kramer, bertolt brecht, jura soyfer, fritz graßhoff, h.c. artmann, ernst jandl, peter rühmkorf, heiner müller, rolf dieter brinkmann, bob dylan. auch weitere expressionisten und dadaisten könnte man hier nennen. wenn hugo ball vor über 100 jahren erkannte: »Alles funktioniert, nur der Mensch selber nicht mehr.«, so klingt das heute umso aktueller. heiner müller, dessen werk auf traumatisierungen verweist, hätte schreiben können: »Burgtheater Babybrei / Dada macht die Köpfe frei.« das wär sozusagen eine hommage an zürich gegen wien. »Wie schön wäre Wien ohne Wiener.«, sang georg kreisler. dies ist der gleiche grundgedanke wie bei ball: beschädigte menschen schaffen eine brauchbare welt, und das seit jahrtausenden. »Wenn doch nur einer den Mut hätte der Trambahn die / Schwanzfedern auszureißen.«, meinte richard huelsenbeck. das wirkt, indem es lediglich spielerisch ironisch gewalt fordert, beinahe schon postmodern. denn der subtext sagt: damit würde auch nichts besser werden. und dies erinnert mich an das explodierende haus am schluß von michelangelo antonionis film »Zabriskie Point«, der die geschäftswelt symbolisch zersprengt und zugleich die explosion ästhetisch auflöst.
hel, der diesen rezensionsessay »lyrchen-aufsatz« nennt, verwies zudem auf gertrud kolmar, die bei mir neben paul celan, else lasker-schüler, rajzel zychlinski und nelly sachs steht, deren hingabe an die sprache er teilt. übrigens ist walter benjamin, gershom scholem verwies darauf, verwandt mit heinrich heine, karl marx, dem archäologen gustav hirschfeld, der olympia ausgrub, günther anders und eben gertrud kolmar. unter autoren, denen er persönlich begegnete, nennt hel helmhold reinshagen, martin pohl, klaus m. rarisch, brigitte lange, josef wilms und gisela kraft als anreger.
zu hels vorfahren gehören wahrscheinlich auch marrannen, ich verwende die schreibweise von scholem, zwangsgetaufte juden, die, nachdem die christen die kultivierten mauren aus spanien vertrieben hatten, unfreiwillig zum christentum übertraten, im innersten ihrer seele jedoch den jüdischen glauben, oder wenigstens teile davon, bewahrten und später teilweise wieder zur alten religion zurückkehrten. gershom scholem schrieb über die marrannen, die unter juden mindestens umstritten, wenn nicht gar verachtet waren: »Generationen lang hatten sie, als Nachkommen jener spanischen Juden, die während der Verfolgungen von 1391 bis 1498 zu Hunderttausenden zum Christentum übergetreten waren, der Not oft mehr gehorchend als dem eigenen Triebe, in einer aufgedrungenen Zweiheit des religiösen Bewußtseins gelebt. Die Religion, die sie äußerlich bekannten, war nicht mit der identisch, zu der ihr Gefühl sie hinzog.« durch mystische religionen kann innerlich bewahrt werden, was äußerlich verlorengeht, und zwar über jahrhunderte hinweg. saturierte vulgärmaterialisten dürften diese art des überlebens kaum verstehen.
lichtenberg forderte: »Von jedem Wort muß man sich wenigstens ein Mal eine Erklärung gemacht haben, und keines brauchen, das man nicht versteht.« worte, lebendige wesen, die häufig in formelhaftem denken eingesperrt sind, müssen, damit sie etwas erkunden können, stets erneut befreit werden. genau das ist hels anspruch, in literarischen texten, aber auch außerliterarisch, etwa in seinen oft etymologisch grundierten briefen. »Poetika sind wurzeln blüten ähren / sind wissenschaft maschinen jenseitswalten / Sie sind der bernstein aus dem meer der balten / den fischer aus den jahrmillionen klären.« die leerzeichen entsprechen dem originaltext. beim gebrauch der worte geht er vielfach auf wortwurzeln, ja hinter die etymologie, die »menschheitsaufgangssilbenkunde«, zurück, die man eine mythologie der sprache nennen kann. ideal wäre, wenn man »Ötzi« und ähnliche funde zum sprechen bringen könnte.
