joanna lisiak, die sonst lyrik, kurzprosa, dramatik, hörspiele und essays schreibt, verknüpft in ihren »Wederendungen« redewendungen zu miniaturen, die aphorismen, sentenzen, maximen oder epigrammen ähneln. aphorismen können zu sprichwörtern und redewendungen werden. man denke an aphoristische gedanken von salomo und jesus über georg christoph lichtenberg, jean paul, novalis, friedrich schlegel, arthur schopenhauer und friedrich nietzsche bis hin zu karl kraus, egon friedell, walter benjamin oder emile m. cioran. aphoristiker nutzen selbst sprichwörtliche ausdrücke. von paul éluard und benjamin péret gibt es das buch »152 Sprichwörter auf den neuesten Stand gebracht.«
aus dem alttestamentlichen »Buch der Sprichwörter« stammen etwa »Hochmut kommt vor dem Fall.« oder »Hat dein Feind Hunger, gib ihm zu essen, / hat er Durst, gib ihm zu trinken.« manche der spruchweisheiten, die salomo zugeschrieben werden, thematisieren die bildung: »Nehmt lieber Bildung an als Silber, lieber Verständnis als erlesenes Gold!«, »Der Reiche hält sich selbst für klug, / doch ein verständiger Armer durchschaut ihn.«, »Der Tor hält sein eigenes Urteil für richtig, / der Weise aber hört auf Rat.«, »Der Unerfahrene traut jedem Wort, / der Kluge achtet auf jeden Schritt.«, »Ein tiefes Wasser sind die Pläne im Herzen der Menschen, / doch der Verständige schöpft es herauf.«, »Wer Verstand erwirbt, liebt sich selbst, / wer Einsicht bewahrt, findet sein Glück.«, »Die Lehre des Weisen ist ein Lebensquell, / um den Schlingen des Todes zu entgehen.«, »Der Geist des Menschen überwindet die Krankheit, / doch einen zerschlagenen Geist, wer kann den aufrichten?« wollen wir den ratschlägen bei salomo, die ein grundvertrauen vermitteln, daß denken im leben helfen könne, also folgen, indem wir sie mit dem reflektierenden und relativierenden modernen europäischen bewußtsein ergänzen.
wer die literarischen techniken von joanna lisiak erkundet, denkt auch über arten der wahrnehmung und des denkens nach. aus redewendungen, die sich bei ihr wie mit einer klebemontage verbunden berühren, entstehen, durch verschmelzung und zusammenprall, neue sinnzusammenhänge, symbiosen und kontraste sowie paradoxe verfremdungen. paradoxien weisen die pfade zur ganzheit. das wahrnehmen von gegensätzen und differenzen, in denen man nicht verharrt und die man nicht verhärtet, ermöglicht sublimierungen des ambivalenten. peter sloterdijk vermerkte: »Wo die moderne Welt wirklich modern wird, nimmt sie die Form eines Experiments über die Zulassung von Ambivalenzen an.«
englisch saw = sprichwort, spruch, redensart, maxime ist verwandt mit deutsch sehen und sagen. in ihren montagen schafft und formuliert die autorin, indem sie ungewöhnliche sehweisen einsetzt und erzeugt, verblüffende denkbilder, also bildhafte erkenntnisse, die hinter und unter die dinge und oberflächen schauen lassen und den leser anregen, über bekanntes anders und genauer nachzudenken. auf diese weise machen die »Wederendungen« denkangebote und wirken dialogisch, so mit »den lauf der dinge / zwischen den zeilen / lesen«, die orakel von delphi waren mehrdeutig, weil sie das nachdenken der ratsuchenden über die folgen ihres handelns herausfordern sollten, »die graue maus / war eigentlich / ein gutmensch«, »durch die blume / kam sie / ins reine«, »das gelbe vom ei / in die haare schmieren / und schwamm drüber«, »den buckel / runterrutschen und / kein haar / krümmen« oder »erste geige spielen / und auf die schiefe / ebene geraten«, die auf abwege führt. paul klee, der maler, zeichner, karikaturist, kunstphilosoph, kunsttheoretiker, kunstlehrer, lyriker, musiker und musikkritiker war und musikalische prinzipien und strukturen auf bildnerische bezog und umgekehrt, nannte die violine eine persönlichkeit und die freiesten kompositionen »mehr Übervioline als Violine«.
»wie aus dem ei / geschält gingen sie / baden«, »rückgrat zeigen gesund / wie ein fisch / im wasser«, »von kopf bis fuß / zappeln lassen«, »auf der ganzen linie / den braten riechen«, »mit den waffen einer frau / tanz / auf dem vulkan«, »der funke / im pulverfaß / brachte licht / ins dunkel«, »der springende punkt ist der wunde«, »er lebte hinter / dem mond die sonne / brachte es an den tag«, »im boden versunken / steckte er noch / in den kinderschuhen«, »sie kochte vor / wut selbst / ist die frau«, »die katze / aus dem sack / unter den tisch kehren« und »erst drehte er / däumchen dann / im grab / sich um«. die abfolge dieser »Wederendungen« ergibt eine handlung, die mich spontan an die textbildgeschichte »Die Scheuche« von kurt schwitters erinnert. wer baden geht, erlebt sprichwörtlich einen wolkenbruch. der tanz auf dem vulkan kann einer umwälzung vorausgehn. der springende punkt ist, schon bei aristoteles, jener, aus dem das leben entsteht. die redewendung »Die Katze im Sack kaufen« bezieht sich darauf, daß verkäufer früher öfter eine katze anstelle eines ferkels, hasen oder kaninchens in den sack steckten, um den käufer zu betrügen. die heutigen verkäufer haben andere tricks.
