Worüber reden wir, wenn wir über Kunst reden?

Vorbemerkung der Redaktion: Um es vorweg zu sagen: Auch KUNO weiß nicht, worüber wir reden, wenn wir über Kunst reden. Stefan Oehm weiß allerdings, dass ein großer Teil derer, die über Kunst reden, einige grundlegende Erkenntnisse außer acht lässt. Und über genau die möchte er reden:

„Erst durch die Handlung des Betrachters entsteht ein Werk.“
Franz Erhard Walther

  1. Einleitung

Auch wenn viel darüber gestritten wird, ob nun das eine oder andere Werk aus welchem künstlerischen Bereich auch immer nun wahre Kunst ist oder doch eher ziemlicher Kappes – man bekommt trotz aller unterschiedlicher Meinungen erstens den Eindruck vermittelt, dass alle Teilnehmer des Diskurses, vom Stammtisch bis zur Alma Mater, wissen, worüber sie reden, wenn sie über Kunst reden. Und zweitens, dass alle, wenn sie über Kunst reden, über das gleiche reden. Mich beschleicht allerdings in beiden Fällen das ungute Gefühl, dass dem nicht so ist und auch noch nie so war. Ziel dieses Essays ist der Versuch, eben diesem Eindruck Ausdruck zu verleihen. Ein Versuch, der auf folgende These hinausläuft:

(1) Sowohl die Etablierung der Gebrauchsweise des sprachlichen Ausdrucks ‚Kunst’
(2) und die Zuschreibung innerhalb einer Gemeinschaft, welches Werk als Kunst-Werk gilt,
(3) als auch die Etablierung des Verständnisses von Kunst in einer Epoche und einer Kultur sind Resultate des Prozesses der unsichtbaren Hand, Phänomene der dritten Art, weder natürlich gegeben noch künstlich erschaffen. Alles ist, wie alle soziokulturellen Phänomene, eine stets fluide kollektive, weder intendierte noch geplante „kausale Konsequenz einer Vielzahl individueller intentionaler Handlungen, die mindestens partiell ähnlichen Intentionen dienen“ (Keller 2014: 93)1.

Dieses Modell ist kein sonderlich neues. Bernard de Mandeville hatte es bereits vor über 300 Jahren in seiner bitterbösen Schrift ‚Die Bienenfabel’, sie erschien erstmals 1705 als Sixpenny-Broschüre in London, in seinen Grundzügen formuliert. Die schottische Schule der Moralphilosophie, allen voran der Begründer der klassischen Nationalökonomie, Adam Smith, sowie Adam Ferguson und Dugald Stewart, hat es im Laufe des 18. Jahrhunderts aufgegriffen und zu einer zentralen Säule ihres Konzeptes gemacht. Bei dem Ökonomen Carl Menger ist es ebenso zu finden wie bei Friedrich August von Hayek und Robert Nozick. Und auch Rainer Hank bemühte es zuletzt in der F.A.S., ohne das Kind beim Namen zu nennen, als er über ‚Moral

Hazard’ schrieb, das unmoralische Verhalten der Banken, die Verantwortung für ihr riskantes Verhalten an andere zu delegieren: „Allemal klaffen individuelle und kollektive Rationalität auseinander: Die individuelle Logik des Handelns bewirkt negative externe Effekte für andere, verletzt somit die kollektive Vernunft und schadet dem Gemeinwohl“ (Hank 2017: 51).

Die unser abendländisches Denken prägende Dichotomie von ‚physei’ und ‚thesei’, von natürlich und künstlich, wurde uns, so von Hayek, „zu einer so festen Tradition (…), dass sie sich wie ein Gefängnis auswirkte, aus dem heraus erst Mandeville einen Ausweg zeigte“ (von Hayek 1969: 131). Ein Gefängnis, aus dem wir ausbrechen müssen, wenn wir die Prozesse „der kulturellen Evolution, der die moralischen Traditionen hervorbringt“ (von Hayek 1983: 170), angemessen verstehen wollen. Der Sprachwissenschaftler Rudi Keller, der sich von Hayeks Diktum zu Herzen nahm und seine Theorie des Sprachwandels ausgehend von Mandevilles Paradoxon sowie der sich daran anschließenden Tradition konzipierte, verweist auf die generelle Gültigkeit der Grundstruktur dieses Modells für soziokulturelle Phänomene: „Man kann, was Kultur ist, was soziokulturelle Phänomene sind, in entscheidenden Aspekten nicht begreifen, wenn man sie nicht als Phänomene der dritten Art sieht. (…) Sprachwandel ist ein Spezialfall soziokulturellen Wandels“ (Keller 2014: 208).

Warum nun aber dieses Modell nach wie vor nicht konsequent und durchgängig über alle Fakultätsgrenzen hinweg zur sachgerechten Erklärung soziokultureller Phänomene herangezogen wird, ist angesichts seiner offensichtlichen Plausibilität nicht recht erklärlich.

  1. Einige grundsätzliche Überlegungen

2.1 Sprachwandel: Schöpfung oder Genese, Artefakt oder Naturphänomen?

Natürliche Sprachen wandeln sich. Permanent. Obgleich nicht ersichtlich ist, warum sie das eigentlich tun. Aber sie tun es. Alle. Und sie tun es zumeist von den Sprechern der Sprachen unbemerkt. Genauer gesagt: Wenn die Sprecher einmal Veränderungen wahrnehmen, nehmen sie sie „nicht als permanente Wandlungsprozesse wahr“ (Keller 2014: 22). Prozesse angemessen wahrzunehmen und sie ebenso angemessen zu beschreiben, bereitet uns offensichtlich gewisse Schwierigkeiten. Wie habe ich mir diese Prozesse vorzustellen? Wie wandelt sich eine Sprache? Ist es überhaupt die Sprache, die sich wandelt? Oder wer oder was wandelt sie? Und warum?

Wir greifen bei dem Versuch, diese und ähnliche Fragen zu beantworten, schnell zu altbekannten Mustern. Zu Denkmodellen, die sowohl unsere Alltagssprache, aber durchaus auch die Wissenschaftssprache prägen: Termini technici, höchst sinnvolle „Abkürzungen komplexer Sachverhalte“, werden in ihrem Gebrauch nur selten und noch seltener grundsätzlich in Frage gestellt: Der unreflektierte Gebrauch der Worte wird schlicht perpetuiert, seine Verwender werden weiter „in ihrem ‚Sprachpanzer’ hausen und durch Wortdunst ihre handwerklichen Fehler verschleiern“, so der Germanist Steffen Martus in einem Beitrag in der FAZ. Ein Phänomen, das, wie Martus betont, vor keiner Branche haltmacht: „Das ist bei Ärzten, Heizungsbauern oder Juristen nicht anders.“ Und auch bei Kunst- und Kulturwissenschaftlern nicht, möchte man hinzufügen2.

„Wir haben einen Wortschatz der Schöpfung und einen des Wachstums“ zur Verfügung, so Keller (Keller 2014: 22), wenn wir das Werden, also prozessuale Ereignisse, beschreiben wollen. Beim ersten Modell handelt es sich um ein mechanistisches Konzept, bei dem der schöpfende Gott und, etwas profaner, der erschaffende Handwerker Pate stand, wobei Letzterer uns damit auch gleichzeitig ein alltagstaugliches Muster der Entstehung nicht natürlicher, mithin also kultureller Artefakte liefert. Beim zweiten Modell stand der Organismus Pate: Es ist dies das ontogenetische Konzept des individuellen Werdens. In beiden Fällen, sowohl im mechanistischen als auch im ontogenetischen Konzept, denken wir jeweils in den Kategorien zielgerichteter Prozesse des Werdens und Entstehens, bei dem „die Idee des Produkts vor seiner Vollendung existiert“ (Keller 2014: 22). Auch wenn diese teleologische Dimension, gerade in der modernen Naturwissenschaft, natürlich vehement bestritten wird – wir kommen aus der Haut der Sprache nicht raus: Der Begriff ‚Evolution’ geht auf das lateinische ‚evolvere’ zurück, das ‚herausrollen’, ‚auswickeln’, ‚entwickeln’ bedeutet. Und etwas kann nun mal nur dann herausgerollt, aus- oder entwickelt werden, wenn es zuvor bereits im Keim enthalten ist: Hier lauert in der Sprache ein zielgerichtetes Denkmodell, dem zudem ein Moment absichtsvollen Handelns inhärent ist.

Wir verfallen, wenn wir nicht beständig unseren eigenen Sprachgebrauch kritisch hinterfragen, immer wieder in klassische Muster. Ganz besonders deutlich wird dies bei unserem Hang zu Hypostasierungen und Anthropomorphisierungen. Unsere Sprache wimmelt geradezu davon (Keller 2014: 24). Da klettert der Dax schon mal

und Hochs und Tiefs wandern fröhlich übers Land, als wären sie allesamt Mitglieder im Alpenverein. Die Elektrizität fließt. Der Staat greift ein. Der Markt reguliert sich selbst. Das Geld muss arbeiten und regiert ganz nebenbei noch die Welt. Da wird von der Kunst erwartet, dass sie Brücken in die Gesellschaft baut, unsere Wahrnehmung schärft und Veränderungen aufzeigt. Und die Sprache? Sie wandelt sich. Das alles klingt ganz so, als gäbe es belebte Dinge namens Dax, Hoch, Tief, Elektrizität, Staat, Markt, Geld, Kunst oder Sprache.

Diese Vitalisierung und Anthropomorphisierung, die der Verdinglichung auf dem Fuß folgt, ist, so Keller, gerade bei der Sprache evident. Sie wird zum Subjekt des Handelns: „Die Sprache lebt. In ihr ‚wirken’ Kräfte, sie ‚wächst’, ‚altert’ und ‚stirbt’.“ (Keller 2014: 24) Und verführt – und in dieser verführerischen Sprache waltet dann und wann auch schon mal ein ewiger Geist. Kein Wunder, dass wir dann ganz selbstverständlich davon sprechen, dass sich die Sprache wandelt. So als sei sie ein „animal rationale mit allerhand wundersamen Fähigkeiten“ (Keller 2014: 24). Insbesondere, das möchte man hinzufügen, mit der Fähigkeit zu absichtsvollem Handeln, das im Rahmen des Konzepts der Zielgerichtetheit, ihrer teleologischen Dimension, im positiven Sinne der Vollendung entgegenstrebt, im negativen Sinne dem Verfall.

2.2 Objektivierung und Hypostasierung

Unser Drang zur Hypostasierung, Vitalisierung und Anthropomorphisierung ist beinahe so alt wie die Menschheit selber. Er wurde in Zeiten der Mythologie virulent, die „den endlosen Prozess der Aufklärung ins Spiel gesetzt“ hat (Horkheimer/Adorno 1980: 14). Ein Prozess der Welterkenntnis, die in der ursprünglichen Trennung von Subjekt und Objekt, von Betrachter und Betrachtetem ihre conditio sine qua non fand. Diese „Distanz des Subjekts zum Objekt“ ist die „Voraussetzung der Abstraktion“, die „in der Distanz zur Sache“ gründet, „die der Herr durch den Beherrschten gewinnt“ (Horkheimer/Adorno 1980: 16). Mit dieser Abstraktion war nicht allein die unaussprechliche, präanimistische Macht des alles in Eins setzenden Naturzustands gebrochen: Sie schuf mit der Dichotomie die denkstrukturelle Voraussetzung für die Initiation des menschlichen Prozesses der Kultivierung – der Bearbeitung, Pflege, Bebauung und des Anbaus, der Ausbildung und Veredelung, lat. cultura, der Kultivierung der Böden, der Pflanzen und der Tiere (Domestizierung) wie auch der Sitten, Gebräuche, Traditionen.

In der vormythischen paradiesischen Zeit erging an den Menschen, noch bevor er zur Erkenntnis von Gut und Böse befähigt war, Gottes Auftrag, sich die Welt untertan zu machen. Der Mensch tat es, indem er die Dinge benannte, in Namen bannte. Mit dem adamitischen Sündenfall brach dann das Zeitalter der Aufklärung an: Es konstituierte sich die Trennung von Subjekt und Objekt, vom Ich und dem Anderen, von Betrachter und Gegenstand der Betrachtung und entwickelte sich die Dichotomie von Natur und Kultur, von physei und thesei. Und die paradiesische Namensgebung der Welt, ihre sprachliche und damit rationale Aneignung, übersetzte der hinausgeworfene Mensch3, nunmehr zum erkennenden, erklärenden, aufklärenden Subjekt geworden, so konsequent wie undifferenziert in Kategorien, die ihm am nächsten lagen, ihm so die Aneignung der Welt erleichterten: Egal, ob es sich um physische Entitäten, Universalien oder Sachverhalte handelte – die ganze Welt, sinnlich erfahrbare wie gedanklich abstrahierte, hat der Mensch sprachlich hypostasiert, vitalisiert und anthropomorphisiert, in eine visuell, insbesondere aber taktil geprägte Metaphorik4, in Metaphern der für den gegenständlich orientierten, ackerbauenden Menschen wesentlichen Sinne getaucht.

Diese Metaphorik beherrscht seitdem unsere Sprache der Weltaneignung. Die Dinge wurden für uns mit einem Mal ‚fass-bar’, ‚greif-bar’, ‚erkenn-bar’, wurden zum ‚Gegenstand’ der ‚Betrachtung’, den ich ‚wahr-nehme’, ‚be-greife’, ‚ver-stehe’ oder ‚ein-sehe’, von dem ich mir eine ‚Vor-stellung’ ‚bilde’ (dazu auch: Riedel 1990: 7) – selbst so etwas ‚unbe-greifliches’, ätherisches wie Seele und Geist, aber auch Tugenden, Transzendentalien, Kategorien oder Werte wurden so zum ‚Gegenstand’ (der ‚Betrachtung’) verdinglicht. Was bei den Vertretern des Realismus im Universalienstreit, ausgehend von Platons Ideenlehre, dazu führte, dass sie eine durchgängig hypostasierte Vorstellung vom Sein und den Entitäten entwickelten: Die ontologische Existenz, die sie selbst den Universalien5 zugestanden, ist eine sprachlich gegenständlich formulierte. Und da Sprache unsere Denkstruktur nun einmal ganz wesentlich bestimmt, nehmen wir sprachliche Bezeichnungen gerne für bare Münze. Bis heute.