die frühen worte entstanden aus dem sinnlich unmittelbaren wahrnehmen und handeln. auch das wort muttersprache ist zutreffend. denn vermutlich hat sich die frühe sprache nicht unerheblich im dialog zwischen mutter und kind entwickelt. im jüdischen buch »Jezira« heißen die urlaute mütter. michel serres bemerkte, »daß sich Menschen, die ohne Mütter haben auskommen müssen, verzweifelt in die Sprache stürzen.«, die enorm wichtig für die herausbildung der identität ist. roland barthes stellte fest: »Einem Menschen im Namen der Sprache die Sprache rauben – damit beginnen alle Justizmorde.«
jean paul sartre sprach vom bedeutungshumus der sprache. c.g. jung schrieb: »Die Sprache ist ursprünglich ein System von Emotions- und Imitationslauten; Laute, die Schreck, Furcht, Zorn, Liebe usw. ausdrücken, solche, die die Geräusche der Elemente nachahmen, das Rauschen und Gurgeln des Wassers, das Rollen des Donners, das Brausen des Windes, die Töne der Tierwelt usw., und schließlich solche, die eine Kombination des Lautes der Wahrnehmung und desjenigen der affektiven Reaktion darstellen.«
»Wer hört den uhus und den unken zu?« verbindet zwei klangmalerische tiernamen. noch viele heutige worte haben etwas lautnachahmendes, besonders häufig tiernamen, nicht allein in der kindersprache, die »Muhkuh«, »Wauwau«, »Miau« oder »Kikeriki« für kuh, hund, katze und hahn kennt. genannt seien vogelnamen wie kuckuck, der weltweit nach seinem ruf benannt ist, puter und trute, glucke für henne, zippe für singdrossel, wachtel, niederländisch kwakkel, pirol, französisch loriot, sowie fink, stieglitz, girlitz, zeisig, kiebitz, rabe, krähe oder häher. der biologische name für den pirol, oriolus galbula, scheint mit oriolus den zärtlichen gesang des männchens nachzuahmen, während galbula die goldgelbe gefiederfarbe bezeichnet. ähnlich verbindet goldtüte für goldregenpfeifer die goldgrüngelbgefleckte färbung und die flötenden töne. mitunter übertreffen biologische namen sogar die wirklichkeit. kein goldregenpfeifer kann goldregen pfeifen, literarisch freilich doch, und kein zitronenfalter, also schmetterling, zitronen falten.
michel foucault erklärte: »Der Urzustand der Sprache war also keine abgrenzbare Menge von Symbolen und Bildungsregeln, sondern eine unbestimmte Masse von Aussagen, das Rieseln gesagter Dinge: Hinter den Wörtern unseres Wörterbuchs gilt es nicht nach morphologischen Konstanten zu suchen, sondern nach Aussagen, Fragen, Wünschen, Befehlen. Die Wörter sind Bruchstücke von Diskursen, die von ihnen selbst gezeichnet werden, Modalitäten erstarrter und neutralisierter Aussagen.«, giorgio agamben: »So wie die Kinder im Spiel und in der Fabel die mythische Welt − frei vom Ritus − hüten und die divinatorische Praxis in ein Spiel mit dem Zufall, den Weissagungsapparat in einen Kreisel und den Fruchtbarkeitsritus in Ringelreihen verwandeln, so verwandelt die Philologie mythische Namen in Worte und erlöst zugleich die Geschichte von der Chronologie und der Mechanizität. Das, worin sich die starren sprachlichen Fesseln des Schicksals ausdrücken, wird hier zur sprachlichen Substanz der Geschichte. Die kritische Mythologie, die die Philologie der westlichen Kultur in Form eines Wortschatzes indoeuropäischer Wörter wie eine neue Kindheit als Erbe hinterläßt, muß nun in die Hände der Dichtung übergehen.«
viele der helschen gedichte sind, indem sie sprache per schüttelreim mit witz und spott schütteln, sozusagen schüttelgedichte. mittelhochdeutsch schütteln meinte unter anderem erschüttern. man findet bei ihm heiteren sarkasmus und sarkastische heiterkeit. er kann über realitäten lachen, weil er sie durchschaut. »Zum Beispiel weiß ich einiges von dorschen / wer Porscheaktien hält das weiß ich nicht.«, »Auch zwei plagen wuchsen da / polizei und mafia.« manche dieser teils derben texte eines gebildeten plebejers, die an bänkellieder, demokratische volkslieder, kinderverse und die linksalternative kultur der weimarer republik erinnern und auch kalauer nicht scheuen, haben, indem sie standarts und traditionen der lyrik und des liedes improvisierend variieren, etwas jazzartiges. »Es war ein Dr der gern saumag fraß / der brauchte was den wieder auszukacken / So hat nach Ries der Dr Augias / sein land vereint aus zwei getrennten placken / dann einen fluß ins krustesbett gezwängt / den stall 12 klafter voll gekackt und naß- / forsch ausnahméstand übers land verhängt / Das war den blöden medern selbst zu ledern / und Herakles der wird ersoffen sein / Selbst die stymphalen fielen aus den federn / Doc Eisenwart er möge mir verzeihn.« wie viele können, oder wollen, heut noch solche gedichte schreiben?