im klugen vorwort zum buch heißt es: »Ähnlich dem Kubismus in der Kunst, zerlegt und baut die Autorin Ausdrücke und Bilder zu neuen Bedeutungen und Metaphern zusammen und ermöglicht polyvalente Perspektiven auf vermeintliche Dèjà-Vus.« »Die Redensarten haben versagt, so bleibt nur der Weg in die innere Demontage und Sprengung der konditionierten Sprechhaltungen: heraus aus den Festlegungen, hinein in die Polysemie, das turbulente Spiel der Mehrdeutigkeiten.«, schrieb matthias hagedorn, ein geistesbruder, »eine dichterische Sprache ist immer eine erkundende Sprache.«, ezra pound. die schlaglichtform der verknappung regt zum nachdenken an und fördert die lust am denken. man sollte beim lesen also innehalten und das verfremdende der bilder und gedanken wahrnehmen und bedenken.
durch perspektivwechsel, bei denen die autorin nicht nur symmetrisch und linear, sondern quer und um die ecken schaut und denkt, kann sie sachverhalte und denkweisen, die sie aufruft und, im kopf, per blick, mit ihren augenmuskeln, umwendet, entweder unterwandert und infrage stellen oder differenzierender und relativierender betrachten als redewenderisch üblich. mit, teilweise winzigen, sensiblen bewegungen, drehungen und übergängen verändert sie, manchmal selber staunend, wertungen und wertigkeiten. und zu dieser genauigkeit der beobachtung gehört auch lebensklugheit. das spielerische durchschauen von wirklichkeiten macht gelassen und gelassenheit läßt spielerisch erkennen. gerade weil sie viele dinge durchschaut, kann sie lebenszugewandt bleiben. »Während der Ritus Ereignisse in Strukturen verwandelt, verwandelt das Spiel Strukturen in Ereignisse.«, erkannte giorgio agamben.
wer sehen will, muß konventionelle urteile überwinden, ja darf mitunter fast nicht wissen, was er sieht, damit der eigene blick frei wird. maurice merleau-ponty erklärte: »Es ist offenbar ein Gesetz der Kultur, daß sie immer nur auf Umwegen fortschreitet.«, roland barthes: »Der Intellektuelle kann die herrschenden Mächte nicht direkt angreifen, aber er kann neue Diskursstile injizieren, um die Verhältnisse in Bewegung zu versetzen.« und »Der Sinn läßt sich nicht frontal angreifen, durch die bloße Behauptung seines Gegenteils; man muß schwindeln, entwenden, ablisten, das heißt äußerstenfalls parodieren oder, noch besser, simulieren.« joanna lisiak, die durch ihr assoziatives und verfremdendes wahrnehmen von vornherein einen indirekten blick hat, der in die montagen der redewendungen einfließt, nutzt dafür spielerisch leicht, was manchen denkbildern etwas schwebendes gibt, virtuos, und nicht selten ironisch, komik gehört zum reflexiven denken, das heißt schlau, frech, intuitiv und listig wie die füchsin, also lisica, sinnliche und sinnvolle bedeutungen der worte. bereits die sumerer nannten den fuchs listig. list kann eine methode der magie, des zaubers und der verwandlung sein, und eine verhaltensweise unterworfener und benachteiligter völker, bevölkerungsgruppen und menschen. zugleich war etwa der aberglaube in städten und regionen mit früh ausgeprägten handwerkerundhändlertraditionen oft auffallend erfindungsundtrickreich.
das denken der joanna lisiak, das der fingerfertigkeit von musikern gleicht, ist jugendlich frisch, beweglich und gelenkig. dem entspricht die verwandtschaft von polnisch obracać = (um)wenden, (um)drehen und tschechisch obratný = gewandt, gelenkig, wendig, englisch to turn = (herum)drehen, (um)wenden, rotieren, verwandeln und deutsch turnen oder portugiesisch virar = (um)drehen, (um)wenden und viravolta = wendung, umschwung, überschlag. kehre nennt man den sprung oder abschwung am turngerät. und kehren meint ebenfalls wenden, siehe deutsch heimkehr, umkehr, kehrtmachen, kehrseite und armenisch cir = kreis. in der mystik bezeichnete einkehren das sich versenken. lateinisch vertere, verwandt mit kroatisch vretèno = spindel, bedeutet (um)wenden, (um)drehen, kreisen, sich bewegen, verwandeln, umpflügen, umstürzen, einlenken, vertex wirbel(wind), strudel, feuersäule, drehpunkt des himmels, pol, versus reihe, linie, zeile, dichtung, tanzschritt, französisch vif lebendig, lebhaft, rege, munter, aufgeweckt, geistig beweglich, wach, frisch, vif-argent quecksilber, wörtlich lebendiges silber. mit queck verwandte worte sind niederdeutsch quick = lebendig, frisch, deutsch quicklebendig, damits auch jeder versteht, verquicken, ein begriff der alchimie, und keck. mittelniederdeutsch vorquicken hieß beleben, auferwecken, erfrischen, eigentlich flüssig machen. all diese worte können techniken, formen, strukturen und elemente denkerischer und künstlerischer kreativität bezeichnen. das englische und französische expression für redensart hat etwas dynamisches, das dem blitzartigen der erkenntnis nahekommt. die lisiakschen einfälle, die verstreute funken des geistes, der faden der gedanken ist ein funkenflug, einfangen und ineinander aufheben, sind feuerwerke, sinnlich und seelisch vulkanische zumal. und man sieht und spürt, indem das denken in empfinden übergeht und umgekehrt, den menschen, und die frau, darin, davor und dahinter.
joanna lisiak, 1971 in poznań, im polnischen sind betonungszeichen wichtig, geboren und seit 1981 in der schweiz lebend, bei diesem lebensweg denke ich an krzysztof kieślowskis film »Die zwei Leben der Veronika«, die geschichte der parallelexistenz einer jungen sängerin in kraków und paris, legte ins buchexemplar der »Wederendungen« eine karte mit dem bild einer acht, die das unendliche, universelle, umfassende sowie ewigen kreislauf, neuschöpfung und glücklichen anfang symbolisiert. der geist wächst, wie viele pflanzen, in spiralen.