2.3 Vom Relativismus zu Absolutismus

Mit der Abstraktion, Voraussetzung jeder Erkenntnismöglichkeit, und zunehmenden Rationalisierung ging eine Objektivierung, Versachlichung einher, die im abendländischen Denken seit Descartes an Fahrt gewonnen hat. Die bis dahin beschränkt menschlich-relative Weltsicht weicht seitdem mehr und mehr dem Anspruch auf Absolutheit. War der Logos bis dato fest in Gottes Hand, wähnen wir uns heute positivistisch erhaben: Gott ist tot6. Und wir als seine legitimen Nachfolgertreten seine Herrschaft an, ausgestattet mit den Insignien seiner Macht. Wir maßen uns die Fähigkeit zur Erkenntnis des Seins an sich an, der nicht menschlich gebundenen, grundlegenden, ewigen Wahrheiten und Gesetzmäßigkeiten, Strukturen und Mechanismen, losgelöst vom zeitlichen Sein und unserem Dasein. Der Mensch meint sich in einem Anflug maßloser Selbstüberschätzung seiner Perspektivität entheben zu können und setzt sich, seine Erkenntnisse und Erkenntnisfähigkeit absolut: „Nur wo man hoffen kann, dass man nicht menschlich Gebundenes erfährt, dort ist Wahrheit gegeben und gleichsam übermenschlich ist allein die ratio im Menschen“ (Mannheim 1980: 169).

Diese übermenschliche, mithin un-menschliche, ent-anthropomorphisierende Tendenz der Ratio, dieser mathematisch-funktionale, berechnende, kalkulierende Modus der Weltaneignung, strebt „nach einer Vergesellschaftung der Erkenntnis“ (Mannheim 1980: 169). Diese Entpersönlichung der Erkenntnis zielt auf die „eigentümliche Verkopplung zwischen Allgemeingültigkeit und Wahrheit“ (Mannheim 1980: 170). Objektiv gültig ist allein, was für alle gilt: „Es vollzieht sich hier vorbildlich in der Mathematisierung der Prozess, das gruppengebundene Subjekt, das konkret-geschichtliche Subjekt zu überwinden, um auf das abstrakt allgemein Menschliche zu rekurrieren“ (Mannheim 1980: 170). Diese Denkstruktur trachtet danach, „die Welt berechenbar zu machen“ – und übersieht dabei ganz, dass sie „von vornherein von ihr nur soviel erkennen wollte, als von ihr berechenbar zu machen ist“ (Mannheim 1980: 170). Davon abgesehen, dass diese Welt, die Husserl die „mathematisch substruierte Welt der Idealitäten“ nannte, die eben nicht „die einzig wirkliche, die wirklich wahrnehmungsmäßig gegebene, die je erfahrene und erfahrbare Welt“ darstellt (Husserl 2012: 52). Die ihr innewohnende Denkstruktur übersieht dabei völlig, „dass es auch andere Wege des Erfahrens und Erkennens gibt“ (Mannheim 1980: 170), „jene durch die naturwissenschaftliche Denkweise zurückgedrängte Denkmethode“ (Mannheim 1980: 170):

Auch die nunmehr mathematisch grundierte, vom menschlichen Dasein durch den Menschen selbst vermeintlich abstrahierte Welt, in der alles in Zahlen gegossen, mithin berechnet werden kann, wird weiterhin in unserer tradierten vitalisierenden und anthropomorphisierenden Sprachweise formuliert, die sich an unserer real vorfindlichen Welt orientiert. Wir versuchen also diese „mathematisch substruierte Welt der Idealitäten“ und die vermeintlich ent-anthropomorphisierten, nicht menschlich gebundenen und mit dem Anspruch auf Allgemeingültigkeit versehenen, zeitlos gültigen und so als wahr behaupteten Erkenntnisse der Naturwissenschaft mit untauglichen, weil anthropomorphisierenden und vitalisierenden Begrifflichkeiten zu beschreiben.

Jedwede Form der Hermeneutik, von der alltäglichen, profanen Welterklärung bis hin zur philosophischen Exegese, bedient sich eines metaphorischen Sprachgebrauchs, gießt ihre Erkenntnisse in eine gegenständliche, räumliche, taktile und visuelle Begrifflichkeit. Darin, und in der damit untrennbar verbundenen Denkstruktur, zeigt sich unser bis heute andauerndes Erbe, unsere Gefangenheit und Begrenztheit.

So spricht Aristoteles im ersten Buch der Schriftensammlung ‚Organon’, Peri hermeneias (‚Lehre vom Satz’) von den ‚Vorstellungen’, deren unmittelbare Zeichen die Worte sind“ und diese ‚Vorstellungen’ „sind bei allen Menschen dieselben und ebenso sind die Gegenstände überall dieselben, von welchen diese Vorstellungen die Abbilder sind“ (Für welche Vorstellung steht das Zeichen ‚Vorstellung‘ stellvertretend? Von welchem Gegenstand ist die Vorstellung Abbild, dessen unmittelbares Zeichen das Wort ‚Vorstellung‘ ist? (zur Stellvertretertheorie der Zeichen cf. Keller 2018: 79; nach Tugendhat 1979: 476 ff.)). Nach seiner semiotischen Trias gibt erstens Gegenstände (was auch mit unserer sprachlichen Allzweckwaffe ‚Dinge’7 übersetzt wird). Von diesen gibt es nun zweitens ‚Abbilder’ in unseren Seelen, eben jene Vorstellungen’. Und, drittens, ist das gesprochene Wort ein Laut und damit Zeichen eben dieser Vorstellungen. Nachrangig sind demgegenüber die geschriebenen Worte, da diese nur Zeichen der Zeichen, der Laute, sind.

2.4 Sprachwandel als kollektiver Prozess

Steckt hinter dieser Redeweise ein Denkmodell von der Sprache als eines selbsttätig agierenden Handlungssubjekt, so steckt hinter jenem Denkmodell vom Sprecher, der eigeninitiativ Bedeutungen setzt und Sprache verändert, ein mechanistisches. Hier wird unterstellt, der Sprecher würde absichtsvoll, geplant und willentlich die Sprache, die er spricht, wandeln. Ganz so, „als sei die Sprache ein von Menschen gemachtes Artefakt.“ (Keller 2014: 25) Und ganz so, als wäre es ihm jederzeit möglich, nach eigenem Gutdünken ändernd einzugreifen.

Beiden sprachtheoretischen Modellen des Werdens sind nach Keller drei Wesenszüge gemeinsam:
1. Sie sind zielgerichtet.

  1. Sie haben ein Ende.
  2. Sie sind individuelle Prozesse.

Die natürlichen Sprachen unterliegen einem permanenten Wandel. Von diesem anzunehmen, er sei zielgerichtet, ist eine These, die aus heutiger Sicht recht befremdlich anmutet. Was sollte Ziel der Sprache sein? Wer sollte es als Keim angelegt, wer es formuliert haben? Und warum sollte es ein Ziel geben? Ein Ende des Wandels kann es, solange es Sprecher gibt, die die Sprache aktiv sprechen, nicht geben: Ihr Werden und Wandel ist „eine potentiell unendliche Geschichte“ (Keller 2014: 25). Und da Sprache der kommunikative, interaktive und interdependente Prozess eines Kollektivs ist, lässt sich auch Punkt 3. negieren.

Wenn Sprach- und mit ihm Bedeutungswandel (und auch die Etablierung von Bedeutung als logische Voraussetzung dafür, dass sich Bedeutung wandeln kann) nun aber weder durch ein ontogenetisches noch durch ein mechanistisches Modell erklärt werden kann – wie dann? Sprachentwicklung ist nicht zielgerichtet, sie istpotentiell unendlich und ein kollektives Phänomen. Sie ist ein permanenter Prozess, an dem täglich Millionen Menschen teilhaben (in der synchronen Zeitachse). Und das über Generationen hinweg (in der diachronen Zeitachse). Die Sprache, so formulierte es Humboldt prägnant, „in ihrem Wesen aufgefaßt, ist etwas beständig und in jedem Augenblicke Vorübergehendes (…) Sie selbst ist kein Werk (Ergon), sondern eine Tätigkeit (Energeia)“ (Humboldt 2008: 324). Darum liegt auch „die eigentliche Sprache in dem Acte ihres wirklichen Hervorbringens “ (Humboldt 2008: 325). Sprache ist Sprache im Moment des Gebrauchs8. Der Verwendung. Sie existiert nicht an einem geheimen Ort außerhalb der Menschheit, sondern nur in und durch uns: den Sprechern der natürlichen Sprachen.

2.5 Nicht vorsätzlich, nicht bewusst, nicht geplant

Dass Sprache der Verständigung dient, sagt uns unser gesunder Menschenverstand.

Und schlägt uns damit, wohl nicht zum ersten und auch nicht zum letzten Mal, ein Schnippchen. Denn um Verständigung geht es, betrachtet man den Sachverhalt etwas genauer, nur recht selten. Da geht es eher um etwas Anderes: Ich lüge und betrüge. Flirte. Führe hinters Licht. Halte Small-Talk, schwinge Reden, treibe Werbung, feuere meine Mannschaft leidenschaftlich an oder frage als Standesbeamter, ob er oder sie sie oder ihn zu Mann oder Frau nehmen will. In all diesen Fällen kann man schwerlich davon sprechen, dass es bei ihnen vorrangig um Verständigung geht: Stets will ich, in welcher Form auch immer, Einfluss auf andere nehmen. Diese Beeinflussung scheint das durchgehende Merkmal der Sprachverwendung zu sein. Vielleicht ist es sogar der eigentliche Zweck der Sprachhandlung respektive die Absicht des Sprechers: X will Y dazu bringen, z zu tun.

Intention der Handlung und des Handelnden ist es, den anderen zu etwas Bestimmten zu bewegen. So kann ich, wenn ich große Reden schwinge, den Vorsatz haben, den anderen dazu zu bringen zu glauben, ich sei mit Esprit und überbordender Intelligenz gesegnet. Dieser Vorsatz ist ein Plan, eine „Absicht, etwas zu tun“ (Keller 2014: 27). Die Schritte, die ich unternehme, um diesen Vorsatz in die Tat umzusetzen, sind ebenfalls absichtsvoll bzw. intentional. Aber in einer anderen Hinsicht: Wenn ich den Vorsatz habe, mit dem Auto von A nach B zu fahren, so impliziert die Umsetzung meines Vorhabens zahllose Handlungen, die allesamt zwar intentional, aber weder geplant noch bewusst oder gar vorsätzlich sind: Kuppeln, Schalten, Gas geben, Lenken u.v.a.m. Diese Handlungen verfolgen einen Zweck, sie entsprechen damit der „Absicht, in der etwas getan wird“ (Keller 2014: 27). Dies bedeutet: „Intentional und planvoll sind keine Synonyme; intentional und unbewusst sind keine Gegensätze“ (Keller 2014: 29).

Die natürliche Sprache ist nur durch ihre Sprecher, eine andere Daseinsform als in dem Gebrauch durch sie hat sie nicht. Da es also kein Subjekt des Handelns namens Sprache gibt, das sich quasi selbsttätig ändert, müssen es demnach die Sprecher selbst sein, die die Sprache ändern. Allerdings tun sie das, insbesondere in der alltagssprachlichen Kommunikation, nur höchst selten – und noch höchstseltener erfolgreich – mit Vorsatzabsicht9. Sie verfolgen beim Sprechen Zweckabsichten, Intentionen ganz ähnlich denen, die sie auch beim Autofahren verfolgen – und keine dieser Intentionen verfolgt das Ziel, die Sprache zu wandeln oder Bedeutungen zu etablieren.

Sprecher wandeln Sprache nicht nach Art der Handwerker, also nicht schöpferisch- mechanistisch, und auch nicht in einem ontogenetischen Prozess: Sprachwandel (ebenso wie die Etablierung von Bedeutung) ist ein wie auch immer gearteter kollektiver Prozess, der individuelle Handlungen involviert, zudem nicht zielgerichtet und potentiell endlos ist. Es stellt sich also die Frage: Wie verändern wir dann die Sprache, wenn die gängigen Modelle nicht greifen? Wenn wir, bis auf einige wenige Ausnahmefälle, nicht dazu imstande sind, vorsätzlich, bewusst und planvoll den Sprachwandel und die Etablierung von Bedeutung voranzutreiben – wie soll es dann geschehen? Nicht durch Setzung, nicht durch Ontogenese – wir erzeugen durch das „tägliche millionenfache Benutzen unserer Sprache (…) eine permanente Veränderung unserer Sprache“ (Keller 2014: 29).

2.6 Ungeplante Resultate

Sprache ist ein soziokulturelles Phänomen. Solchen Phänomenen ist zu eigen, dass sie „spontane Ordnungen“ (Keller 2014: 32) bilden. Also Ordnungen, in denen zwar bestimmte Zweckabsichten der Akteure walten, die aber im Kollektiv ohne Ziel, ohne Plan, ohne Vorsatzabsicht, ohne Verabredung und unbewusst entstehen. Und die bisweilen recht „paradoxe Züge“ (Keller 1990: 51) annehmen. So zum Beispiel bei den Gründen für den Wohlstand eines Landes, der zumeist leider „nicht Ergebnis der Tugenden seiner Bürger, sondern ihrer Untugenden und Laster“ (Keller 1990: 55) ist:

„Von Lastern frei zu sein, wird nie

Was andres sein als Utopie.

Stolz, Luxus und Betrügerei

Muß sein, damit ein Volk gedeih.

