Wenn ich träumte, fiel ich aus dem Zeitlupentempo meines wachen Lebens. In den rasenden Bildern der Nacht überholte ich mich, man kann sagen, am Ende meines Traums stand ich am Ziel und wartete auf mich selbst, und dann sah ich zu, wie mich das Leben ins Ziel trieb. Aber was war das Ziel?
Eines Tages erlebte ich eine schreckliche Nacht. Ich kam nicht zum Schlaf, und der Schlaf kam nicht zu mir, ich wälzte mich von einer Seite auf die andere, und das ging so lange, dass der Traum vor dem Schlaf kam.
Auf einem Waldweg, in den das Licht hart einschlägt wie ein Blitz, der erstarrt, stehen nebeneinander zwei Männer. Der eine schaut in die eine, der andere in die andere Richtung des Weges. Sie reden miteinander, sie kennen sich, denke ich, aber ich verstehe kein Wort. Dann ist es wieder still. Der Blitz steht vor dem Donner, die Schatten sind stumm. Der Mann mit den schwarzen Haaren trägt eine helle Uniform ohne alle Abzeichen, er ist schon etwas alt, aber kräftig, er steht fest auf dem Weg wie in einem Bett, in dem er sich aufrichtet. Ich sehe in sein Gesicht, und längst weiß ich, dieser Mann ist Stalin, ich kann es nicht glauben, aber ich sehe es. Den anderen Mann sehe ich nur von hinten, er ist jünger und zierlicher, er hat keine schwarzen Haare, er trägt einfache Kleidung, Hose und Hemd. Ich weiß, was der junge Mann vorhat, ich sehe, wie er seinen spitzen Arm heftig in Stalins Rippen stößt. Stalin steht fest, sein Gesicht bleibt unbewegt, die Augen blicken traurig und ernst, und doch gehorcht er, er dreht sich um und folgt dem jungen Mann zum Rand des Waldes.
Das Licht wächst.
Der junge Mann öffnet die Tür einer schwarzen Holzkammer, schiebt Stalin durch die Tür, und beide verschwinden.
Das Licht bleibt vor der Kammer.
Es ist so leise in der dunklen Kammer! Ich spüre mein Herz, wie es sich bewegt, wie ein schwerer Hammer, der mich schlägt.
Da kommt Stalin allein aus der Kammer zurück, er erreicht mit langsamen Schritten den Weg und bleibt stehen. Ich schaue auf die helle Uniform, ich kann gar nicht woanders hinschauen, die Schläge pochen schwer. Stalin sieht mich an, fühle ich, ich muss auf sein Herz starren, die helle Uniform, auf die das Licht fällt. Ich will schlafen, aber ich darf nicht. Nun sieht er die kleinen Punkte auf der Uniformjacke, es werden immer mehr, ein ganzer roter Sternenhimmel. Stalin redet. Redet er zu mir? Ich spüre seine Stiche in meinem Kopf. Ich will schlafen, es geht nicht. Er sieht mich an wie mein Vater.
Das Licht geht aus.
Die Erde schluckt alle Farben, der Ton ist wieder da. Ich höre die vielen kleinen dumpfen Laute, sie werden lauter und immer mehr, schwellen an zum lauten Gewitter, das in meine Ohren sticht.
Da fällt aus dem Himmel ein riesiger Eiserner Vorhang herunter, und auf meiner Seite wird es wieder hell.
Ich sitze auf dem Rücksitz einer schwarzen Limousine, das Dach des Wagens ist aufgeschlagen, der blaue Himmel über mir.
Der junge Mann, der in der Kammer war, steigt vorn ein und lenkt den Wagen, der jetzt langsam anfährt, einen steilen Weg hinab. Der Weg ist hell und frei, ich sitze hinten, vor mir der Fahrer, ich schaue ins weite Land. Der Wagen wird schnell, die Welt rennt weg, die Zeit fliegt vorbei, und im Tal sehe ich das Paradies. Da dreht sich der Fahrer mit einem Ruck zu mir um und lässt den Lenker los, der Wagen rast weiter abwärts, der Fahrer schaut mich lächelnd an. Lacht er mich aus? Aber nun fährt ein Schrecken in meine Augen, ich sehe mich an – der Fahrer bin ich!
Dann wache ich auf.
Ich bin wieder zu mir gekommen, dachte ich. Aber was ist mein Ziel?
Erst die Theorie entscheidet, was beobachtet werden kann.
***
Kritische Körper von Ulrich Bergmann, Pop Verlag Ludwigsburg, 2006
Weiterführend → Lesen Sie auch zum Zyklus Kritische Körper den Essay von Holger Benkel.