vermutlich hat die autorin bei der montage von redewendungen, die gedanken und metaphern verbindet, mitunter bildhafte formen vor augen oder im hinterkopf, die durch beobachtungen der natur angeregt sind, auch der des eigenen körpers, oder von bildender kunst. man denkt beim lesen etwa an paul klee, der gedichte in einem skizzenhaft verknappenden stil schrieb, den man bei bildenden künstlern öfter findet, hans arp, der ebenfalls dichter, maler, grafiker und bildhauer war, die somit beide bild und wort verbanden, lyonel feininger oder wassili kandinsky. arp nannte seine collagen »Dichtung mit bildnerischen Mitteln«, weshalb man seine gedichte collagen oder montagen mit dichterischen mitteln nennen könnte.
wenden ist mit wandeln und wandern verwandt. joanna lisiak wandert wie in einer ausstellung an redewendungen, ich schrieb einmal versehentlich redewerdungen, entlang, die sie betrachtet, das heißt zugleich bildhaft und sprachlich aufnimmt, und verwandelt sie durch eigene verwendung. viele der »Wederendungen« haben etwas fotografisches oder filmschnittartiges, das den moment des erkennens festhält, sind also denkfotografien oder denkfilme und damit, zumal durch die perspektivwechsel, dem fotografischen und filmischen noch näher als der malerei und dem theater.
fotografien, die zwischen malerei und film stehen, sind, wie die »Wederendungen«, miniaturen. besonders wird ein foto, wenn es das sehen erweitert. rudolf arnheim bemerkte, daß fotografen die entfremdung der realwelt gegenüber körperlich überwänden, ohne die geistige distanz aufzugeben, roland barthes, letzten endes sei die fotografie nicht dann subversiv, wenn sie erschrecke, aufreize oder gar stigmatisiere, sondern wenn sie nachdenklich mache. manche fotos erstaunen, überraschen, verblüffen oder überrumpeln, also frappieren, den betrachter allerdings. altfranzösisch fraper bedeutete auch sich stürzen, hervorschießen. die fotografie, die vom expressiven moment lebt und details aufwertet, verlangt ein gespür für den richtigen augenblick.
roland barthes behauptete, daß alle fotografien der welt ein labyrinth bildeten. vielleicht können in den labyrinthen der modernen welt, die urwaldhaft wirken, überhaupt nur noch momentaufnahmen etwas transparent machen. dafür braucht der betrachter, damit das erkannte ihn in den tiefen seines denkens und empfindens erreicht, aber auch die gabe der muße und der konzentration. wenn joanna lisiak in ihren texten fotografische techniken nutzt, hat sie zudem den vorteil, daß sie sagen kann, was sie sieht und zeigt.
durch das aufeinanderprallen von redewendungen bekommen die »Wederendungen« etwas filmisch dynamisches. die fotografie ist, indem filme bewegte bilder sind, die mutter des films. die kubistische malerei hat experimentelle filmregisseure angeregt. ezra pound schrieb: »Eine filmische Form kann, intellektuell gesehen, durchaus eine bessere Form sein als eine Bühnenform.« durch filmtechniken lassen sich abläufe leichter beschleunigen. und der filmschnitt schafft härtere kontraste. natürlich gibts auch filmisches theater. episodische literatur eignet sich besonders gut zur verfilmung. siegfried kracauer forderte: »jede Filmerzählung sollte so geschnitten werden, daß sie sich nicht nur einfach darauf beschränkt, die Story zu verbildlichen, sondern sich auch von ihr abkehrt, den dargestellten Objekten zu, damit diese in ihrer suggestiven Unbestimmbarkeit erscheinen können.«
paul klee sprach von telegrafischen befehlen des gehirns. »die feierliche Erstarrung einer Pose, die in der Zeit unmöglich festzuhalten ist; genau diese regungslose Steigerung des Ungreifbaren – die man im Kino später Photogenienennen wird – ist der Punkt, an dem die Kunst beginnt.«, schrieb barthes, »Der wahre Vorläufer des kinematographischen Tons ist nicht das Grammophon, sondern die Radiomontage.« merleau-ponty. arnheim stellte 1932 fest: »Funk lehrt besser als Film, weil er sich des Wortes, nicht des Bildes bedient.« und »Der Rundfunk könnte viel dazu beitragen, den für unsere Zeit so blamablen Gegensatz zwischen Kulturmenschen und Unkulturmenschen zu überbrücken.« joanna lisiak war rundfunkredakteurinundmoderatorin, was dem dialogischen ihrer texte zugute kommt, da sie ansprechpartner mitdenken kann. im kreativen moment der entstehung literarischer texte muß man, um nicht abgelenkt zu werden, solche theoretischen gedanken freilich ausblenden. wir denken ja auch im traum nicht an die traumtheorie.
wer in mehreren künsten aktiv ist, kann künstlerische techniken von der einen kunst auf die andere übertragen. auch als jazzsängerin gewinnt joanna lisiak freiheiten für ihr denken. denn gesang verlangt gleichfalls beweglichkeit, der stimme wie des körpers, sowie die interpretation und variation von standarts, das heißt verwandlungsfähigkeit und improvisationsvermögen. »Die meisten Künste erzielen ihre Wirkung, indem sie einen feststehenden und einen variablen Faktor benutzen.«, erkannte pound.