(…)

Genauso uns das Laster nutzt,

Wenn das Gesetz es kappt und nutzt.“

(Bernard de Mandeville, Die Bienenfabel, 2012: 92)

Bernard de Mandeville entwarf in seiner Bienenfabel ein wenig erfreuliches, dafür aber umso realistischeres Bild der Realität: Moralisch verwerfliche Intentionen können äußerst fruchtbare Auswirkungen haben. Bei ihnen werden wir wie „von einer unsichtbaren Hand geleitet, einen Zweck zu fördern, den (wir) in keiner Weise beabsichtigt“ haben (Smith 1978: 371) Hier ist das ominöse Mandeville‘sche Paradox am Werk: Wer „das eigene Interesse verfolgt, fördert (…) häufig das der Gesellschaft nachhaltiger, als wenn er wirklich beabsichtigt, es zu tun“ (Smith 1978: 371). Und, so fügt Smith hinzu, ohne sich über die Natur des Menschen irgendwelche Illusionen zu machen: „Alle, die jemals vorgaben, ihre Geschäfte dienten dem Wohl der Allgemeinheit, haben meines Wissens niemals etwas Gutes getan“ (Smith 1978: 371).

Es waltet mephistophelisch „ein Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft“ (Goethe 1979: 43). Gäbe es nur gute Menschen, die nie lügen, betrügen, nie hintergehen, nie rauben, morden oder Steuern hinterziehen, dann bräuchten wir kein Rechtssystem. Heerscharen von Juristen, Sozialarbeitern und Politikern wären arbeitslos. Das Militär wäre obsolet, ja: Staaten wären Geschichte – und damit auch alle Berufssoldaten und sämtliche Staatsbediensteten. Und eine Wirtschaft ausschließlich altruistisch ausgerichteter Unternehmen, geführt von gänzlich uneitlen Managern, die sich nur am Allgemeinwohl orientieren, nur solche Produkte herstellen, die für alle erschwinglich und zudem ihren Preis wert sind, die ewig halten und auch wirklich benötigt werden? Eine märchenhafte Vorstellung, die Welt wäre um einiges besser. Nur: Wie viele Jobs würde ein Arbeitsmarkt in einer solchen traumhaften Gesellschaft den Menschen bieten können? Wenige. Zu wenige. Jedoch: Es gibt sie nun mal, diese höchst unangenehmen Untugenden Eitelkeit, Egoismus und Prahlerei. Und ausgerechnet sie und ihre nicht weniger unangenehmen Vettern sind es, die, so Mandeville, ganz unbeabsichtigt für Wohlstand sorgen.

Der amerikanische Soziologe Robert K. Merton zeigte, ausgehend von Mandevilles Paradoxon, wie nicht nur böse Handlungen gute Strukturen erzeugen können, sondern auch, wie tugendhafte Intentionen Konsequenzen zeitigen können, die bestehenden guten Absichten vollends zuwiderlaufen – er nannte dies das ‚Gesetz der unbeabsichtigten Folgen’. Verallgemeinert man das Paradoxon für soziokulturelle Phänomene, so bedeutet das in der Konsequenz, hier zitiert Rudi Keller den deutschen Soziologen und Ökonomen Viktor Vanberg, „dass die Frage nach den Motiven individuellen Handelns ausdrücklich getrennt (werden muss) von der Frage nach den sozialen Auswirkungen dieses Handelns“ (Keller 2014: 57). Oder wie es der schottische Moralphilosoph Adam Ferguson bereits im 18. Jahrhundert prägnant formulierte: Soziokulturelle Phänomene sind „Einrichtungen, die in der Tat das Ergebnis menschlichen Handelns sind, nicht die Durchführung eines menschlichen Plans“ (Keller 2014: 58) – sie sind von eben jener unsichtbaren Hand geleitet, von der Adam Smith in Anlehnung an Mandevilles bitterböse Fabel sprach.

2.7 Lebenswelt und konjunktives Denken

Dieses Phänomen waltet auch bei der Etablierung von Bedeutung (cf. Kap. 2.11 und 2.12) sowie dem Sprach- respektive Bedeutungswandel: Sie alle haben prozessualen Charakter, sind emergent, also eine spontane Bildung auf Basis des Zusammenwirkens der Teilnehmer am Prozess, und zudem stets fluid. Das heißt, Sprache und Bedeutung wandeln sich fortlaufend jederzeit überall: Ein asynchroner Prozess in der synchronen Zeitachse, an der Abermillionen in Millionen parallel stattfindenden Sprachspielen teilnehmen, die sich in der diachronen Zeitachse über Generationen fortsetzen.

Unser Gebrauch der Sprache wird zudem ganz wesentlich durch unsere Eingebundenheit in die „bloß subjektiv-relative Lebenswelt“ (Husserl 2012: 141), also „der in unserem konkreten Weltleben uns ständig als wirklich gegebenen Welt“ (Husserl 2012: 55) beeinflusst. Diese „alltägliche Lebenswelt“ ist, so der Philosoph Edmund Husserl, im Gegensatz zu „der mathematisch substruierten Welt der Idealitäten (…) die einzig wirkliche, die wirklich wahrnehmungsmäßig gegebene, die je erfahrene und erfahrbare Welt“ (Husserl 2012: 52).

Erfahren und Erkennen können wir diese Welt nur durch unsere immer gegebene Gerichtetheit auf etwas in unseren Wissensvorgängen (Kettler, Meja, Stehr in: Mannheim 1980: 22; in diesem Konzept scheint der von Franz Brentano eingeführte Begriff der Intentionalität auf, der später zur zentralen Kategorie der Phänomenologie Husserls werden sollte). „Das, was uns begegnet, bietet sich uns in einer bestimmten Perspektive dar“ (Kettler, Meja, Stehr in: Mannheim 1980: 22). Auf dieser Ebene der Erkenntnisentwicklung findet eine noch nicht reflexive, sondern ursprüngliche, „konjunktive Begegnung mit einer Wirklichkeit“ statt, so „wie wir sie antreffen, wenn wir nach dem mit einer Gemeinschaft geteilten Willen handeln“ (Kettler, Meja, Stehr in: Mannheim 1980: 23). Diese ursprüngliche Erkenntnisfähigkeit, die der Wissens- und Kultursoziologe Karl Mannheim „konjunktives Denken“ (Mannheim 1980: 157 ff.) nannte, bildet die Basis für unsere Orientierung in der Welt, die uns umgibt. Es ist dies aber nicht als eine Erkenntnisfähigkeit zu denken, die ein universales menschliches Vermögen oder einem einzelnen Individuum zukommende Eigenschaft darstellt – „konjunktives Denken gehört zu Gemeinschaften, bildet Gemeinschaften, wird erzeugt durch Gemeinschaften“ (Kettler, Meja, Stehr in: Mannheim 1980: 22).

Durch diese Eingebundenheit in die Welt, durch die perspektivisch grundierten, intersubjektiv geteilten, ausgetauschten und letztlich so auch konstituierten und etablierten Welterfahrungen, verfügen wir über ein implizites Erfahrungswissen, das unsere täglichen Handlungen unbewusst und unbemerkt anleitet. So meinen wir im alltäglichen Gebrauch der Sprache zwar zu wissen, was wir meinen, wenn wir etwas sagen. Aber ohne dass wir um dieses Erfahrungswissen wissen, bleibt es nur ein frommer Wunsch: Ein Großteil dieses Wissens lässt sich von uns nicht oder nur höchst unzureichend explizieren. Es ist reflexiv für uns praktisch nicht verfügbar, seine Relevanz für den Gebrauch, den wir von Worten machen, kaum darstellbar.

Demgegenüber gibt es, so Mannheim, ein „kommunikatives Denken“, das zumindest theoretisch reflexiv verfügbar und explizierbar ist. Von der Möglichkeit, es zu explizieren, machen wir jedoch nur selten Gebrauch – wir machen es uns, schon aus Gründen der Sprachökonomie, nun mal gerne einfach. Und setzen im Rahmen dieses Wissens den Bestand einer Bedeutungsschnittmenge stillschweigend als gegeben voraus, die uns suggeriert, dass wir, wenn wir über etwas reden, auch über das gleiche reden (weiterführend dazu auch Wittgenstein 1977: 139 (PU 241): „In der Sprache stimmen die Menschen überein. Dies ist keine Übereinstimmung der Meinungen, sondern der Lebensform.“). Wobei es völlig irrelevant ist, ob es diese Schnittmenge tatsächlich gibt. Hinreichend ist, dass alle Beteiligten annehmen, dass dem so ist. Allein diese Annahme vermittelt schon den Eindruck einer gelungenen Kommunikation, unabhängig davon, ob der Eindruck auch nur ansatzweise der Realität entspricht: Gelungen ist, was mir als gelungen erscheint.

Eine lebenspraktisch durchaus sinnvolle Einstellung. Denn zwei Menschen können niemals ein deckungsgleiches Verständnis von etwas besitzen: Spreche ich zum Beispiel mit jemandem über Kunst, so muss ich nicht nur um das Sprachspiel wissen, in dem der Begriff Kunst zu verstehen ist. Ich sollte auch, damit wir nicht gleich von Beginn an völlig aneinander vorbeireden, wissen, ob das Sprachspiel, in dem ich den Begriff verstehe, auch das Sprachspiel ist, in dem ihn mein Gegenüber versteht. Und ob es nicht vielleicht verschiedene Sprachspiele innerhalb einer Kultur geben kann, in der dieser Begriff zu verstehen ist. Ob es nicht von Kultur zu Kultur, von Epoche zu Epoche, von Lebenswelt zu Lebenswelt ein anderes Verständnis gibt und wenn ja, welches. Ob mein konjunktives Wissen dem meines Gegenübers entspricht (wie kann dies verifiziert werden?). Ob ich und mein Gegenüber den Begriff immer gleich verwende und verstehe oder nicht von Verwendung zu Verwendung, von Tag zu Tag, von Befindlichkeit zu Befindlichkeit, von aktueller Stimmung zu aktueller Stimmung, zwischen verschiedenen Sprachspielen changierend, immer wieder ein wenig anders verwende und verstehe.

2.8 Subjekt: Der Unterworfene, der unterwerfen will

Jeder Mensch ist Kind seines Kontextes. Er ist in die Zeit und die Welt geworfen. In ein Da-Sein genauso wie in ein So-Sein. In ein komplexes Geflecht aus kulturellen Bedingungen, gesellschaftlichen, religiösen, ethischen Normen, in einen je individuellen Möglichkeitsrahmen: in eine ihm zugehörige, spezifische Variante der vorfindlichen Lebenswelt, die ihrerseits eingebunden ist in ein weltumspannendes Geflecht unzähliger Lebenswelten.

Als sei das noch nicht genug, sind all diese Lebenswelten und, in uns, alle lebensweltliche Individuationen nie konstant, sondern im steten Fluss. Sie ändern sich beständig, nie gleichzeitig in gleicher Weise, sondern immer und überall asynchron und bei jedem Einzelnen anders. Und sei es auch nur zart nuanciert. Zudem ändern sich die Ausprägungen der Lebenswelten laufend in jeder Zeitachse, sowohl in der diachronen als auch der synchronen. Und auch hier wieder, heruntergebrochen auf jeden Einzelnen, nie konstant, nie in gleicher Weise, ja: gegebenenfalls sogar von Tag zu Tag anders, abhängig von jedem Ereignis oder individueller physischer und psychischer Tagesverfassung, vom spezifischen Kontext oder sozialen Umfeld.

So gesehen ist der Einzelne dem Sein, der Zeit, der Welt, seinen intersubjektiven Verhältnissen, Konstellationen und nicht zuletzt seinen sprachlichen Möglichkeiten ‚unterworfen’, lat. subicere. Er ist damit ‚Subjekt’ – aber eben nicht das Subjekt10, das er seit Descartes meint zu sein und das bereits in Gottes Auftrag an uns, uns die Welt in der Benennung begreifbar und sie sich untertan zu machen, sie also mithin zu unterwerfen, angelegt war. Das Subjekt, das sich einerseits die Welt unterwirft, ist ihr immer schon selbst unterworfen. Es ist nie frei von Abhängigkeiten, nie frei in seinen Handlungen, immer zur gleichen Zeit Herr und Beherrschter. Als Herr fühlt sich das Subjekt, weil es meint, die Welt berechnen, sich von der relativen Sicht des Menschen entbinden zu können und zur vom profanen menschlichen Dasein losgelösten, lat. ‚ab-solvere’, also ent-menschlichten, ent-anthropomorphisierten, ewigen und objektiven Erkenntnis der absoluten Wahrheit emporzusteigen. Eine Erkenntnisfähigkeit, die ihn dazu verleitet anzunehmen, als Subjekt sich selbst objektiv als Objekt sehen zu können. In dieser vermeintlichen Fähigkeit zur Ent-Subjektivierung steckt die ganze Hybris der Menschheit: Das Subjekt ist selbstvergessen – es vergisst, dass er, der Herr zu sein meint, Beherrschter ist, dem Da-Sein im So-Sein unterworfen und stets relativ ist, nie absolut.

Hier kollidieren unvereinbare Denkstrukturen: Auf der einen Seite die unseres mythologischen, naturphilosophischen Erbes, von dem wir uns nicht zu lösen vermögen – es zeigt sich in unserer relativen, anthropomorphisierenden, vitalisierenden und hypostasierenden Sprache mit der ihre innenwohnenden Denkstruktur. Auf der anderen Seite steht der unbedingte Wille zur absoluten Herrschaft über die Dinge, zur Entbindung vom Menschlichen, die sukzessive Entanthropomorphisierung, Versachlichung, Objektivierung, Mathematisierung, Codierung und Algorithmisierung der Welt11, die eine gänzlich andere, berechnende Denkstruktur erfordert.

Was passiert, wenn nun der unbeherrschte Herr begreift, dass er a priori unfähig zu der ersehnten entmenschlichten Denkstruktur ist, er ein auf ewig beherrschter Herr ist, der in die anthropomorphisierende Sprache und der ihre innenwohnenden Denkstruktur eingewoben ist? Wird er sich beherrschen können, damit aus dem beherrschten Herrn ein beherrschter Herr werden kann?