»Noch dient der wind dem patriarchenkahn / noch überbieten sich gedopt athleten / vertreter aufgeschärft von machtästheten / stehn mikrophon bei fuß potz ibishahn!« dopingmittel und drogen ersetzen die unsterblichkeitstränke. wer olympiaden der neuzeit ohne doping veranstalten will, sollte besser gleich alle mannschaften vorher disqualifizieren. das wirft die frage auf, wie etwa neandertaler ungedopt bei einer olympiade abschneiden würden. die sprintdisziplinen der leichtathletik, zumindest der männer, also jäger, könnten sie wohl nach vergleichsweise kurzem training gewinnen, ebenso speerwurf und weitsprung. beim hürdenlauf wirds schwierig. und stabhochsprung sollten sie gar nicht erst versuchen. kein neandertaler jagt am himmel. wer in ägypten einen ibis tötete, konnte hingerichtet werden. im kult der isis und des wiederbelebten osiris hatte der ibis auferstehungsbedeutungen. bei moses ist er unrein, beim physiologus schlimmer als alle sünder. konrad gesner, der das essen von ibiseiern für lebensgefährlich hielt, meinte später, die ägypter würden diese zerbrechen, da sie fürchteten, aus einem ibisei, das durch das gift der vom ibis verzehrten schlangen entstehe, könne der basilisk hervorkriechen.
wir werden wohl eingestehen müssen, daß die mehrheit der menschen bücher und texte nicht nach literarischen und sprachlichen kriterien beurteilt. leser, die hethiter, meder, stymphalen oder basilisk nicht kennen, sollten sich aber bilden können. denn das aneignen von wissen ist die leichteste der bildungsübungen. wer beispielsweise antiken griechen auf der straße begegnet, kommt schnell mit ihnen ins gespräch, wenn er die perserkriege erwähnt. die nach gold grabenden wolfsoderfuchsgroßen nordindischen ameisen jedoch kennen offenkundig selbst im römischen reich nur wenige. kommen mir menschen aus arabischen ländern entgegen, denke ich, ihren vorfahren verdanken wir größere teile unserer kultur und medizin, das alphabet, die mathematik, die einteilung der zeit nach stunden, die babylonische siebentagewoche, uhren, sofa und matratze, die jakobinermütze, die, ursprünglich eine kopfbedeckung der phryger, durch die mauren nach spanien kam, natron, sirup, sultanine, myrrhe, zucker und kaffee, der anfangs aus dem jemen stammte.