literarisch arbeitet sie natürlich vor allem mit der sprache, wobei ihr der spielerisch intuitive und zugleich analytisch erkennende umgang mit worten so natürlich ist wie das atmen. sie kann spielerisch denken und denkerisch spielen, da das reflektieren zu ihrer geistigen natur gehört. pound postulierte: »Gutes Schreiben ist gleichlaufend mit dem Denken des Schreibenden, es hat die Gedankenform, die Form der Art und Weise, in der der Mensch sein Denken erfährt.«, merleau-ponty: »Denken heißt nicht, Gegenstände des Denkens zu besitzen, sondern durch sie einen Bereich des zu Denkenden, den wir also noch nicht denken, zu umschreiben.«, »Die Intuition ist die Erfahrung eines in den Dingen erstarrten Denkens, das dann erweckt wird, wenn sich mein Denken ihm nähert.« und »Man ertappt sich manchmal dabei, davon zu träumen, was die Kultur, das literarische Leben, die geistige Ausbildung sein könnten, wenn alle, die daran teilhaben, ein für allemal alle Idole verwürfen und sich dem Glück, gemeinsam nachzudenken, hingäben.«
»Wörter hatten für mich immer etwas Frisches an sich, sie bewahren ein Geheimnis. Ich gehe mit ihnen um wie ein Kind mit seinen Bausteinen. Ich betaste und biege sie, als wären sie Skulpturen.«, bemerkte hans arp, »Wer sein Kind nicht anfassen lehrt, lehrt es befehlen.« und »Zucht ist Ordnung ohne Einheit.« der niederländische schuster, dichter und maler evert rinsema, der zum umfeld der dadaisten gehörte. heraklit verglich die weltbildende kraft mit einem kind, das spielend steine hin und her setzt und sandhaufen errichtet und wieder zerstört. friedrich nietzsche erklärte: »so, wie das Kind und der Künstler spielt, spielt das ewig lebendige Feuer, baut auf und zerstört, in Unschuld – und dieses Spiel spielt der Äon mit sich.« wir reden hier vom zentrum der kreativität selbst, die, sozusagen inwendig, im vulkanischen inneren der menschlichen seele entsteht. das unbewußte und unterbewußte, das man schöpferisch nutzt, ist den eigenen intentionen meist näher als das bewußte, das von kindheit an manipuliert wird, weshalb die kreativen energien vor allem aus dem seeleninnenraum des menschen kommen, der sich in sich zurückgezogen, bewahrt und entwickelt hat.
alexander świętochowski kritisierte: »Die kleinsten Kritiker gehen die größten Geister an. Sie dünken sich höher als der Berg, den sie besteigen und bespucken.«, kurt schwitters: »Das ist die Tragik aller Kritiker, sie sehen Fehler, statt Kunst.« heute könnte man hinzufügen, sie betreiben oft marketing, statt aufklärung. wir folgen längst der zitattechnik von jean-luc godard, der aus der schweiz nach paris kam. es hängt eben alles zusammen, wie beim klima. wer über literatur nicht richten, sondern sie vermitteln will, sollte dafür schöpferische gaben nutzen. »Essayist ist man, weil man ein Kopfmensch ist.«, wußte roland barthes, und: »Die Wissenschaft von der Literatur ist die Literatur.«
auch essays, die denken in bewegung zeigen, können literarisch sein, wenn sie kunstvoll gedanken verknüpfen. theodor w. adorno sagte seinen studenten, die sich wohl beklagt hatten, daß er ihnen nicht genügend merksätze bietet: »Ich bin ja gar kein so böser Mensch, daß ich die Definitionen hassen und verwerfen würde, ich glaube nur, daß die Definitionen viel eher ihren Ort in der Bewegung des Gedankens, als sein terminus ad quem haben, als daß sie dem Gedanken vorangestellt werden dürfen.«
womöglich hat joanna lisiak manche ihrer einfälle sogar beim einkaufen, wo ihr gehirn, obwohl frauen beim einkauf wohl mehr nachdenken als männer, nicht ausgelastet ist und selbst anfängt zu denken. miniaturen schreibt man sowieso meist wie ein vogel, der singt und neue töne entdeckt. bei lesungen sage ich, wenn ich gefragt werde, wann und wie meine einfälle entstünden, daß das gute in kreativen momenten, die man nicht erzwingen könne, oft von allein komme, und ergänze, man müsse dafür die wirklichkeit wach wahrnehmen und beständig seinen horizont erweitern, etwa durch bücher und filme, das heißt gehirn und seele mit ideen, materialien, motiven und stoffen versorgen, so daß sie damit arbeiten können. außerdem sollte man intensiv selber denken und permanent die sprache hinterfragen.
»Sinnlichkeit / ist die Biegsamkeit des Fleisches / unter einem höheren Zwang.«, meinte paul klee, »Künstler sind die Fühlhörner der Gattung.« ezra pound. sich hingeben können und zugleich kühlen kopf bewahren, das ist eine wanderung am kraterrand von körper, geist und seele. lyonel feininger schrieb über paul klee: »Ein zeitloser Mensch von unbestimmbarem Alter, dem aber, wie dem aufmerkend wachen Kinde, alle Erlebnisse der Sinne, des Auges, des Ohrs, des Tastens und Schmeckens ewig fesselnd und neu waren. Ein reifer Mensch, der seinem sehr klaren Verstand nicht erlaubte, die Kontrolle zu verlieren.«
wenn joanna lisiak durch verknappungen verdichtet, folgt sie dem rat von klee: »Reduktion ! / Man will mehr sagen / als die Natur / und macht / den unmöglichen Fehler, / es mit mehr Mitteln / sagen zu wollen als sie, / anstatt mit weniger Mitteln.«, stanisław lec: »Faßt euch kurz, die Welt ist übervölkert mit Wörtern.«, oder ezra pound: »Die erste und einfachste Probe, auf die der Leser einen Autor stellen kann, besteht in der Ausschau nach Worten, die keine Funktion haben; die nichts zum Sinn beisteuern ODER vom HAUPT-Faktor des Sinnes auf Faktoren von nebensächlicher Bedeutung ablenken.« literatur sollte weder verharmlosend unverbindlich sein noch grob vereinfachend, sondern prägnant und genau. gerade weil sie ein reichhaltiges material hat, kann sie vieles knapp benennen. und dabei verkürzt sie nicht, da sie vielschichtig denkt. wer etwas beiläufig zu sagen vermag, muß nicht auftrumpfen.