2.9 Verständnis als Unterstellung

Im Laufe der individuellen Sozialisation, der Eingebundenheit in eine subjektiv-relative Lebenswelt, erwerbe ich ein spezifisches Kulturwissen, das, trotz der intersubjektiv geteilten, ausgetauschten und so etablierten Welterfahrungen, die eine Gemeinschaft konstituieren, so einzigartig ist wie mein Fingerabdruck. All meine Erlebnisse und Erfahrungen gehen als Teil in die Bedeutung mit ein, die, zum Beispiel, Kunst für mich persönlich hat, ungeachtet des Sprachspiels, in dem der Begriff zu verstehen ist. Es schwingen singuläre, manchmal täglich andere, emotional grundierte individuelle Konnotationen mit, aber auch solche, die der Begriff in unserer Kultur als Resultat eines kollektiven Prozesses mit sich bringt. Wie sollen angesichts dessen zwei Menschen dieser asynchronen Kommunikation entkommen, sie auch nur ein ansatzweise gleiches Verständnis einer Sache haben? Oder je imstande sein festzustellen, ob dies der Fall ist oder nicht? Dass ein solch intersubjektives Verständnis, das eine flüssige Kommunikation sichert, tatsächlich gegeben ist, kann, trotz aller konstituierenden kollektiven Prozesse, immer „nur wechselseitig unterstellt werden“ 12 (Liedtke 2016: 40).

Das gilt in erster Line für unseren alltäglichen Gebrauch der Worte, auch für den geisteswissenschaftlichen Kontext, weniger jedoch für den naturwissenschaftlich-mathematischen. Also dort, wo die Bedeutung eines Wortes oftmals nicht sein Gebrauch in der Sprache, sondern per definitionem gesetzt und von den anderen Teilnehmern des Sprachspiels akzeptiert ist (wobei Husserl dem wohl entgegnen würde, dass dies nur Schein ist: „Gleich mit Galilei beginnt (…) die Unterschiebung der idealisierten Natur für die vorwissenschaftlich anschauliche Natur“ (Husserl 2012: 53). Hier ist die Bandbreite der Bedeutung des Wortes eingeschränkt und ihrer individuellen lebensweltlichen Variationsbreite, ihrer Konnotationen und Implikationen künstlich enthoben. Es wird in gewisser Weise eine relative Bedeutung absolut gesetzt und aus Gründen der effektiven Kommunikation bis auf Weiteres einvernehmlich ideologisiert. Wird diese Bedeutung jedoch nicht beständig reflektiert, sondern unreflektiert perpetuiert, so besteht die Gefahr, dass sich ein nachlässiger Gebrauch einschleicht: Wissenschaftliche Sprachspiele sind dafür, da man sich hier gerne mit Autoritäten schmückt und lieber auf die Schultern von Riesen steigt statt deren Begriffsgebrauch zu hinterfragen, sehr empfänglich.

2.10 Ausbruch aus dem Gefängnis der Dichotomie

Gemeinsam ist soziokulturellen Phänomenen, so von Hayek, dass „aus Regelmäßigkeiten individuellen Verhaltens (der) Charakter der daraus resultierenden Ordnung“ rekonstruiert werden kann, (Keller 2014: 62). Dumm nur, dass wir „in einer von Dichotomien geprägten Kultur“ (Keller 2014: 63) leben, die keinen rechten Sinn für prozessual definierte Erklärungsmuster hat. Da gibt es eben die von der Natur aus gegebenen Dinge auf der einen und die künstlichen, von Menschen geschaffenen Artefakte auf der anderen Seite. Basta. Nehmen wir das so hin, haben wir größte Schwierigkeiten, die einfachsten Dinge des alltäglichen Lebens und Miteinanders auch nur ansatzweise angemessen zu beschreiben.

Ob Bräuche, Traditionen oder wissenschaftliche Diskurse – ich folge ihnen nicht aufgrund meines Verstandes oder meiner Vernunft, auch nicht aufgrund meines Gefühls oder meiner Instinkte. „Ich folge sozialen Regeln“ (Keller 2014: 64). Und „wenn ich der Regel folge, wähle ich nicht. Ich folge der Regel blind“ (Wittgenstein 1977: 134 (PU 219)). Einer Regel folge ich also nicht bewusst, ich reflektiere sie nicht oder stelle sie in Frage. Ich folge ihr ganz automatisch, weil sie Teil der Lebenswelt ist, in die ich hineingeboren wurde. „Soziale Regeln werden gleichsam zu unserer zweiten Natur. Sie sind ein Teil meines Ich“ (Keller 2014: 65). Sie sind weder natürlich gegeben noch künstlich geschaffen. Eine Sprache zu sprechen heißt also, gewissen nicht verabredeten, nicht durch Übereinkunft erzielten oder von einer supranationalen Normungsorganisation gesetzten sozialen Regeln zu folgen. Ihre Befolgung13 erfolgt nicht bewusst, nicht geplant und nicht vorsätzlich. Und ihre Befolgung dient, wie gesagt, in erster Linie nicht der Verständigung, sondern der Beeinflussung: Ich will jemanden dazu bringen, „etwas Bestimmtes zu tun bzw. zu glauben“ (Keller 2014: 65).

In Platons Dialog ‚Kratylos’, Nukleus abendländischer Sprachphilosophie, stehen sich zwei Positionen diametral gegenüber. Die des namensgebenden Kratylos, der behauptet, dass allem, was es an Benennbarem gibt, von Natur aus eine objektiv richtige Benennung zukommt (‚physei’). Sein Kontrahent Hermogenes hingegen vertritt die recht modern anmutende Auffassung, dass die Verbindung von Bedeutung und Ding vom Menschen gemacht wird. Wortbedeutungen werden demnach willkürlich festgelegt und beruhen auf Konvention, also Übereinkunft und Gewohnheit (‚thesei’) (Platon 1980: 124 ff.). Grundsätzlich können sie, so Hermogenes, von jedem geändert werden. Ja, jeder ist jederzeit imstande, seine eigene Privatsprache zu schaffen und einem Wort die Bedeutung eines anderen Wortes zu geben, wodurch die neue Benennung gültig und richtig wird.

Um dem Gefängnis der Dichotomie von physei vs. thesei, von natürlich vs. künstlich zu entkommen, hinterfragt Keller die mechanistische Variante der gegensätzlichen Erklärungsmodelle: Was heißt das nun genau, etwas sei künstlich, also ‚von Menschen gemacht’? Ein Gegenstand, der von Menschen gemacht wurde, kann, so Keller, (A) ein „Ergebnis menschlicher Handlungen“ sein oder (B) „aufgrund menschlicher Intentionen entstanden“ sein. „Nun impliziert zwar B A, aber A impliziert nicht B“ (Keller 2014: 83). Das, was aufgrund menschlicher Intentionen entstanden ist (B), ist auch das Ergebnis menschlicher Handlungen (A), aber Ergebnisse menschlichen Handelns (A) müssen nicht zwingend intendiert (B) sein. Darauf wies schon Mephisto hin, der ja, zumindest nach eigener Aussage, stets das Böse will und stets das Gute schafft. Solche Resultate sind dann „Ergebnisse menschlicher Handlungen, nicht aber Ziel ihrer Intentionen“ (Keller 2014: 84). Damit passt das Erklärungsmuster nicht mehr in die klassische Dichotomie – Resultate dieser Art sind zwar, wie Artefakte, künstlich, aber eben nicht wie diese gezielt, geplant und vorsätzlich geschaffen.

Alle Phänomene, „which are indeed the results of human action, but not the execution of any human design“ (Keller 2014: 85; zitiert nach Adam Ferguson 1767: 187) gehören in diese dritte Kategorie – neben den Kategorien ‚natürlich’ und ‚künstlich’. Keller nennt diese soziokulturellen Phänomene darum „Phänomene der dritten Art“ (Keller 2014: 85): Sie sind nicht intendierte kollektive Folgen zum Teil millionenfacher gleichgerichteter intentionaler individueller Handlungen. Folgen eben jenes Wirkens der unsichtbaren Hand, das Adam Smith beschrieb. Dazu gehört die Entstehung der Inflation ebenso wie die des Trampelpfads auf dem Universitäts-Campus, des Staus aus dem Nichts oder eben der Sprach- bzw. Bedeutungswandel.

2.11 Intendieren, Meinen, Bedeuten

Um eine angemessene Erklärung soziokultureller Phänomene wie das des Sprachwandels oder, ihm logisch vorausgehend, der Etablierung von Bedeutung liefern zu können, kann man nicht bei bestehenden Strukturen beginnen, sondern muss methodologisch eine Erklärung dafür liefern, wie diese Strukturen entstehen: „Ausgangspunkt der Erklärung sind handelnde Individuen“ (Keller 2014: 164). Diese „nominalistische Strategie“, wie sie der Linguist Frank Liedtke im Rekurs auf den britischen Sprachphilosophen Jonathan Bennett nennt, ist alternativlos: „Jede andere Strategie wäre hoffnungslos zirkulär“ (Liedtke 2016: 43).

Die Frage, wie sich Bedeutung systematisch etablieren kann, geht mit der Frage einher, wie sich bei anderen das Verständnis eben dieser Bedeutung systematisch etablieren kann. Denn auf der Handlungsebene, auf der sich der Mensch Zeit seines Lebens de facto bewegt, ist er immer in soziale Kontexte eingebunden (es sei denn, wir reden hier über einen ewigen Robinson Crusoe ohne Chance auf einen Freitag). Das heißt, es muss gezeigt werden, was es bedeutet, wenn ein singuläres Sprachverhalten von einem anderen ‚verstanden’ wird. Und wie im Zuge der „sozialen Kristallisation“ (de Saussure 2013: 16), die als soziokulturelles Phänomen auch ein Prozess der unsichtbaren Hand ist, also nicht geplant, nicht gezielt, nicht vorsätzlich, nicht bewusst abläuft und potentiell endlos, also nie abgeschlossen ist, eine singuläre „Sprecher-Bedeutung“ (H. Paul Grice) über den Weg der etablierten Bedeutung zur konventionellen Bedeutung eines Äußerungstyps werden kann.

Bedeutungskonstitution ist nie eine einseitige Angelegenheit. Wenn ich etwas sage und niemand ist da, dem ich es sage, dann gibt es auch niemanden, dem das, was ich sage, etwas sagt. Mithin läuft in dieser Konstellation meine Intention ins Leere, ist das, was ich sage, bedeutungslos. Es bedarf also immer eines Gegenübers (idealer Weise eines Menschen, nicht Alexa), der die Grundbedingungen dafür erfüllt, dass er das, was ich ihm sage, in der Lage ist zu erfassen. Wenn ich diesem Gegenüber etwas sage, was nicht durch schnöden Rückgriff auf den konventionellen Sprachgebrauch verständlich ist, so muss dieser Gegenüber, damit er weiß, was ich mit dieser Äußerung meine, meine Intention erkennen, mit der ich meine Äußerung gemacht hat: ‚Die Tür ist offen’. Verfügt mein Gegenüber über ein ausreichendes Kontextwissen, so wird er hoffentlich erkennen, dass es sich hier z.B. um eine Aufforderung handelt, endlich die Tür zu schließen, weil es wie Hechtsuppe zieht.

Zu wissen, „was jemand mit einer Äußerung meint“ (Liedtke 2016: 35), bedeutet, die Intention des Sprechers zu erkennen. Diese kommunikative Intention oder „Sprecher-Intention“ (H. Paul Grice) ist die Bedeutung der Äußerung: die „Sprecher-Bedeutung“ (H. Paul Grice) – damit stehen wir strukturell gesehen am Anfang der Bedeutungsetablierung. Bedeutung konstituiert sich nur in Ausnahmefällen als ein Akt der Setzung, in der Regel resultiert sie aus einer dialogisch strukturierten Situation, in der der Angesprochene die „reflexive Intention“ (Liedtke 2016: 37) erkennen muss, um zu wissen, was der Sprecher meint (also die „Sprecher-Intention“ resp. Sprecher-Bedeutung“ erkennen).

Der britische Sprachphilosoph Herbert Paul Grice hat für den Fall des Meinens (und damit mein Verstehen dessen) ein handlungstheoretisches Grundmodell entwickelt:

  1. Ich intendiere, dass du erkennst, dass ich mit meiner Äußerung a beabsichtige.
  2. Ich intendiere, dass du meine Intention (i.) erkennst.
  • Ich intendiere, dass du erkennst, was ich mit meiner Äußerung a beabsichtige, indem du meine Intention (ii.) erkennst.

Der Angesprochene muss also eine reflexive, interpretative Leistung erbringen, um den Gehalt der kommunikativen Intention (die Sprecher-Intention), also das mit der Äußerung Gemeinte, die intendierte Wirkung (die Sprecher-Bedeutung) verstehen zu können. Um eine realistische Chance zu haben, diese Leistung erbringen zu können, muss er über relevantes Kontextwissen verfügen. Diese Informationen „umfassen allgemeines Weltwissen, also physikalische Gesetze oder kulturelle Praktiken, außerdem Einschätzungen der aktuellen Situation und schließlich das, was im Diskurs vorher gesagt oder im Text vorher geschrieben wurde“ (Liedtke 2016: 38). Dazu gehört auch das von Karl Mannheim beschriebene konjunktive Denken, das mit einem ebensolchen Wissen korrespondiert. Bei diesem Wissen handelt es sich um akkumulierte geteilte, ausgetauschte Erfahrungen, intersubjektiv konstituiert durch Gemeinschaft (und so Gemeinschaften bildend). Und doch ist dieses nie zur Gänze explizierbar, obwohl es doch zur „Orientierung in und Gestaltung und Interpretation von einer Welt beiträgt, in der wir zuhause sind“ (Kettler, Meja, Stehr in: Mannheim 1980: 22).

Lassen wir an dieser Stelle Mannheims grundsätzlichen Zweifel an der Möglichkeit der reflexiven Vergegenwärtigung gemeinschaftskonstituierenden Wissens einmal beiseite: Bei sprachlichen Äußerungen vom einfachen Typ wie ‚Die Tür ist offen’ sind die genannten Aspekte gewiss von nachrangiger Bedeutung, wenn es um das Erkennen der Sprecher-Bedeutung geht. Aber es sind komplexere Äußerungen denkbar, in denen ein etwas umfangreicheres Welt- und Kontextwissen erforderlich ist. So bei einem Satz wie: „Eine Kunst, die im Grunde keine Kunst mehr sein will, sondern Belehrung, endet rasch in solchen Fallen der Bigotterie“ (Rauterberg 2017: 37).