im heutigen fremdenfeindlichen denken wirken vorurteile weiter, die dem römischen begriff der barbaren entsprechen, der zuallererst der unterdrückung und ausplünderung anderer völker diente. friedrich dürrematt läßt in seinem stück »Romulus der Große« den letzten römischen kaiser über rom sagen: »Es kannte die Wahrheit, aber es wählte die Gewalt, es kannte die Menschlichkeit, aber es wählte die Tyrannei. Es hat sich doppelt erniedrigt: vor sich selbst und vor den anderen Völkern, die in seine Macht gegeben waren.« lateinisch barbaria, das ausland, fremde, die barbaren, barbarei, unkultur, roheit, wilde horde und germanien meinte, bezog sich zunächst offenbar aufs land der berber in algerien, tunesien und marokko, ehe es auf andere kulturen übertragen wurde, selbst solche wie die altorientalischen, ägypten, persien oder indien, deren hochkulturelle entwicklung außer frage steht. allerdings meinten manche der antiken autoren mit barbaren nicht vermeintlich unterentwickelte völker und menschen, sondern lediglich fremde und fremdsprachige, die sie nicht sofort verstanden. das dem lateinischen barbarus = ausländisch, fremd, ungebildet, unwissend, wild, grausam, unmanierlich vorausgehende griechische bárbaros bezeichnete nicht griechisch und daher für die griechen unverständlich sprechende und fremd wirkende völker, bedeutete aber auch bereits unkultiviert und roh. daran denk ich manchmal, wenn ich hiesige einheimische höre, die erzählen, sie seien leuten begegnet, die »Ausländisch sprachen«, wie wenn »Ausländisch« eine sprache wäre. michel de montaigne schrieb: »gewöhnlich freilich wird alles als Barbarei bezeichnet, was ungewohnt ist.«, pierre bourdieu: »jedes Volk ist akademisch, wenn es die anderen beurteilt, jedes ist barbarisch, wenn die anderen ihrerseits es beurteilen.«
dummheit, also »dummdenk in denkdummgelee«, beleidigt die gebildeten, bildung die ungebildeten, die dafür rache nehmen, indem sie gebildete menschen verachten und demütigen. denn vermutlich sind bloß ein bis drei prozent aller menschen gebildet. in manchen kleinstädten bekommt man zweifel, ob man überhaupt so viele geistige wesen finden würde. das heißt nicht, daß die anderen unintelligent wären. doch ihnen fehlt das eigenständig kreative, originelle, komplexe und tieflotende denken. bildung ist etwas besonderes und spezielles, das allein geistig begabte menschen täglich brauchen.
als ich einmal aus der haustür meines mietshauses kam und die mitarbeiter einer gerüstbaufirma gerade baugerüste für bevorstehende sanierungsarbeiten am haus aufbauten, sagte ich spontan: »Wenn Sie Bäume nachahmen, müssen Sie aber auch Früchte aufhängen.«, worauf mich zwei arbeitergesichter völlig verständnislos anschauten. affen wissen noch, daß gerüste bäumen ähneln. wahrscheinlich haben bauarbeiter ihrer arbeit gegenüber zu wenig distanz für freie und spielerische assoziationen. das profane leben verlangt halt meist die blindheit der erfahrung. akademische kleingeister, flachdenker und formelkundler, also kleinbürger, entwickeln indes häufig kaum mehr phantasie. die wirklich gebildeten studieren ohnehin vor allem bei sich selbst.