»Bei all dieser funkelnden Vielflächigkeit bleiben Lisiaks Texte stets überlegt inszeniert und folgen einer Rhetorik, die einzelne Beobachtungen zur Realität und ihre Idiosynkrasien nur so lange ins Rampenlicht stellt, wie es braucht, um realistisch klare Vorstellungen zu erzeugen, die ins Subjektive kippen.« und »Diese Einfachheit, die zum Kern der Sache vordringt, eine Idee komprimiert, verdichtet Lisiak zu einer Poesie des Alltags, sie mischt sich ein, kommentiert, stellt Fragen, unaufdringlich und schlicht, aber durchaus scharfzüngig. Mit der Kürze entsteht eine Konzentration auf das Elementare.«, analysierte matthias hagedorn. wenn literatur fragen aufwirft, sollte man einen einwand von roland barthes mitdenken: »das Schreiben kann das Wahre über die Sprache sagen, aber nicht das Wahre über das Wirkliche.«, den er an anderer stelle relativierte: »Die Sprache des Schriftstellers hat nicht die Aufgabe, das Reale darzustellen, sondern es zu bedeuten«.
pound erklärte: »Eine Definition der Schönheit ist: die Stimmigkeit.«, klee, der darauf hinwies, daß jeder höhere organismus eine »Synthese der Verschiedenheiten« sei, »Die Individualität ist nichts Elementares, / sondern ein Organismus. / Elementare Dinge unterschiedlicher Art / wohnen da unteilbar zusammen. / Wenn man teilen wollte, / stürben die Teile ab.« das ich entwickelt sich in seinem lebenslauf durch die wirkenden potenzen der kreativität, indem es, in permanenten verwandlungen, immer wieder neue facetten bildet, wie dies hans arps im gedicht »Sekundenzeiger« anhand einer uhr beschrieb: »daß ich als ich / ein und zwei ist / daß ich als ich / drei und vier ist / daß ich als ich / wieviel zeigt sie / daß ich als ich / tickt und tackt sie / daß ich als ich / fünf und sechs ist / daß ich als ich / sieben acht ist / daß ich als ich / wenn sie steht sie / daß ich als ich / wenn sie geht sie / daß ich als ich / neun und zehn ist / daß ich als ich / elf und zwölf ist.« die »wirkenden potenzen der kreativität« spielt auf die sefiroth an, die emanationen des göttlichen in der »Kabbala«, die mit zahlenundbuchstabenmagie verbunden sind. walter benjamin postulierte, man solle religiöse begriffe, um ihre substanzen zu bewahren, verweltlichen.
bei joanna lisiak schaffen vernetzungen des ähnlichen und verknüpfungen von ungleichem, die hier nie bloß dekorativ bleiben, assoziativ korrespondenzen und variationen, die fenster ins unbekannte nach innen und außen öffnen und zu einem ganzheitlichen und komplexen denken und fühlen führen, oder aus diesem erwachsen. »ich träumte von Bildern, die unzählige Bilder in sich vereinigten.« und »ich träume von innen und außen, von oben und / unten, von hier und dort, von heute und morgen. // Und innen, außen, oben, unten, hier, dort, heute, / morgen vermengen sich, verweben sich, lösen sich auf. // Dieses Aufheben der Grenzen ist der Weg, der zum Wesentlichen führt.«, schrieb arp, »Was artet einsam und allein? / es ist die Pflanze Elfenbein.« klee. assimilation, im sinne von anverwandlung und verschmelzung, ist ein zentraler begriff bei klee. metaphern können verbinden, was in der realität nur vereinzelt existiert. die symbiosen in der montage von redewendungen erzeugen auf der bedeutungsebene wirkungen wie collagen. wo die autorin assimiliert, ist neben der emotionalen auch die geistige sympathie des lesers gefragt, die man nach meiner beobachtung besonders häufig bei traumatisierten menschen findet, wo sie telepathisch wirken kann. man versteht dann menschen, die man gar nicht kennt, oder redet sogar mit ihnen, ja sie stellen einem fragen.
susan sontag, schon desillusionierter als die wegbereiter der moderne, warnte mit ihrem hellen verstand vor der macht der bilder: »Die überkommene Vorstellung der Wirksamkeit von Bildern setzt voraus, daß Bilder die Eigenschaften der realen Gegenstände besitzen. Wir indessen neigen dazu, den realen Gegenständen die Qualitäten eines Bildes zuzuschreiben.«, »Eine Erfahrung zu machen, wird schließlich identisch damit, ein Foto zu machen, und an einem öffentlichen Ereignis teilzunehmen, wird in zunehmendem Maß gleichbedeutend damit, sich Fotos davon anzusehen.«, »An die Stelle des gesellschaftlichen Wandels tritt ein Wandel der Bilder.«
»Es geht darum zu lernen, wie man das, was unser ist, als fremd, und das, was uns fremd war, als unsriges betrachtet.« und »Wir müssen die Alternative, nichts vom Subjekt, oder aber nichts vom Objekt verstehen zu können, zu durchbrechen suchen. Wir müssen den Ursprungsort des Gegenstandes im Innersten unserer Erfahrung selbst aufsuchen, das Erscheinen des Seins zu beschreiben und das Paradox zu verstehen versuchen, wie für uns etwas an sich zu sein vermag.«, heißts bei merleau-ponty, der sogar meinte: »Der Schriftsteller selbst kann mit einer neuen, unbekannten Sprache verglichen werden, die sich selbst aufbaut, die neue Ausdrucksmittel erfindet und sich je nach dem eigenen Sinn diversifiziert.«
ein multikulturell angeregtes denken entgegnet auch vorurteilen von menschen, die angehörige anderer völker wie marsmenschen betrachten. für kreativ begabte menschen ist das leben in mehreren sprachen und kulturen, die das denken und schreiben anregen, ein vorteil, der vielfältige kombinationen erlaubt. im vergleich wird wesentliches kenntlich. schließlich erkennt man sich selbst, die gegenwart und seine kultur umso genauer, je mehr anderes man kennt. und wer simultan denkt, kann gut verknappen. anfangs wird zum knappen sprechen auch beigetragen haben, daß joanna lisiak, nachdem sie als kind aus polen in die schweiz gelangt war, in der fremden sprache etwas mit wenigen und genauen worten sagen mußte, um sich verständlich zu machen. roland barthes erkannte: »Es ist etwas ungeheuer Entspannendes, eine Sprache nicht zu verstehen. Das eliminiert alle Vulgarität, alle Dummheit, alle Aggression.« für menschen, die damit umzugehen wissen, sind hindernisse herausfordernd. ich lernte noch auf einer manuellen schreibmaschine, wo jeder schreibfehler ärgerlich sein konnte, weil man dann blätter, die man verschicken wollte, wegwerfen und nochmal von vorn beginnen mußte, fehlerfrei schreiben, was für jüngere menschen, die am computer jeden fehler, wenn sie ihn bemerken, bequem löschen können, viel schwieriger ist.