Ob die Interpretation des Gemeinten durch den Angesprochenen mit der von mir intendierten Interpretation übereinstimmt, kann, so Liedtke, „nur wechselseitig unterstellt werden“ (Liedtke 2016: 40). Im Gespräch kann ich dies vielleicht noch durch eine simple Nachfrage in Erfahrung bringen. Bei der Lektüre des Artikels von Hanno Rauterberg wird das schon schwieriger. Angenommen, diesem Satz (bzw. den darin gebrauchten Worten, insbesondere dem Begriff ‚Kunst’) kommt hier eine singuläre Sprecher-Bedeutung zu: Wie soll ich, wenn es aus dem Kontext nicht eindeutig ersichtlich ist, herausfinden, ob meine Hypothese der Sprecher-Bedeutung richtig ist, ob also Herr Rauterberg und ich „übereinstimmende Interpretationen der Situation haben oder nicht“ (Liedtke 2016: 40)? Um gerade in Fällen wie diesen eine halbwegs realistische Chance auf eine flüssige Kommunikation zu haben, müssen wir „auf eine gängige Bedeutung der geäußerten Ausdrücke zurückgreifen“ (Liedtke 2016: 41) können (Liedtke ist der Ansicht, dass Sprecher_innen wie Adressat_innen eben dies auch ständig tun, es also in der Regel eine solche gängige Bedeutung gibt (was zu beweisen wäre). Aber reicht nicht schon die Suggestion einer gängigen Bedeutung, um die flüssige Kommunikation aufrecht zu erhalten? Dies scheint mir im alltäglichen Gebrauch der Sprache der Normalfall zu sein).

2.12 Von der singulären zur konventionellen Bedeutung

Die etablierte Bedeutung eines Ausdrucks ist, wie gesehen, weder etwas, was ‚physei’ ist, also natürlich gegeben, noch etwas, was ‚thesei’ ist, also durch Gewohnheit und Übereinkunft erzielt. Sie ergibt sich in der Regel als Resultat menschlicher Handlungen, nicht aber als Ergebnis eines menschlichen Plans – „sie entsteht letztlich aus singulären sprachlichen Äußerungen und ihrer Intentionszuschreibung“ (Liedtke 2016: 41). Es sind daran immer Sprechende beteiligt, die bestimmte Intentionen haben, sowie Mitsprechende, die diesen Ausdrücken und Äußerungen in aktuellen Situationen bestimmte Intentionen zuschreiben. Aus dem millionenfachen Vollzug solcher Handlungen entstehen ungeplante, nicht vorsätzliche, kollektive kausale Resultate – idealiter die etablierten Bedeutungen. Und, in letzter Konsequenz, „allmählich eine Einzelsprache als Durchschnitt der Verwendungen vieler Sprecher“ (Liedtke 2016: 41) so wie sich ganz ähnlich aus solchen Einzelfällen „auch andere etablierte Formen der menschlichen Interaktion oder auch der menschlichen Kultur“ (Liedtke 2016: 41) in einem Prozess der unsichtbaren Hand entwickeln.

  1. Paul Grice hat ein idealtypisches Modell entwickelt, wie wir uns eine solche systematische prozessuale Entwicklung innerhalb einer Sprachgemeinschaft von der singulären Situationsbedeutung hin zur konventionellen Bedeutung vorzustellen haben:
  2. Situationsbedeutung: „sie gilt nur in der spezifischen Verwendungssituation“ (Liedtke 2016: 42). Die geäußerten Sätze und Worte ergeben sich in diesem Fall ausschließlich aus dem konkreten Kontext der Äußerung.

Diese Bedeutung differenziert Grice in die

a.1 Situationsbedeutung eines Ausdrucks sowie

a.2 Situationsbedeutung eines Sprechers

Letztere (a.2) ist hier von vorrangigem Interesse: Anhand des reflexiv angelegten Grice‘schen Grundmodells

  1. Ich intendiere, dass du erkennst, dass ich mit meiner Äußerung a beabsichtige.
  2. Ich intendiere, dass du meine Intention (i.) erkennst.
  • Ich intendiere, dass du erkennst, was ich mit meiner Äußerung a beabsichtige, indem du meine Intention (ii.) erkennst.

erschließt sich die jeweilige Intention des Sprechers. Aus dieser Sprecher-Intention ist die singuläre Bedeutung des Sprechers, seine Situationsbedeutung, zu ersehen. Sie ist, sprachlogisch gesehen, die erste, ursprünglichste Form der Sprecher-Bedeutung. Und damit der Anfang des Prozesses zur Bedeutungsetablierung, an dessen Ende erst die etablierte und dann die konventionelle Bedeutung steht – hier handelt es sich um „die Ableitung der Bedeutung sprachlicher Ausdrücke aus dem Begriff der (reflexiven) Sprecher-Intention“ (Liedtke 2016: 43).

Die zweite hier relevante Art der Bedeutung ist die

  1. zeitunabhängige Bedeutung: „die etablierte Bedeutung, die einem Ausdruck (sei es ein Wort oder ein Satz) unabhängig von einer bestimmten Verwendungssituation, also zeitunabhängig, zukommt“ (Liedtke 2016: 42)

Da nun viele Ausdrücke, so auch ‚Kunst’, mehrdeutig sind, „geht aus dem Verwendungskontext hervor, welche von den Möglichkeiten im Bedeutungsspektrum realisiert wird“ 14 (Liedtke 2016: 43). Diese im Kontext verwendete Variation der etablierten Bedeutung nennt Grice die „angewandte zeitunabhängige Bedeutung“.

Um die aktuelle Bedeutung zu erkennen, muss erstens herausgefunden werden, ob es sich um eine angewandte zeitunabhängige Bedeutung (b.) oder aber um eine Situationsbedeutung (a.) handelt und zweitens, wenn es sich um (b.) handelt, welche der Möglichkeiten im Bedeutungsspektrum dann hier Anwendung findet.

Die Frage ist nun, „wie sich die zeitunabhängige Bedeutung aus der Situationsbedeutung ableiten lässt“ (Liedtke 2016: 43). Dazu muss man in dem Erklärungsmodell den erstmaligen Gebrauch einer Bedeutung durch einen Sprecher annehmen – die erwähnte Sprecher-Intention als singuläre Bedeutung des Sprechers. Erkennt der Angesprochene die reflexive Intention, so versteht er sie als die Situationsbedeutung des Sprechers. Lässt nun der Sprecher diese offensichtlich recht verständliche Verwendungsweise zur Gewohnheit werden, die von weiteren Angesprochenen erkannt wird, so unterstellen diese ihm, dass er mit dem Gesagten auch in der neuen Situation meint, was er zuvor erstmalig gemeint hat – dass er „ein bestimmtes Verfahren in seinem Repertoire“ hat (Liedtke 2016: 44).

Wenn nun andere zukünftig „mit dieser Verwendung in dieser Art von Situation“ (Liedtke 2016: 44) rechnen, ist aus der Sprecher-Bedeutung die etablierte Ideolekt-Bedeutung eines Ausdruckstyps geworden. Erweitert sich dieser nun so etablierte Sprachgebrauch einer Person kontinuierlich (aber ungeplant, ungezielt, nicht vorsätzlich oder gar bewusst), indem verschiedene Sprecher einer Gruppe seine Verwendungsweise übernehmen und erweitert sich die Gruppe dann sukzessive um immer weitere Gruppen, wird sie „zur zeitunabhängigen Bedeutung des Äußerungstyps“ (Liedtke 2016: 44). Und, als das kollektive, ungeplante und nicht intendierte Resultat all dieser ungezählten individuellen intentionalen Handlungen, zur etablierten und schließlich zur konventionellen Bedeutung eines Ausdruckstyps – bei diesem kollektiven Resultat handelt es sich um eben jene „soziale Kristallisation“, von der der schweizerische Sprachwissenschaftler Ferdinand de Saussure15 gesprochen hat: „Zwischen allen Individuen, die so durch die menschliche Rede verknüpft sind, bildet sich eine Art Durchschnitt heraus: alle reproduzieren – allerdings nicht genau, aber annähernd – dieselben Zeichen, an die dieselben Vorstellungen geknüpft sind“ (de Saussure 2013: 15).

Muss ich bei einem singulären Sprachgebrauch, der Sprecher-Intention, noch diese reflexive Intention erkennen, um zu verstehen, was gemeint ist, wird sie „ab einer  bestimmten Konventionalisierungsstufe (…) obsolet“ – sie „ergibt sich aus der Verwendung eines etablierten Sprachmittels“ (Liedtke 2016: 44). Damit ist systematisch der Prozess beschrieben, der „von der individuellen Gewohnheit eines Ausdrucksgebrauchs hin zu einer kollektiven Praxis“ führt (Liedtke 2016: 44). In diesem intersubjektiv konstituierten Sprachspiel korreliert die etablierte Verwendungsweise mit einer entsprechenden Verständnisweise, die eine flüssige und gelungene Kommunikation sicherstellt. Idealiter.

2.13 Die soziale Welt – ein Trampelpfad

„Das Wesen der menschlichen Kultur im Allgemeinen und das der Sprache im Besonderen“ (Keller 2014: 87) erweist sich weder als ein Naturphänomen noch als ein Artefakt – es ist ein Phänomen der dritten Art. Unser Problem, dies angemessen zu beschreiben, liegt darin begründet, dass wir zwar um eine solch „trichotome Unterscheidung“ (Keller 2014: 89) wissen, sie aber in „dichotomer Terminologie“ (Keller 2014: 89) treffen müssen. Unser sprachliches Handicap zeigt sich plakativ an folgendem Beispiel, das Keller gibt: Wir unterscheiden nicht allein natürliche von künstlichen Blumen, wir unterscheiden auch natürliche Zahlungsmittel (Geld) von künstlichen Zahlungsmitteln (Geldsurrogate) (Keller 2014: 88). Und das, obwohl natürlich jeder weiß, dass natürliche Zahlungsmittel nicht natürlich sind, sondern künstlich (von Menschen geschaffen).

In Ermangelung eines passenden Adjektivs verwenden wir „umgangssprachlich das Adjektiv ‚natürlich’ zweideutig“ (Keller 2014: 89). So tragen wir selbst – unbewusst, ungewollt, ungeplant, unbeabsichtigt – zur Verwirrung und Verstetigung des dichotomen Sprachgebrauchs bei. Ganz so, wie ich als Autofahrer dazu beitrage, dass sich ein Stau aus dem Nichts entwickelt. Oder als Fußgänger, dass ein Trampelpfad entsteht:

A ist spät dran und will auf dem schnellsten und kürzesten Weg zu B. Er stellt sein Auto auf dem Parkplatz ab und überquert eilig den Rasen. A1, A2 und An parken ebenfalls dort, der eine oder andere ist vielleicht auch spät dran. Allen gemeinsam jedoch ist ein ausgeprägter Hang zur Faulheit. Weshalb auch sie nicht den eigentlich vorgesehenen, aber verdammt langen Fußweg nehmen. Sondern die Abkürzung über den Rasen. Und nach einigen Wochen oder Monaten kommt es, wie es kommen muss: Es ist ein Trampelpfad entstanden.

Weder der Stau noch der Trampelpfad gehörte „zu den Intentionen der einzelnen Handelnden“ (Keller 2014: 90), beides ist aber das kollektive Resultat gleichartiger Handlungen aller am Prozess Beteiligten – es sind dies kollektive Epiphänomene individueller intentionaler Handlungen. Jeder Einzelne trägt dabei im Kollektiv Verantwortung für etwas, wofür er als Einzelner nicht verantwortlich ist.

A will auf dem kürzesten Weg zu B. Schafft A das, so ist die Handlung ‚gelungen’, das ‚Ergebnis’ eingetreten („primäre Intention“, Keller 2014: 91). Das angestrebte Ziel dieser primären Intention ist, dass ich pünktlich zu meiner Verabredung komme – dies ist die ‚Folge’ meiner Handlung („sekundäre Intention“, Keller 2014: 92). Tritt sie ein, ist die Handlung nicht nur ‚gelungen’, sondern auch ‚erfolgreich’. Tritt sie nicht ein, weil A trotz aller Bemühungen zu spät kommt, wäre die Handlung zwar ‚gelungen’, aber nicht ‚erfolgreich’. Was ist aber nun der Trampelpfad – Ergebnis oder Folge der Handlungen von A?

Nichts von beidem. Denn zum einen beabsichtigt A ja nicht, einen Trampelpfad anzulegen – A will nur pünktlich sein, weshalb er den kürzesten Weg wählt. Zum anderen würde es A, selbst wenn er es wollte, beim besten Willen nicht schaffen, einen Trampelpfad durch seinen Gang über den Rasen anzulegen. Das klappt nur im Verbund mit anderen:

Der Trampelpfad ist ein kollektives, nicht intendiertes Resultat intentional zumindest partiell gleichgerichteter individueller Handlungen – bei Phänomenen dieser Art handelt sich „um kausale Konsequenzen der Ergebnisse der sie erzeugenden Handlungen“ (Keller 2014: 92).

Solch kollektive Konsequenzen individueller Handlungen sind, wie gesagt, weder Artefakte noch Naturphänomene, es sind ‚Phänomene der dritten Art’. Zu ihnen gehören aber nicht nur so scheinbar banale Dinge wie der Trampelpfad oder der Stau aus dem Nichts – dazu gehören alle soziokulturellen Ereignisse, also alle sozialen Institutionen wie Sprache, Recht, Geld, Märkte, Religion, Geschmack, ja: die Kultur selber. Sie etablieren sich strukturell analog der nominalistischen Strategie, die prototypisch bei der geschilderten Etablierung singulärer Wortbedeutungen (sie fordern ein Erkennen und damit Verstehen reflexiver Intentionen, also dessen, was ein Sprecher meint) und konsequenterweise auch bei der Etablierung verschiedener „Möglichkeiten im Bedeutungsspektrum“ (Liedtke 2016: 43) (wie es zum Beispiel bei dem Begriff ‚Kunst’ der Fall ist) zur Anwendung kommt: vom Einzelnen zum Ganzen, vom singulären zur konventionellen Gebrauch.