theodor w. adorno erklärte: »Bildung ist nichts anderes als Kultur nach der Seite ihrer subjektiven Zueignung.«, »Daß Halbbildung, aller Aufklärung und verbreiteten Information zum Trotz und mit ihrer Hilfe, zur herrschenden Form des gegenwärtigen Bewußtseins wird – eben das erheischt weiter ausgreifende Theorie.«, »Die ganz angepaßte Gesellschaft ist, woran ihr Begriff geistesgeschichtlich mahnt: bloße darwinistische Naturgeschichte. Sie prämiiert das survival of the fittest. – Erstarrt das Kraftfeld, das Bildung hieß, zu fixierten Kategorien, sei es Geist oder Natur, Souveränität oder Anpassung, so gerät jede einzelne dieser isolierten Kategorien in Widerspruch zu dem von ihr Gemeinten und gibt sich her zur Ideologie, befördert die Rückbildung.«, »Anpassung aber ist unmittelbar das Schema fortschreitender Herrschaft.«, »Wäre die Gesellschaft, als geschlossenes und darum den Subjekten unversöhntes System, durchschaut, so würde sie von den Subjekten, so lange sie noch welche sind, kaum geduldet.«, »Ein Mensch, der sich mit der Welt wie sie ist, a priori identifiziert, wird wenig Anreiz fühlen, sie geistig zu durchdringen und zwischen Wesen und äußerem Schein zu unterscheiden.«, »Halbbildung ist der vom Fetischcharakter der Ware ergriffene Geist.«, »Daß Technik und höherer Lebensstandart ohne weiteres der Bildung dadurch zugute kommen, daß alle von Kulturellem erreicht werden, ist pseudodemokratische Verkäuferideologie.«, »Die Dummheit, mit welcher der Kulturmarkt rechnet, wird durch diesen reproduziert und verstärkt. Frisch-fröhliche Verbreitung von Bildung unter den herrschenden Bedingungen ist unmittelbar eins mit ihrer Vernichtung.«, »Das Halbverstandene und Halberfahrene ist nicht die Vorstufe der Bildung, sondern ihr Todfeind.«, »Der Halbgebildete betreibt Selbsterhaltung ohne Selbst.«, »Bildung braucht Schutz vorm Andrängen der Außenwelt, eine gewisse Schonung des Einzelsubjekts, vielleicht sogar die Lückenhaftigkeit der Vergesellschaftung.« und »wer noch weiß, was ein Gedicht ist, wird schwerlich eine gutbezahlte Stellung als Texter finden.« ein wirklicher dichter will das auch gar nicht.
eine lehrerin erzählte mir einmal, ihre literaturinteressierte tochter habe buchhändlerin werden wollen, worauf ihr eine berufsberaterin sagte, wenn sie sich tatsächlich für literatur interessiere, sei buchhändler nicht der richtige beruf für sie. zwischen bücher verstehen und bücher verkaufen besteht eben ein fundamentaler unterschied. in größeren städten gibts immerhin noch wirkliche buchhändler. das wort »Verkäufer« hingegen wird inzwischen schon als synonym für »Betrüger« und »Lügner« verwendet und womöglich bald zum schimpfwort. oder wählen, wo täuschung und betrug, öffentlich und privat, allgemein üblich werden, die menschen zuletzt diejenigen, die am konsequentesten lügen?
da bleibt man doch, sofern man keine privilegien hat, lieber arm und denkt frei. bei dürrenmatt sagt der bettler akki: »nur wer nichts hat und nichts ist, bleibt unversehrt.« aber vorsicht, brecht persifliert genau dies in seiner »Ballade vom angenehmen Leben«, wobei die mehrfach wiederholte Zeile »Nur wer im Wohlstand lebt, lebt angenehm.« auf villon zurückgeht, der allerdings wirklich armut kannte. catull empfiehlt in der übersetzung von fritz graßhoff ironisch: »Gegen Diebstahl schützt ihr klüglich / euch durch reichen Nichtbesitz.« bei salomo heißts: »Hochmut erniedrigt den Menschen, doch der Demütige kommt zu Ehren.« schön wärs. graßhoff schrieb über könig salomo: »In der Sonne der Weisheit / ist gut zu spazieren. / In der Sonne des Kontos / wirst du nicht frieren.« von jesus ist, wohl mit rückgriff auf salomo, der satz überliefert: »Wer sich selbst erhöht, der wird erniedrigt, und wer sich selbst erniedrigt, der wird erhöht.« über diogenes wurde berichtet: »Einmal beobachtete er, wie die Tempelpriester einen Schatzverwalter abführten, der eine Schale gestohlen hatte, und bemerkte: „Die großen Diebe fangen die kleinen.“« und »Gefragt, weshalb man Bettlern was gibt, Philosophen aber nicht, antwortete er: „Weil man es für möglich hält, selbst einmal lahm oder blind, niemals aber Philosoph zu werden.“«
übertriebener erfolgsdrang ist eher etwas für narzißtische und eitle menschen sowie jene, die sich ihrer sache nicht sicher sind, und zudem ein überbleibsel frühmenschlicher jägerkulturen. souveräne menschen wie hel brauchen äußere anregungen, doch nicht unbedingt äußerliche erfolge. viele ebenfalls begabte leute dagegen, die nach anerkennung, karriere, geld und wohlstand streben, bringen sich, indem sie dem zeitgeist hinterherhecheln, selber um ihre besten fähigkeiten. sie können dann zwar vielleicht zahlreiche etiketten vorweisen, aber wenig substanz. und nicht alle finden die kraft, sich aus solchem wohlstandsunglück zu befreien. nicht wenige verharren sogar lebenslänglich darin.