polen hat eine hochentwickelte tradition des aphoristischen denkens, ja man könnte geradezu sagen, der polnische aphorismus ergänze den polnischen kunstfilm. hier einige beispiele: »Die Philosophie des einen Jahrhunderts ist der gesunde Menschenverstand des nächsten.« (julian tuwin), wenns mal so wär, »Die Rufer in der Wüste hören einander nicht.« (karol irzykowski), manchmal aber doch, »Sage mir, worüber du gelacht, und ich sage dir, wann du gelebt hast.« (jerzy jurandot), »Dummheit ist ansteckend, Verstand wächst sich kaum zur Epidemie aus.« (kazimierz bartoszewicz), »Staaten sind wie Teppiche: Von Zeit zu Zeit sollte man sie ausklopfen.« (henryk sienkiewicz), »Er hatte ein buntes Leben: er wechselte dauernd die Fahnen.« (stanisław jerzy lec) oder »Tilge nicht die Flecken auf der Weste, du weißt nicht, wann du sie noch brauchen kannst.« (alexander ziemny). und nun werden wieder die aphorismushandwerker kommen und behaupten, manche davon seien gar keine aphorismen, wie wenn nicht die originalität das entscheidende wäre. wer mag, kann diese auswahl polnischer aphorismen mit aktuellen ergänzen, und zwar auch solchen von frauen.
wäre joanna lisiak etwas weiter nördlich geboren, könnte man sie eine baltin an den alpen nennen, was ihrem sprachspiel entspräche. man findet bei fast allen schriftstellern, und besonders lyrikern, die landschaften ihrer kindheit. bei meinen lesungen an gymnasien sage ich öfter ironisch, daß schüler, deren söhne oder töchter einmal lyriker werden sollen, was man freilich nicht programmieren kann, diese am besten entweder am meer oder im gebirge aufwachsen lassen sollten. in bergregionen sind auch die märchen und sagen oft origineller als anderswo, wohl weil wälder, berge, gesteine, höhlen und der bergbau etwas geheimnisvolles haben und in besonderer weise die phantasie anregt, und überlieferungen in abgelegenen gegenden länger bewahrt bleiben. ich hatte auf der ebene zwischen elbe und ural, wo auch joanna lisiak aufwuchs, lediglich flachland mit endmoränen. doch ich ahne, warum der flughafen berlin nicht fertig wird. man wartet, bis infolge des klimawandels die ostsee nach berlin vordringt und macht danach aus dem flughafen einen seehafen. dann würde wohl auch poznań seeblick haben. solche sarkastischen und polemischen gedanken, die im spektrum ihrer spielerischen verfremdungstechniken denkbar wären, aber vielleicht eher männlicher art sind, man denke an karl kraus, findet man bei der lisiak nur selten, vermutlich da sie, bei aller expressivität, zugleich ein behutsamer mensch ist. schließlich hat sie auch ein liebevolles verhältnis zur sprache. »ein Lachen (oder ein Lächeln), das nicht zerstört, das ist vielleicht eine gewisse Form der kommenden Kultur.«, hoffte roland barthes. »Wer sollte hoffen, wenn nicht eine Frau?«, schrieb gertrud kolmar. die letzten fundamentalen künstlerischen aufbrüche der westlichen welt fanden vor 100 jahren statt.
ich finde bei joanna lisiak eine gedankenführung, die ich von meinen eigenen aphoristischen gedanken kenne, worin ich, allerdings melancholischer und skeptischer grundiert, etwa denkfiguren früherer zeiten und kulturen auf die gegenwart beziehe, wie in »das synonymwörterbuch vermerkt müßiggänger unter tagedieb. dabei verlangt das eigentliche tagwerk muße.«, »utopien sind ein ewiger kreuzzug der kinder.«, »der messias kann nur wirken, wenn er nicht erscheint.«, »was man früher anpassung nannte, heißt heute flexibilität.«, »modern ist ein synonym für systemkonform geworden.«, »einst hießen die sachzwänge götter.«, »der intellekt hat die seelen der menschen gepflastert wie der asphalt die erde der städte.«, »der regenwald wird durch vernichtung kultiviert.«, »der schlachthof ist die rache der menschen an ihrer eigenen herkunft.«, »bald wird die klimakatastrophe wetterreform heißen.«, »der goldene schuß ersetzt den goldenen schnitt.«, »der engel der geschichte ist ein raubtierkind.«, »wenn die menschheit tatsächlich auf einen abgrund zuläuft, wäre ein hufeisen am fuß eine gute sache.«, »viele phantasiereiche, das paradies inbegriffen, waren ursprünglich todesreiche.«, »jeder zerschnittne brotlaib ist ein kindsmord.«, »feindbilder funktionieren ganz ähnlich wie bomben und raketen.«, »kollektivität bekommt man noch genug im grab, allein schon wegen der maden.« und »am ende sind wir alle auf der ehemaligen erde geboren.«
die »Wederendungen« regen an, ursprünge und herkünfte von redewendungen und sprichwörtern zu erkunden und so, wie die autorin, in die kulturundsprachgeschichte einzutauchen. und das ist gut. denn kulturen, deren zugang zu traditionen und überlieferungen versiegt, mit denen man natürlich immer frei und undogmatisch umgehen sollte, können schnell auch ihre fähigkeiten zur antizipation verlieren, und damit ihr bewußtsein für chancen und gefahren der zukunft. das sprichwort »Wer andern eine Grube gräbt, fällt selbst hinein.«, das in »wer andern / eine grube gräbt / schaut nicht über den / tellerrand hinaus« variiert wird, läßt sich bis zu salomo zurückverfolgen. die entsprechende stelle aus seinen sprichwörtern, die teils auch aus der mündlichen überlieferung stammen dürften und dann sogar älter als 3000 jahre sein könnten, wurde immer wieder neu übersetzt, etwa mit »Wer eine Grube gräbt, fällt selbst hinein, / wer einen Stein hochwälzt, auf den rollt er zurück.« oder »Wer anderen eine Grube gräbt, fällt selbst hinein, und wer mit Steinen wirft, wird selbst getroffen.« joanna lisiak überführt das biblische sprichwort in die alltagskultur.