2.14 Mikroebene – Makroebene

Phänomene dieser dritten Art werden mittels der Theorie der unsichtbaren Hand erklärt, die Adam Smith (cf. Kap.1) in die Moralphilosophie und Ökonomie eingeführt hat. Sie erscheinen, hier zitiert Keller den amerikanischen Philosophen Robert Nozick, „wie das Ergebnis eines absichtsvollen Planes eines Menschen“, allerdings „auf eine Weise, die nichts mit irgendwelchen Absichten zu tun hat“ (Keller 2014: 97). Damit ist die Unterscheidung einer Mikroebene von einer Makroebene angesprochen: Die Ebene der individuellen Handlungen und ihrer perspektivisch gebundenen Sichtweise sowie die der „Betrachtung der Makroebene der sozialen Institutionen“ (Keller 2014: 97), also gewissermaßen die Perspektive der kollektiven Konsequenzen.

Die Betrachtung der Makroebene ist dabei zwar „prinzipiell unabhängig von der Mikroebene der sie erzeugenden individuellen Handlungsweisen“ (Keller 2014: 97). Aber leite ich nicht die Makroebene anhand einer Invisible-hand-Theorie (wie es die die Etablierung der Bedeutung eine ist) systematisch aus der Mikroebene her, so beschreibe ich die Makroebene bestenfalls, aber ich erkläre sie nicht. So wie es bei dem Phänomen des Staus aus dem Nichts, des Trampelpfads und auch der Inflation ist, so ist es auch bei der Sprache, dem Sprach- und Bedeutungswandel und der Kultur im Allgemeinen: Sie alle sind Resultat „des sozialen Handelns der Individuen“ (Keller 2014: 98). Aber dabei nicht zielgerichtet oder vorsätzlich entstanden, nicht geplant, nicht intendiert, nicht gewollt.

Allerdings sind diese Resultate keine Resultate in dem Sinne, dass sie finale Stadien des Prozesses ihrer Genese bezeichnen, sondern „Episoden in Prozessen kultureller Evolution, die weder einen benennbaren Beginn noch ein benennbares Ende haben“ (Keller 2014: 99). So sind denn auch die Veränderungen von morgen als „die kollektiven Konsequenzen unserer kommunikativen (resp. sozialen, S.O.) Handelns von heute“ (Keller 2014: 105) – und die Veränderungen von übermorgen als die Konsequenzen von morgen zu verstehen. Ad infinitum.

Sind diese kollektiven Konsequenzen das kausale Momentum der Erklärung, etwas, was eigentlich „für Naturphänomenerklärungen kennzeichnend ist“ (Keller 2014: 101), so stellen die intentionalen kommunikativen resp. sozialen Handlungen das finale Momentum dar. So „wie es für Artefakterklärungen kennzeichnend ist“ (Keller 2014: 101). Dieses Zusammenspiel entgegengesetzter Faktoren ist für soziokulturelle Phänomene charakteristisch – finale resp. intentionale Handlungen zeitigen kausale Konsequenzen, der freie Wille hat notwendige Auswirkungen. Die Konsequenzen müssen jedoch, wie beschrieben, aus intentionalen Handlungen ableitbar sein, vice versa müssen „kollektivistische Begriffe (…) reduzierbar sein auf individualistische Begriffe, sonst sind sie ohne Erklärungswert“ (Keller 2014: 121):

„Wenn zu kommunizieren vorteilhaft für die Gesellschaft wäre, ohne auch vorteilhaft für die Individuen zu sein, wäre es schwierig zu erklären, wie sich dieser Brauch hätte etablieren können“ (Keller 2014: 121/122).

2.15 Kultur – eine flüchtige Episode

„Man kann, was Kultur ist, was soziokulturelle Phänomene sind, in entscheidenden Aspekten nicht begreifen, wenn man sie nicht als Phänomen der dritten Art sieht“ (Keller 2014: 208). Wie alle sozialen Institutionen ist die Kultur weder natürlich gegeben noch ein Artefakt: Sie ist das Resultat eines Invisible-hand-Prozesses. Und der zeichnet sich nun einmal dadurch aus, dass er kollektive, kausale sowie nicht intendierte, nicht zielgerichtete, potentiell endlose Ergebnisse millionenfacher individueller intentionaler Handlungen zeitigt. Kultur als dieses Ergebnis ist also kein Ergebnis im Sinne eines zumindest temporär fixierten End-Produktes: Ihr Seinszustand ist der einer flüchtigen Episode (auf der synchronen Zeitachse) in einem zeitlichen Kontinuum (der diachronen Zeitachse).

Was nicht bedeutet, dass sich die Bedeutungszuschreibungen, also das, was von einer einzelnen Person, einer bestimmten Gruppe oder auch einer ganzen Gesellschaft unter ‚Kultur’ verstanden wird (und auch das Verständnis kann von Person zu Person, von Gruppe zu Gruppe, von Gesellschaft zu Gesellschaft zu gleichen Zeit so weit divergieren, dass es zwischen ihnen kaum eine Schnittmenge gibt), von einem Tag auf den anderen wandeln: Ähnlich, wie es innerhalb einer bestimmten Gruppe ein kommunikatives Mindestmaß an Kontinuität im Gebrauch bestimmter Äußerungstypen, also eine Stabilität in der „Art der diachronischen Identität“ (cf. Kap. 2.15, Keller 2014: 132) zur Verständnissicherung geben muss, so muss es auch innerhalb einer bestimmten Gruppe ein soziales Mindestmaß an Kontinuität bestimmter Werte auf der diachronen Zeitachse geben: eben die ‚diachronische Identität’.

Es leben in der Regel drei, maximal vier Generationen zur gleichen Zeit. Somit besteht die Notwendigkeit einer Verständnissicherung qua Kontinuität und Stabilität erst einmal nur für eben jene drei, maximal vier parallel lebenden und miteinander kommunizierenden Generationen. Von der ersten zur fünften besteht sie aus verständlichen Gründen jedoch kaum noch, hier begegnet der Kulturwandel dem Sprachwandel: Die Kultur als Phänomen hat sich in einem Generationen übergreifenden Invisible-hand-Prozess gewandelt, ohne dass es die daran Beteiligten bemerken bzw. bemerkt haben. Ebenso hat sich der Bedeutungsgehalt des Begriffs ‚Kultur’, der als Signifikant jedoch gleichgeblieben ist, in einem ebensolchen Prozess gewandelt, ohne dass es die daran Beteiligten bemerken bzw. bemerkt haben. Das heißt: Von Generation zu Generation wird sich in einem Prozess stetiger Erneuerung und Wandlung durch die einzelnen Mitglieder der jeweils nachfolgenden Generation der Anteil des ursprünglichen Verständnisses so weit reduzieren, dass die erste Generation, würde sie in die fünfte Generation katapultiert werden, große Schwierigkeiten haben dürfte, das nun vorherrschende Verständnis von Kultur als das ihre zu identifizieren (ähnlich verhält es sich beim Verständnis der Kunst). Und das, obwohl so mancher aus dieser fünften Generation steif und fest behaupten dürfte, dass es sich bei der gegenwärtigen Kultur (und dem gegenwärtigen Verständnis von Kultur) um nichts Anderes handelt als eben diese tradierte Kultur (und das tradierte Verständnis von Kultur).

Womöglich sind dies sogar dieselben, die den prozessualen Charakter der Kultur ignorieren oder gar ganz generell bestreiten, weil sie ein Verständnis von Kultur im Sinn haben, welches sie interessegeleitet künstlich setzen wollen, um einen bestimmten Zustand als verbindlich zu definieren – wobei sie natürlich in solchen Fällen zumeist die Deutungshoheit beanspruchen. So etwa, wenn die puristischen Wahhabiten für sich in Anspruch nehmen, die authentische Lehre des Islam zu vertreten, eine Weiterentwicklung des Koranverständnisses rigoros ablehnen, stattdessen interessegeleitet eine bedingungslose Rückbesinnung auf die Zeit des Propheten Mohammed verlangen und in der Scharia die einzig wahre, ewig gültige und für alle verbindliche Rechtsform sehen. Bei ihrem Bemühen um eine entzeitlichte, absolut gesetzte Fixierung des Verständnisses, die strukturell einer künstlichen Setzung als Artefakt, d.h. als End-Produkt gleichkommt, ist ihnen nun sprachlich und damit denkstrukturell ein Phänomen behilflich, von dem wir schon eingangs sprachen: unser Hang zur Hypostasierung, der mit der Vitalisierung und Anthropomorphisierung korreliert.

Strukturell ähnliches passiert, wenn auch nicht ansatzweise in solch extremer Ausprägung, bei der aktuellen Debatte um die ‚deutsche Leitkultur’: Hier wird (1.) die Existenz von etwas behauptet, das es in dieser Form nicht gibt und gar nicht geben kann – die Kultur als ein zumindest temporär der Zeit enthobenes, fixiertes Phänomen und nicht als prozessuale Episode. Und (2.) wird die Kultur, die so bereits artefaktisch, also wie ein End-Produkt konstituiert ist, hypostasiert, vitalisiert und anthropomorphisiert. Wie die Elektrizität, die Sprache, der Markt oder der Dax, so auch die Kultur resp. die Leitkultur: „Sie werden zu Akteuren stilisiert“ (Keller 2014: 199; cf. Kap. 2.1). Ein schönes, geradezu prototypisches Beispiel dafür hat der Soziologe und vormalige Bundestagspräsident Norbert Lammert in einem Vortrag in der Herzogin Anna Amalia Bibliothek in Weimar Anfang 2016 geliefert:

Jede aufgeklärte Kultur wird sich selbst nicht für die einzige, einzig mögliche, allen anderen überlegene halten. Leitkultur beansprucht nicht, überall in der Welt für alle zu gelten, sondern nur, aber natürlich, für die jeweils eigene Gesellschaft und ihre Mitglieder. Jede Kultur, die sich selbst ernst nimmt, ist insoweit eine Leitkultur.“

Hier ist es wieder, dieses sagenhafte animal rationale, von dem Keller sprach: ‚Kultur nimmt sich ernst’, ‚Leitkultur beansprucht Geltung’, ‚Aufgeklärte Kultur hält sich nicht für überlegen’. Dabei zitiert Lammert den Schriftsteller Adolf Muschg, der auf die Frage ‚Brauchen wir eine Leitkultur?’ antwortete: „Der Westen braucht keine Leitkultur, er ist eine“ – hier wird sprachlich sowohl der ‚Westen’ als auch die zur Diskussion stehende ‚Leitkultur’ als ein vergegenständlichtes Etwas apostrophiert. Aber Kultur wird nicht gesehen und verstanden als das, was sie ist: eine prozessuale Episode.

Was Muschg recht ist, ist Thomas de Maizière billig. In einem Gastbeitrag für die ZEIT, in dem er seine Grundsätze für eine „deutsche Leitkultur“ vorlegte, hypostasierte auch er die (Leit-)Kultur und beschreibt sie als ein der Zeit enthobenes, fixiertes Phänomen und nicht als prozessuale Episode:

„Es gibt so etwas wie eine ‚Leit­kul­tur für Deutsch­land’ (…) Wir haben in un­se­rem Land eine Zi­vil­kul­tur bei der Re­ge­lung von Kon­flik­ten (…) Wenn wir aber dar­auf ach­ten, dass wir uns un­se­rer Leit­kul­tur be­wusst sind und sie vor­le­ben, dann wis­sen wir um die Stär­ke die­ser Leit­kul­tur, kön­nen ei­ni­ges aus­hal­ten und müs­sen we­ni­ger aus­hal­ten, je über­zeu­gen­der un­se­re Leit­kul­tur wirkt. Wenn wir uns klar dar­über sind, was uns aus­macht, was un­se­re Leit­kul­tur ist, wer wir sind und wer wir sein wol­len, wird der Zu­sam­men­halt sta­bil blei­ben, dann wird auch In­te­gra­ti­on ge­lin­gen – heute und in Zu­kunft.

Lammert, Muschg und de Maizière lassen sich, wie nahezu alle, die diese Diskussion begleiten, von der Sprache verführen (dieser hypostasierende Ausreißer sei mir erlaubt): Es gibt keine Kultur. Zumindest keine in dem Sinne, in dem von ihr gesprochen wird. Sowohl bei der Kultur als Phänomen als auch bei dem Bedeutungsgehalt des Begriffs ‚Kultur’ (und damit bei unserem Verständnis) sichert allein die diachronische Identität eine generationenübergreifende Kontinuität und Stabilität. Kultur und unser Verständnis von ‚Kultur’ können sich aber, wie gesehen, schleichend und von den Beteiligten, obgleich ein (kollektives) Resultat ihrer individuellen intentionalen Handlungen, unbemerkt wandeln. So wie „kaum ein mittelalterlicher Mensch angenommen haben (dürfte), Glück sei aktueller Besitz, weil Glück im Mittelalter als ein zukünftiger Zustand galt, der über gegenwärtiges Leiden erreicht wurde“ (Eco 1990: 286)16, so war in der Renaissance, im Rückgriff auf Cicero, für die Vorstellung von der Menschlichkeit nicht die Achtung vor den Menschen und damit ihre ‚menschliche’ Behandlung zentral, sondern die Geistesbildung, die im Mittelalter erloschene studia humanitatis. Doch was ist mit unserer modernen Vorstellung von Menschlichkeit17 als Mitmenschlichkeit, Gerechtigkeit, Milde, von Toleranz, Respekt und Wohlwollen – ist sie tatsächlich so universell, wie manche glauben? Wird sie in den USA, von Montgomery/Alabama bis nach San Francisco, gleich verstanden und gleich gelebt? Und ist sie in Vorpommern die Gleiche wie in Serbien, Syrien, im Tschad, in China oder in Nord-Korea? Konnte die Bergpredigt seinerzeit so verstanden wurde, wie wir sie heute verstehen oder verstehen wir sie falsch, weil aus unserer heutigen Perspektive betrachtet?