wer tagtäglich einer entfremdeten arbeit nachgeht und funktionen erfüllen muß, womöglich noch gleichförmige, das heißt eigentlich ein maschinenteil ist, dessen denkvermögen wird auf dauer zwangsläufig niedergedrückt und auch durch kulturelle urlaubsreisen nicht mehr wesentlich aufgerichtet. »Urlaub braucht man nur vom falschen Leben.«, weiß peter sloterdijk, dessen beiläufig pointierendes denken mich mitunter an gedichte von peter rühmkorf erinnert. man könnte das sogar noch weiterdenken. wer ins jenseits reisen kann, benötigt keine urlaubsziele. das hauptproblem der menschen ist, daß sie unter menschen leben müssen. wir dürfen uns nicht von der zeit prägen lassen, in der wir zufällig existieren. denn jede zeit kann eine falsche zeit sein. und die meisten menschen, die allenfalls nach ihrem tod aufwachen, wissen nicht, wann und wo sie leben. »Wofür die Gestorbenen keine Worte fanden, solange sie lebten, / Das können sie dir sagen, da sie tot sind: Die Toten sprechen / Mit feurigen Zungen jenseits der Lebenden Sprache.«, heißts bei t.s. eliot. hel hingegen reist lebend im kopf durch zeiten und räume. das fördert die bildung und ist umweltschonend.
urlaubsreisen sind transformierte nachfolgeformen von völkerwanderungen und kriegszügen. das zeigen auch die wortbedeutungen. mittelhochdeutsch reise bedeutete aufbruch, zug, reise, heereszug, kriegszug, reisen eine reise tun, reisen, vor allem aber einen kriegszug unternehmen, ins feld ziehen, plündern, rauben. reisiger nannte man im mittelalter die berittenen krieger und später landsknechte. reisic meinte, bezogen aufs berittene und bewaffnete kriegsvolk, kriegsbereit, gewappnet, gerüstet sein. die erscheinungsformen der eroberungen und trophäen haben sich durch den tourismus, der zugleich kultiviert, freilich verändert. während der sechziger, siebziger jahre des 20. jahrhunderts war »Tourist« schon mal ein schimpfwort. karl kraus schrieb bereits vor 100 jahren: »Die Fremdenführer, welche Branche immer sie angehören mögen, der Kultur oder dem Gastwirtgewerbe schlechthin, wechseln; die Fremden bleiben dieselben.« ratschlag für touristen: wer nichts vertieft, muß sich auch nicht verbreiten.
der flüchtling will der not entkommen, der tourist sich selber wichtig vorkommen. als ägyptische terroristen 1997 nahe der tempelanlagen von luxor 58 westliche touristen erschossen, dachten andere europäer und nordamerikaner, die einige hundert meter entfernt standen und die ermordungen beobachteten, man würde dort einen spielfilm drehen und das schießen gehöre zur filmszene. die touristen verwechselten das reale mit dem inszenierten, während selbstmordattentäter, und ähnlich amokläufer, beides genau umgekehrt vertauschen. und irgendwie passen diese irrtümer aufgrund ihrer seitenverkehrheit sogar zueinander.