»besser spatz in der hand / als eine taube / auf dem dach du lieber / schwan« verbindet drei vögel als liebessymbole. in tempeln der aphrodite nisteten heilige sperlinge. sappho beschrieb, wie schöne und schnelle sperlinge die liebesgöttin im goldenen wagen durch die lüfte ziehen. auf darstellungen erhebt sich aphrodite von sperlingen und tauben begleitet in die luft. bei aristophanes reiten liebeshungrige frauen auf sperlingen von der akropolis zu ihren männern hinab.
die taube, besonders die weiße, gehörte zu altorientalischen und antiken liebesehefruchtbarkeitsgeburtsundmuttergöttinnen. vor allem in syrien sind tauben begleiterinnen von liebesgöttinen sowie symbole des liebesbegehrens gewesen. darstellungen zeigen eine taube, die liebesbotschaften zwischen astarte und baal vermittelt. im »Hohelied« wird die geliebte mit der taube verglichen und als taube angesprochen. auch verglich salomo brüste und augen der geliebten mit tauben. aphrodite und venus, in deren tempeln man tauben hielt, wurden mit einem taubengespann fahrend gedacht. in der griechischen kunst findet sich die taube zwischen aphrodite und adonis sitzend, römisch zwischen amor, der sie auch in seiner hand hielt, und psyche. laut aelian konnte sich der verliebte zeus in eine taube verwandeln.
beim schwan ist der wollüstige zeus mitzudenken, der in schwanengestalt leda, oder nemesis, verführt. auch schwäne waren vögel altorientalischer und antiker liebesundfruchtbarkeitsgöttinnen. wie sperling und taube begleiteten sie aphrodite und venus, die oft auf einem schwan reitend dargestellt wurden. apollon entführte die wilde jungfräuliche nymphe und jägerin kyrene in einem goldenen schwanenwagen, den auch eros besaß, der gelegentlich selbst die gestalt eines schwans annahm. bei horaz fährt venus schwebend auf purpurnen schwänen, die ihren wagen ziehen. amor benutzte einen schwan als reittier. die etruskische liebesgöttin turan war wie aphrodite und venus mit schwan, taube und sperling verbunden. wer vom schwan träumte, dem sollte laut europäischer volksüberlieferung liebesglück verhießen sein.
»der hahn im korb / sprach nicht / über die ungelegten eier« geht im ersten teil auf die redewendung »Hahn im Korb sein« und die tatsache zurück, daß einst auf märkten hühner in einem korb zum verkauf angeboten wurden, unter denen nur ein einziger hahn saß. bei einem deutschen volksbrauch verband man heiratsfähigen mädchen im frühjahr, etwa zur osterzeit, an heidnische frühlingsundfruchtbarkeitskulte anknüpfend, die augen und ließ sie mit einem stock in der hand einen hahn suchen, der unter einem korb versteckt war. fand ihn ein mädchen, bedeutete dies ihre baldige heirat. der lisiaksche redegewendete hahn im korb taugt dafür womöglich weniger. ungelegte eier sind noch unausgereifte und unvollendete idee oder projekte. bei »nach lust und / laune hängt hier / der haussegen schief« läßt sich mitdenken, daß das schiefhängen des haussegens, der unglück abwehren sollte und früher entweder an der haustür und überm sofa hing oder sich im fundament und gebälk eines hauses befand, auch herausfordernd lustvoll sein kann, während »danke für die blumen / von gestern« wohl blumen meint, unter denen die liebe begraben liegt.
der fuchs erscheint in keiner der »Wederendungen«. der eigene name schafft eine autonome sphäre, die man nicht verletzen möchte. im deutschen haben sich, neben dem kinderlied »Fuchs, du hast die Gans gestohlen«, mindestens zwei redewendungen mit dem fuchs ins allgemeinwissen eingeprägt: »Dem Fuchs sind die Trauben zu sauer.«, was auf die bekannte fabel des äsop anspielt, wo der fuchs nicht an die süßen trauben herankommt und dann, um seine enttäuschung zu überspielen, erklärt, sie seien ihm sowieso zu sauer, und »Wo sich Fuchs und Hase gute Nacht sagen.«, also an einem abgelegenen und einsamen ort.
in der bukowina sind spatz und fuchs, beides schlaue, listige und freche tiere, die sich in märchen, sagen und fabeln sonst öfter als widersacher begegnen, freunde. im anhaltischen groß mühlingen, einmal soll hier der magdeburger raum erwähnt werden, brachte einst der osterfuchs die ostereier. vermutlich hatte der fuchs den osterhasen gefressen und mußte dann zur strafe selbst die eier austragen. der osterfuchs war auch in niedersachsen, westfalen, im sauerland und in hessen bekannt. in thüringen und im elsaß konnte der storch, sonst kinderbringer, die ostereier bringen, in holstein, sachsen und böhmen der hahn, in der schweiz der kuckuck. inzwischen hat überall der osterhase das osterkommando übernommen. wer viele kinder zeugt, kann viele eier bringen. man muß eben immer fragen, woher etwas kommt. im kanton solothurn bauten kinder dem osterhasen nester unter obstbäumen, damit er die eier hineinlegt, was den fruchtbarkeitsbezug zwischen eiern und obst betont.