Wenn Universalien, also Allgemeinbegriffe, hypostasiert oder gar vitalisiert und anthropomorphisiert werden, werden sie, wie Keller hinsichtlich der Betrachtung des soziokulturellen Phänomens ‚Sprache’ feststellt, oftmals „vom Sprecher abstrahierend als (relativ) autonomes Gebilde“ (Keller 2014: 171) gesehen. Sprache erscheint in diesem Moment, um mit Wilhelm von Humboldt zu sprechen, als ‚Ergon’, nicht als ‚Energeia’. Also als Werk, nicht als Tätigkeit. Diese Erkenntnis wird allerdings, so zitiert Keller den Sprachwissenschaftler Eugenio Coseriu, „oft zitiert, in den meisten Fällen jedoch, um sie rasch wieder zu vergessen und sich in die Sprache als ergon zu flüchten“ (Keller 2014: 171). Was folgt, ist die Betrachtung der Sprache als das, was sie nicht ist. Ein Umstand, bei dem es sich für Keller aber nicht um eine Flucht, „sondern um ein vom Arbeitsziel gebotenes Erfordernis“ (Keller 2014: 171) handelt. Dem kann sicherlich zugestimmt werden. Allerdings mit zwei Einschränkungen:

  1. Der Mensch hat, sei es am Stammtisch oder in der Alma Mater, die Neigung, es sich wie im Leben so auch im Denken einfach zu machen. Was im wissenschaftlichen Diskurs dazu führen kann, dass man, wenn man aufgrund gebotener Erfordernisse ein Phänomen (wie die Sprache oder die Kultur) quasi in einem anderen Aggregatzustand betrachten muss, als es faktisch gegeben ist, diese grundlegende Erkenntnis bei der Betrachtung des Phänomens nicht einschränkend im Hinterkopf behält, sondern sie, genau darauf weist Coseriu hin, schlicht vergisst. Ob das nun aus Trägheit, Laxheit, Unachtsamkeit, Gewohnheit oder was für Gründen auch immer geschieht – es führt oftmals zu einem perpetuierten, unreflektierten Gebrauch der Worte (und die Sprache nimmt nun mal ganz wesentlichen Einfluss auf unser Denken). Und deren Verwender werden dann, so der Germanist Steffen Martus (cf. Kap. 2.1), weiter „in ihrem ‚Sprachpanzer’ hausen und durch Wortdunst ihre handwerklichen Fehler verschleiern“.
  1. Zu sagen, dass die Sprache in der praktischen Linguistik, trotz Humboldts Einsicht, in der Regel nicht so betrachtet wird, wie sie gegeben ist, sei „ein vom Arbeitsziel gebotenes Erfordernis“, ist für viele Beteiligten leider nur ein willkommenes, billiges Argument, um sich von vornherein aus der Affäre und intellektuellen Verantwortung zu ziehen: Sie machen nicht einmal den Versuch, die

Dinge systematisch so zu betrachten und zu beschreiben, wie sie sind. Heidegger (wie auch in anderer Weise Wittgenstein, cf. Riedel 1990: 7) hat einen solchen Versuch unternommen. Hat versucht, einen Fluchtweg aus dem Gefängnis der Sprache zu finden, sich aus dem ‚Sprachpanzer’ zu lösen und unvorbelastete Begrifflichkeiten zu kreieren, um die Phänomene angemessener beschreiben zu können. Ein Ding der Unmöglichkeit, sicherlich. Aber lieber an der Unmöglichkeit ehrenvoll scheitern als sich wohlig in einer dauerhaft perpetuierten sprachlichen (und damit denkstrukturellen) Unangemessenheit intellektuell einzurichten.

2.16 Gegenläufige Handlungsmaximen

Einen Invisible-hand-Prozess in Gang zu setzen, kann durchaus ein geplantes Unterfangen sein. So, wenn sich bekennende Homosexuelle offensiv als ‚Schwule’ bezeichnen, um dem Begriff ‚schwul’ seine stigmatisierende und diskriminierende Funktion zu nehmen (Keller 2014: 129). Eine ähnliche Strategie wurde in den USA Anfang des 20. Jahrhunderts von den African Americans verfolgt, als es gang und gäbe war, sie als ‚negro’ zu diskreditieren, indem sie sich „das Wort aneigneten und positiv besetzten“ und „die Schreibweise ‚Negro’ (mit einem großen ‚N’) statt ‚negro’ verwendeten“ (Niedermeier 2014: Einleitung, o.S.).

Aber eine Planung bewirkt noch nicht den Vollzug. Den bewirken erst die, die sich dem entdiskriminierenden Gebrauch anschließen. Kaum anzunehmen, dass im Laufe des diachronen Prozesses der Verwendung die einzelnen Sprecher dabei nun einen Bedeutungswandel zu initiieren beabsichtigen – „aber faktisch bewirken sie ihn“ (Keller 2014: 129). Ganz ähnliches passiert, wenn der eine oder andere Kunsthistoriker eine singuläre Sprecher-Bedeutung (cf. Kap. 2.11 und 2.12) des Begriffs ‚Kunst’ verwendet: Will er eine Chance haben, dass sie einmal zu einer etablierten oder gar konventionellen Bedeutung dieses Begriffs wird, also zu einer der verschiedenen ‚Möglichkeiten im Bedeutungsspektrum’ (Liedtke), so muss diese Begriffsverwendung nach Maßgabe des methodologischen Individualismus „den langen Marsch durch das Handeln der Individuen“ (Keller 2014: 129) antreten – und „muss durch ihn erklärt werden“ (Keller 2014: 129).

Dabei hat diese singuläre Sprecher-Bedeutung realistischer Weise nur dann eine Chance auf Etablierung, wenn sie wenigstens zum Teil mit der tradierten Bedeutung (oder einer ihrer Möglichkeiten im Bedeutungsspektrum) übereinstimmt. Wenn also keine gewisse Kontinuität im Gebrauch besteht, keine Stabilität in der „Art der diachronischen Identität“ (Keller 2014: 132) gegeben ist, so ist die Chance, dass die reflexiven Sprecher-Intentionen von anderen verstanden werden, recht gering – man verstößt in diesem Fall geradezu prototypisch gegen eine der fundamentalsten Handlungsmaximen:

„Rede so, dass du verstanden wirst.“

Diese Maxime zielt auf einen Zustand der Homogenität in der Sprachverwendung, der nicht nur die Möglichkeit einer flüssigen Kommunikation sicherstellt, sondern eine solche Kommunikation überhaupt erst ermöglicht. Und weil Kommunikation nie eine einseitige Sache ist, sondern immer eine dialogisch angelegte, lässt sich diese Maxime in eine klassisch reziproke Kommunikationsstrategie übersetzen:

„Rede so, wie du denkst, dass der andere reden würde, wenn er an deiner statt wäre.“ (Keller 2014: 137)

Diese Strategie wirkt stabilisierend. Und wird zum Beispiel als Anpassungsstrategie eingesetzt, um seine Gruppenzugehörigkeit zu dokumentieren und zu zementieren:

„Rede so wie die anderen.“ (Keller 2014: 138)

Sie ist nicht nur bei Straßengangs oder Fußballfans beliebt, sondern auch bei ausgewiesenen und vermeintlichen Kunstexperten, wenn sie mal wieder in ihren arttypischen Art-Talk verfallen – Keller nennt sie „statische Maximen“ (Keller 2014: 139). Demgegenüber gibt es jedoch widerstrebende, destabilisierende Sprach- und Verhaltensmuster – Keller nennt sie „dynamische Maximen“ (Keller 2014: 139). Eine solche ist zum Beispiel:

„Rede so, dass du beachtest wirst.“ (Keller 2014: 139)

Befolge ich diese Maxime, will ich originell und innovativ sein. Diese Strategie darf ich aber nicht überstrapazieren. Denn wenn ich zu originell, zu innovativ werde, also zu wenig Rücksicht auf einen Minimalkonsens in puncto Verständlichkeit nehme, gefährde ich eben diese – und damit den Erfolg meiner Absichten: „Jede Innovation riskiert das Verständnis“ (Keller 2014: 140). Wenn ich nun „auffallen, aber doch verstanden werden“ will (Keller 2014: 141), muss ich beide Typen von Maximen, statische wie auch dynamische, gleichzeitig befolgen. Und einen Kompromiss finden, der beiden gerecht wird – schließlich lautet „die Hypermaxime unseres Kommunizierens“ (Keller 2014: 142):

„Rede so, dass du die Ziele, die du mit deiner kommunikativen Unternehmung verfolgst, am ehesten erreichst.“ (Keller 2014: 142)

‚Verstehen’ heißt im Kontext der Grice‘schen Theorie, „alle [offenen] Intentionen des Sprechers erkennen“ (Keller 2014: 133). ‚Nicht verstehen’ bedeutet, „nicht alle offenen Intentionen erkennen“ (Keller 2014: 133). Und ‚missverstehen’, dass “dem Sprecher Intentionen unterstellt (werden), die dieser nicht gehabt hat“ (Keller 2014: 133). Nun ist es aber so, dass wir durchaus nicht alle „Intentionen, die wir beim Kommunizieren verfolgen, (auch) kommunizieren“ (Keller 2014: 134). Ja, manchmal beabsichtigen wir sogar geradezu, dass unsere Absicht, „auf die es beim Vollzug einer Äußerung besonders ankommt“ (Keller 2014: 135), gerade nicht erkannt resp. verstanden werden. Was in der Konsequenz allerdings bedeutet, dass, im Gegensatz zum landläufigen Verständnis, Verständigung gerade „nicht ‚der Zweck’ der Sprache“ ist – „allenfalls einer unter vielen“ (Keller 2014: 135). Es kann andere, vorrangige Ziele einer Kommunikation geben. So zum Beispiel, andere von mir zu begeistern, eine gelungene Verständigung nur vorzugaukeln, jemanden zu täuschen, einzuschüchtern, mir gewogen zu machen oder auch schlicht für ein ‚very stable genius’ gehalten zu werden. Letzteres ist ein beliebtes Ziel des amtierenden amerikanischen Präsidenten, in moderater Form kommt es aber durchaus auch in der breiten Bevölkerung vor. Und selbst bei ausgewiesenen Kunstexperten soll ein solches Verhaltensmuster, so hört man, schon dann und wann aufgetreten sein.

  1. Ein historischer Abriss

3.1 kunst und techné

Worüber reden wir, wenn wir über Kunst reden? Wir reden zunächst einmal über ein Können. Denn in der Tat ist das althochdeutsche ‚kunst’ ein Verbalabstraktum zu ‚können’ und bedeutete ursprünglich ‚Wissen, Verstehen’. Es ist eine Lehnbedeutung, die sich aus der Übersetzung des lateinischen ars und griechischen techné herleitet. Letzteres bezeichnete einst das handwerkliche Können, erweiterte seinen Bedeutungshorizont aber schon in der Frühzeit der griechischen Antike auf alle Arten von Tätigkeiten. Damit verbunden war die Vorstellung eines praktischen Wissens, das ein planvolles und intentionales Handeln ermöglichte und als endlicher Prozess auf ein Ziel, télos, ein Werk, ergon, ausgerichtet war – in dieser artefaktischen Konzeption prägt techné als Gegensatz zur physis unsere abendländische Denkstruktur bis heute: in Form der Dichotomie von künstlich vs. natürlich.

Umfasste techné nun einerseits von der Leichenbestattung bis zur Dichtung alle möglichen Tätigkeiten, so differenzierte man andererseits die verschiedenen Tätigkeiten nach ihrem sozialen Status. Niedere Künste, also solche, die Schmiede, Köche oder eben Leichenbestatter ausübten, wurden von den höheren Künsten unterschieden, denen Redner, Dichter oder Musiker nachgingen. Hatte für die Sophisten die Kunst der Rede, also die Strukturierung von Wissen und dessen Weitergabe, den höchsten Stellenwert, so näherte sich die techné bei Platon unserem heutigen Begriff der Wissenschaft an: Für ihn stand nicht das bloße handwerkliche Können im Zentrum – er betonte so sehr die epistéme, das Wissen um die Objekte der jeweiligen techné, sowie das Wissen um die mit den Tätigkeiten verbundenen Zielen und Zwecke, dass epistéme und techné für ihn fast zu Synonymen wurden.

Aristoteles sah demgegenüber in der „schöpferischen Tätigkeit, die sich in der Kunst darstellt“ (Windelband/Heimsoeth 1976: 131), die „praktische Vernunftbetätigung“, zu der er das Handeln, praxis, sowie das Schaffen, poiesis, zählte. Dabei verstand er die techné eher als praktisches, zweckgerichtetes, anwendungsbezogenes Können und trennte sie deutlich von dem methodischen, theoretischen Wissen, der epistéme – darin zeichnete sich bereits die neuzeitliche Trennung von Kunst und Technik wie auch von Kunst und Wissenschaft ab. Für Aristoteles ist „Kunst (…) nachahmende Erzeugung“, ihr Zweck „ist ein ethischer“ (Windelband/Heimsoeth 1976: 131) – sie dient der Reinigung der Seele, der katharsis18: „Die Erziehung hat den Menschen aus seinem rohen Naturzustande mit Hilfe der edlen Künste zu sittlicher und intellektueller Bildung heranzuführen“ (Windelband/Heimsoeth 1976: 130).