susan sontag konstatierte: »Es ist heute durchaus an der Tagesordnung, daß Menschen irgendeine Katastrophe, in die sie verwickelt waren ‒ ein Flugzeugunglück, eine Schießerei, einen Bombenanschlag ‒ mit dem Hinweis zu beschreiben suchen, alles sei „wie ein Film“ gewesen.«, »Wie Schußwaffen und Autos sind auch Kameras Wunschmaschinen, deren Benutzung süchtig macht.«, »Das Fotografieren hat eine chronisch voyeuristische Beziehung zur Welt geschaffen, die die Bedeutung aller Ereignisse einebnet.« und »Eine Pseudovertrautheit mit dem Entsetzlichen verstärkt die Entfremdung, macht uns im wirklichen Leben weniger reaktionsfähig.«, giorgio agamben: »Heute aber wissen wir, daß es zur Zerstörung der Erfahrung keinerlei Katastrophe bedarf und daß die friedliche Alltagsexistenz in einer Großstadt zu diesem Zweck vollkommen genügt. Denn der Alltag des zeitgenössischen Menschen enthält fast nichts mehr, das in Erfahrung übersetzbar wäre.«, »Don Quijote, das alte Subjekt der Erkenntnis, ist verzaubert worden und kann nur Erfahrungen machen, ohne sie je zu haben. An seiner Seite ist Sancho Pansa, das alte Subjekt der Erfahrung, das nur Erfahrung haben kann, ohne sie je zu machen.«, »Urbanisierte Indianer und Touristen, Hippies und Familienväter sind – ohne daß sie es je zugeben würden – durch die gleiche Enteignung der Erfahrung vereint. Denn sie sind wie jene Figuren aus den Comic strips unserer Kindheit, die so lange im Leeren gehen können, bis sie sich dessen bewußt werden: Wenn sie es bemerken, wenn sie es erfahren, stürzen sie rettungslos in die Tiefe.« und »Die Dichtung antwortet auf die Enteignung der Erfahrung mit der Verwandlung dieser Enteignung in ihren Überlebensgrund, indem das Unerfahrbare zu ihrer normalen Bedingung wird.« mit erfahrung machen meint agamben vor allem ein erleben und wahrnehmen, das den menschen in seinem empfinden und denken vertieft, was nicht geschieht, wenn jemand seinen alltag nur oberflächlich, achtlos, distanziert und abgestumpft erfährt und das erfahrene mehr abwehrt als verinnerlicht.
das agieren der heutigen ich-marionetten, die kaum noch rücksicht auf andere nehmen, weil sie deren interessen und erfahrungen nicht mitdenken, hat konsequenzen weit übers individuelle hinaus. immer mehr menschen werden anonym begraben. und was man toten antut, geschieht stets auch lebenden. sloterdijk sagte in einem gespräch: »Alles, was von jetzt an nicht hinreichend zukunftshellsichtig angelegt ist, wird eines Tages als Beitrag zu der Kollision mit dem finalen Eisberg wahrgenommen werden.« das bild vom eisberg stimmt indes nicht mehr, da die eisberge abtauen und gerade dadurch die katastrophe näherkommt, an der man unsere lebensformen einst messen wird. die kapellen der titanic spielen trotzdem weiter. denn das motto der gegenwart lautet: »Nach uns die Sintflut!« die sumerische sintflut war eine züchtigung der menschen durch die götter, weil erstere sich seit ihrer erschaffung unmäßig vermehrt hatten und lärmten, wodurch die unsterblichen nicht mehr ruhig auf erden schlafen konnten. doch dann tobte die sintflut ungeplant heftig und die götter selbst mußten an den himmel fliehen, wo sie seither leben.
will man die situation der menschheit beschreiben, so ist auch das bild eines flugzeugs, siehe die »himmelfahrtshauptmannsmaschine«, oder raumschiffs zutreffend, das aktuell zwar weiter fliegt, aber nie mehr weich landen kann. die moderne welt, die ihre fortschritte in abgründe hinein steuert, wird ihre lebensgrundlagen am ende durch ihr ideell unkontrollierbar gewordenes entwicklungstempo zerstören, nachdem sie zuvor womöglich noch blutige zwanghafte rituale dagegen mobilisiert hat. apokalyptiker, die dies voraussehen und davor warnen, sind eigentlich meist idealisten und utopisten. je weniger wir ideelles positiv fassen, umso mehr muß es negativ formuliert werden.
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Weiterführend →
Eine Würdigung von HEL findet sich hier. Eine faszinierend langer Briefwechsel zwischen Ulrich Bergmann und HEL findet sich hier. Eine Hörprobe des Autors findet sich auf MetaPhon.