joanna lisiak ist auf eine natürliche weise freizügig, also nicht verschämt. mitunter sind die »Wederendungen« auch drastisch und entgegnen so dem manierlichen: »eine laus kroch / ihm in den hintern / und dann / über die leber«. eine laus läuft einem sprichwörtlich über die leber, wenn man schlecht gelaunt ist. die leber galt, bereits in der antike, als organ der seele, des empfindens und der leidenschaften. die in den körper eindringende laus, die offenbar unterwürfig ist, wenn sie in den hintern kriecht, erinnert an insekten wie ohrwürmer, grillen, mücken, fliegen, käfer, ameisen, wespen, hornissen, hummeln, zikaden, schmetterlinge oder motten, die im volksglauben ins gehirn krochen. eine estnische sage erzählt, daß sich die läuse nach ihrer erschaffung bis in die knochen und ins gehirn der menschen durchfressen wollten, was jedoch der schöpfer verhinderte. deutscher aberglaube meinte, läuse seien elbische wesen, die krankheiten verursachten. über jemanden, dessen handlungen und pläne als verrückt gelten, heißt es, er wolle die läuse an die kette legen. schweizerisch war die maulwurfsgrille ein krankheitsdämon und hieß hirnfresser. ohrwürmer, die man für dämonen hielt, sollten eier ins gehirn legen.
in der antike wurde im ohr der sitz des gedächtnisses vermutet. daher stammt der brauch, kinder beim ohrläppchen zu fassen, wenn man sie an etwas erinnern will. »aus den ohren der sterne fallen atheistische rosen«, schrieb hans arp, »Poesie ist der Flug eines Nachtfalters zu den Sternen.« stanisław ignacy witkiewicz, »die Fotografie des verschwundenen Wesens berührt mich wie das Licht eines Sterns.« roland barthes. die »Wederendungen« zupfen sozusagen ihre leser zu erkenntnissen.
»in seine spuren / getreten blieb sie / auf der strecke« verbindet motivisch sportwettkämpfe, bei denen einzelne teilnehmer das ziel nicht erreichen, mit dem ursprünglich jägersprachlichen »Zur Strecke bringen«, also niederstrecken des wilds, »hinter den kulissen / ist jeder seines glückes / schmied« theater und schmiedehandwerk. der ursprung von »Jeder ist seines Glückes Schmied.« findet sich im 3. jahrhundert vor angenommener zeitrechnung beim römischen zensor und konsul appius claudius caesus. auch das dichten wurde mit dem schmieden verbunden, siehe die worte reimschmied oder verseschmied. schmiede, meister des feuers, hatten magische funktionen. »Schmiede und Schamanen stammen aus dem gleichen Nest.«, sagt ein jakutisches sprichwort. römisch war vulcanus ein gott des feuers und der schmiedekunst, die paul klee, neben buchbinderei, glasmalerei und formgestaltung, am »Bauhaus« dessau unterrichtete. der göttliche künstler hephaistos, feuergott und schmied, den die römer vulcanus gleichsetzten und der aphrodite heiratete, besaß eine unterirdische schmiede. roland barthes erklärte: »Der Liebende, der entbrennt, der amado, wird paradoxerweise zur Bezeichnung jeder feuerleitenden Materie: zum amadou, Zunder.«
zu »aufs falsche gleis geraten / verstand er / bahnhof« wäre anzumerken, daß die redewendung »Immer nur Bahnhof verstehen« wahrscheinlich durch kriegsmüde soldaten am ende des ersten weltkriegs entstand, für die das wort bahnhof entlassung und heimkehr bedeutete und daher zum magischen begriff wurde, der die befreiung von grauen und tod verhieß. vielleicht meint bahnhof hier aber auch lediglich die ankunft an einem fremden ort. »die kralle / zeigen auf teufel / komm raus« läßt daran denken, daß die redewendung »Jemandem die Krallen zeigen« auf raubkatzen anspielt, die beim angriff ihre krallen herausstrecken, und der teufel, dessen beschwörung für verzweifelte die letzte hoffnung sein kann, häufig mit tierischen merkmalen beschrieben wird. »als rädchen im getriebe / einen affenzahn / drauf haben«, das sich zunächst auf das zahnrad einer maschine, eventuell auch einer uhr, bezieht, korrespondiert mit dem sprichwort »Ein Rädchen zuviel haben« für nicht ganz bei verstand sein. deutsch »Einen Affen (sitzen) haben« für betrunken sein folgt vermutlich dem tschechischen wortspiel »Opíte mít Opice«. opít se heißt sich betrinken, berauschen, betrunken sein, einen sitzen haben, opice affe, rausch und primitiver mensch. mir fiel dazu ein: als rädchen im getriebe zum hamster im laufrad und zuletzt gerädert werden, oder, wieder einmal, umgekehrt. mögen die denkbilder der joanna lisiak noch viele solcher menschlichen rädchen bremsen und, diesseitig faßbar, das eigenständige denken anregen.
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Wederendungen, von Joanna Lisiak, Books on Demand, 2017
Sind Redewendungen veraltet und nicht mehr im Gebrauch? Ganz im Gegenteil: man benutzt sie unbewusst immerzu und viel öfters als man denkt. Doch was passiert, wenn diese gängigen Metaphern frech kombiniert werden? Der Wortschatz gerät durcheinander, der Sinn kommt ins Wanken, Staunen und Schmunzeln stellen sich ein. Joanna Lisiak lässt mit den „Wederendungen“ herkömmliche Welten aufeinanderprallen und überrascht mit ungebrauchten Bildern, schafft Kürzestgeschichten auf manchmal nur zwei Zeilen. Sie verwirrt den Leser mit vermeintlichen Deja-Vu’s oder bringt ihn zum Grübeln.
Weiterführend →
Lesen Sie auch das Porträt der Autorin und das Kollegengespräch zwischen Sebastian Schmidt und Joanna Lisiak. KUNO verlieh der Autorin für das Projekt Gedankenstriche den Twitteraturpreis 2016. Über die Literaturgattung Twitteratur finden Sie hier einen Essay.