3.2 Künste über Künste

Sokrates’ philosophische Methode wurde ‚Hebammenkunst‘ genannt. Die Sophisten übten sich in der Kunst der freien Rede. Für Platon waren Kunst und Wissen, epistéme und techné, praktisch austauschbare Begriffe. septem artes liberales, die Sieben Freien Künste, bildeten in der Antike den wissenschaftlichen Kanon: Grammatik, Rhetorik, Logik, Arithmetik, Geometrie, Musik, Astronomie. Wobei die freie Kunst von damals nicht die freie Kunst von heute war – sie beschrieb Fähigkeiten und Fertigkeiten, die nur dem freien Mann zugestanden wurden, nicht aber dem Sklaven. Kunst war Baukunst, Heilkunst, Kochkunst, bisweilen sogar Schwarze Kunst. Casanova beherrschte gleich zwei Künste – die Kunst des Lebens und, natürlich, die der Verführung. Kunst war, noch bis Kant, auch das Handwerk, das heute bestenfalls noch Kunsthandwerk ist. Kunst war nachahmende Erzeugung. Gegenpol zur Natur, künstlich vs. natürlich. Kunst ist: angewandte, schöne, bildende, darstellende, freie Kunst. Musik gehört, wie auch Tanz, Theater und Film als darstellende Künste, zu den schönen Künsten – aber studieren kann man sie nicht an einer Kunstakademie. Da wird nur Malerei, Grafik, Bildhauerei, Fotografie oder Video gelehrt. Auch der Kunsthistoriker beschäftigt sich eher selten mit Musik oder Dichtung. Und ein Kunstmuseum muss sich heute immer noch erklären, wenn dort Tanz oder Theater aufgeführt wird. Kunst ist oftmals Konzept, von manueller Fertigung und technischer Fertigkeit entkoppelt. Produkt des modernen emanzipierten, autonomen Subjekts. Resultat kreativer Prozesse. Oder der Prozess selber. Kunst wird aber auch genannt, was in vormythologischer Zeit des Jungpaläolithikums vor ca. 20.000 bis 40.000 Jahren der anatomisch moderne Mensch geschaffen hat. Um nur einige wenige Beispiele der üblichen (oder ehemals üblichen) Gebrauchsweisen des Begriffs ‚Kunst’ zu nennen.

Diese Vielfalt der Gebrauchsweisen und seine Zuschreibung auf inkohärente Phänomene macht deutlich, dass vielleicht das Zeichen gleich blieb, mit ihm über die Jahrhunderte kaum Gleiches gemeint sein konnte. Die ‚diachronische Identität’19 (Keller), also das gewisse Mindestmaß an Kontinuität im Gebrauch eines durch ‚soziale Kristallisation’ (de Saussure) entstandenen Äußerungstyps, sichert über einen bestimmten Zeitraum ein generationenübergreifendes Verständnis. Aber besitzt die etablierte Bedeutung (die regelhafte Gebrauchsweise), die der Äußerungstyp als Episode zu einem bestimmten Zeitpunkt in dem jeweiligen diachronen Kontinuum hatte, sei es in der Antike, der Renaissance oder der Aufklärung, eine signifikante Schnittmenge mit den Bedeutungsvarianten heutiger Prägung? Es hat sich hier kaum eine Art Durchschnitt herausgebildet, alle reproduzieren nicht einmal annähernd dieselben Vorstellungen bei denselben Zeichen – um an dieser Stelle einmal de Saussure zu paraphrasieren20.

Dabei ist mit dieser beschriebenen Vielfalt noch nicht mal ansatzweise die faktische Vielfalt der uns völlig unbekannten singulären Sprecher-Intentionen erfasst, der Ideolekt-Bedeutungen, der gruppenspezifisch etablierten Bedeutungen bis hin zu der Vielfalt der konventionellen Bedeutungen, von denen die Menschen über die Jahrhunderte insbesondere im alltäglichen Gebrauch der Sprache (welche schließlich die häufigste Form der Sprachverwendung ist – nur spricht man von ihr am seltensten) im Rahmen ihrer individuellen Äußerungen Gebrauch gemacht haben.

Diese beschriebene Vielfalt erfasst nur die Gebrauchsweisen derjenigen, von denen die Geschichtsschreibung für gewöhnlich berichtet. Also die der Geistesgrößen des antiken Griechenlands. Der römischen Philosophen und Dichter. Der großen Namen des Mittelalters, der Renaissance, der Aufklärung, Neuzeit und Moderne. Aber nicht der zahllosen ungenannten Zuschauer der griechischen oder römischen Tragödien und Komödien. Der begeisterten Zuhörer der Trobadore und Minnesänger. Der aufmerksamen Leser literarischer Werke. Der völlig hingerissenen Betrachter der Bilder, Skulpturen, der Videoarbeiten, Installationen und Performance. Also die große Masse derer, die als singuläre Personen gänzlich unbewusst ihren ungeplanten, ungezielten, nicht intentionalen, aber entscheidenden Beitrag zur kollektiven Bedeutungskonstitution des Begriffs ‚Kunst‘ innerhalb einer bestimmten Episode im diachronen Zeitkontinuum beigetragen haben.

3.3 Funktion des Theaters

Diente das Theater im antiken Griechenland zunächst rein kultischen Zwecken, so übernahm es später eine wichtige Funktion bei der Entwicklung der pólis, der attischen Demokratie und ihres Selbstverständnisses: Es war das Theater der freien Bürger, das sogar den Frauen offenstand. Dessen Besuch war nicht allein demokratisches Recht, es war geradezu religiös-moralische Pflicht, ge- und erlebte politische Partizipation. Der Handlungsverlauf der Aufführungen war weitgehend reglementiert, die Dichter bezogen sich in ihren Stücken auf Themen, Handlungen, Personen, Götter und Strukturen, die bei den Zuschauern als bekannt vorausgesetzt werden konnten. Eine Deutung der derart etablierten Gebrauchsweisen musste also nicht dem Gesagten gelten, sondern bestenfalls dem Mitgesagten, Implizierten.

Der Dichter, obgleich als Autor hoch geehrt, allen bekannt und von der pólis oftmals sogar bezahlt, trat hier nicht als emanzipiertes, autonomes biographisches Individuum in Erscheinung, dessen Stücke des Verständnisses der singulären, quasi erstinstanzlichen Sprecher- oder Autor-Intentionen oder des künstlerischen Ideolekts bedurft hätten. Denn der Dichter war nur insofern Individuum, als er Teil des gesellschaftlichen Systems war. Gebunden an Strukturen, Rituale und Regeln, an Konventionen, Kanonisierungen  und Kodifizierungen besaß er weder die Freiheit „in ihrem negativen Sinne als ‚Freiheit von etwas‘“ noch „in ihrem positiven Sinne als ‚Freiheit zu etwas‘“ (Fromm 2016: 30). Und damit besaß er auch „nicht die Freiheit zur Selbstbestimmung, seine Individualität zu realisieren“21 (Fromm 2016: 31). Rom übernahm die wesentlichen Formen und Strukturen des griechischen Theatersund baute sie zu einem massenwirksamen Instrument der Unterhaltung aus, die derpolitischen Machtrepräsentation diente: das Theater als antikes Phänomen staatstragender und damit den Staat stabilisierender Populärkultur. Mit der formalen Etablierung des Christentums als Staatsreligion 380 n.Chr22. durch das Dreikaiseredikt cunctos populos, spätestens aber mit dem Untergang des Weströmischen Reiches, ging im Westen auch eine Kultur unter, in der die Kunst eine staatstragende Funktion besaß und ein Spektakel für die Massen, also eine öffentliche Angelegenheit war – öffentlich zumindest für die ‚freien Bürger‘. Die christliche Lehre lehnte das spätrömische Theaterkonzept mit seinem Verständnisvon Öffentlichkeit und öffentlichen Vergnügungen, das auch die Vorführung der Autoritäten beinhaltete, rundweg ab. So kam es, dass die Bühne durch kirchliche Theaterverbote über das Mittelalter hinaus weitgehend aus dem öffentlichen Leben verbannt wurde – Verbote, die zum Teil noch bis ins 18. Jahrhundert aufrecht erhalten wurden. Zudem begriff sich das (weströmische) Christentum in platonischer Tradition als eine Religion des logos, nicht des eikón, des Wortes, nicht des Bildes. Es sollte geschrieben und gesagt, nicht aber gezeigt werden. Ideale Voraussetzungen also für den Anspruch des Klerus auf Deutungs- und Tradierungshoheit, der seinerzeit, wie praktisch, die einzige geschlossene Bevölkerungsgruppe darstellte, die lesen und schreiben konnte. So wurde nur das weitergegeben, was in seinem Interesse war.

Parallel dazu verlief die Entwertung des Individuums als Schöpfer der Werke: Sie endete im Mittelalter in dessen Anonymität. Der Autor starb, in Gottes Gnaden, einen leisen Tod23. Sein Name wurde kaum noch genannt, bekannt oder tradiert, Signaturen der Werke verschwanden fast völlig. Der Staat fiel sowohl als Auftrag gebende Instanz als auch als Zweckbestimmung aus. An seine Stelle trat die Kirche. Und mit ihr wandelte sich die Zielrichtung künstlerischen Schaffens: Die Werke hatten nun im Wesentlichen der Verherrlichung der Schöpfung Gottes zu dienen, die den profanen Schöpfern dieser Werke keinen Platz mehr ließ. Sie wurden aus dem tradierten Bewusstsein eliminiert. Eine Deutung der Bedeutung ihrer Werke erübrigte sich, waren diese doch als Werke un-bedeutend: Der Klerus als Auftraggeber und zumeist alleiniger Betrachter (resp. Leser) kanonisierte die Aussagen der künstlerischen Werke, setzte die Bedeutung des Gezeigten – und setzte damit der Bedeutung klare Grenzen.

Der Adel als Auftraggeber trat erst ab dem 12. und 13. Jahrhundert nennenswert in Erscheinung, insbesondere in der französischen und französisch inspirierten Hofkultur. Die höfisch-okzitanische Trobador-Lyrik, und in ihrem Gefolge der Minnesang, gelangte dabei zur höchsten Blüte. Es fanden nun auch andere Themen neben der Verherrlichung der Schöpfung Eingang in die Literatur. So die Poetisierung von sippe und minne, die Ideale der Ritterlichkeit mit ihrer strengen geschlechtsspezifischen Kodifizierung, der Gedanke des Tugendadels, der auch Nichtadligen eine adlige, ritterliche und damit moralisch edle Gesinnung zusprach. Dabei wurde die intensive Beschäftigung mit dieser Literatur oberste höfische Pflicht, ja: moralischer Auftrag.

Aber: Es blieb in weiten Teilen ein höfisches Spektakel, das Volk hatte nur sporadischen Anteil am offiziellen Geschehen. Die Masse ging, anders als im antiken Hellas und Rom, wieder in der Masse unter, von und zu ihr sprach man nicht. Und auch für die Autoren galt das, was Bertolt Brecht in den ‚Fragen eines lesenden Arbeiters‘ evozierte: „Wer baute das siebentorige Theben? In den Büchern stehen die Namen von Königen.“ Aber nicht die Namen derjenigen, die die Felsbrocken schleppten. So bleibt der Nibelungenlied-Dichter ungenannt, seine literarische Verantwortlichkeit gegenüber dem mündlich tradierten Erzählstoff war nach damaligen Verständnis obsolet. Generell gibt nur sehr wenige biographische, außerliterarische Spuren. Kaum einer der volkssprachigen Dichter des 12. und 13. Jahrhunderts ist greifbar, sei er auch noch so namhaft: Gottfried von Straßburg, Heinrich von Veldeke, Wolfram von Eschenbach, Hartmann von Aue, Walther von der Vogelweide – in zeitgenössischen Berichten oder urkundlichen Aufzeichnungen sucht man Hinweise auf sie zumeist vergebens.

3.4 Anzeichen des Wandels

Quell der mittelalterlichen Liebesdichtung war die unerfüllte Liebe zu einer als Ideal verehrten Frauenfigur, deren wahre Identität von den Dichtern kunstvoll zu verschleiern war. In dieser Tradition stand mit einem Bein Dante Aligheri, dessen Beatrice sein Leben bestimmten sollte, ebenso noch wie nach ihm Francesco Petrarca, der seine Laura hymnisch preiste. Mit dem anderen Bein aber standen beide bereits an der Schwelle zu einem neuen Zeitalter: der Renaissance und des Humanismus. Dante, der mit seiner Dichtung ‚Divina Commedia‘ das Italienische zu einer Literatursprache entwickelte, und mehr noch Petrarca befreiten sich von den Fesseln der mittelalterlichen Ordnung mit ihren strengen Regeln, Zwängen und Konventionen. Dabei war es insbesondere Petrarca, der eine neue Komponente in der Literatur etablierte: die radikale Subjektivität. Die Besteigung des Mont Ventoux 1336, gemeinsam mit seinem Bruder, stellte für ihn ein Erweckungserlebnis dar, das sein Leben grundlegend verändern sollte: Beim Blick von diesem unwirtlich kahlen Gipfel auf die blühende Landschaft der Provence erlebte er die Welt in ihrer ganzen Diesseitigkeit. Von nun an war sie ihm nicht mehr beschwerliche Durchgangsstation, ein Leben zum Tod. Von nun an besaß sie für ihn einen eigenen Wert.

Petrarcas veränderte Sichtweise war Ausdruck einer tiefgreifenden gesellschaftlichen Veränderung, die vor allem von den oberitalienischen Stadtrepubliken mit ihren reichen Handelshäusern ausging. Hier entwickelte sich ab dem 14. Jahrhundert ein selbstbewusstes Bürgertum, das sich zunehmend seiner tragenden Rolle in der Feudalgesellschaft bewusst wurde. Die tradierten Sozialstrukturen brachen auf, der Geldadel machte seinen Anspruch gegenüber Adel und Klerus geltend. In Zuge des Zivilisationsprozesses von der höfischen Gesellschaft hin zur modernen Leistungsgesellschaft wandelten sich mit den Sozialstrukturen auch die Persönlichkeitsstrukturen der am Prozess Beteiligten, insbesondere die des Bürgertums – und mit ihnen auch deren Sichtweise, Präferenzen und Prioritäten. Als Ausdruck seines erwachenden Selbstbewusstseins eiferte das Bürgertum Adel und Klerus nach, stellte seine ökonomische Macht prunkvoll zur Schau. Dabei waren Inhalte, Themen und Sujets künstlerischer Produktion nicht mehr nur religiöser Natur, sie erwuchsen mehr und mehr der profanen Lebenswelt.

Diese Änderung der Persönlichkeitsstrukturen machte auch vor den Künstlern nicht halt. Jetzt, wo sie nicht mehr auf Gedeih und Verderb an kirchliche und adlige Auftraggeber und damit an deren Kanon und Konventionen, an die Darstellung von Glaubensinhalten und die Verherrlichung fürstlicher Macht, gebunden waren, begannen sie sich zunehmend als selbstständig Handelnde zu begreifen. Als selbstbewusste Subjekte des Geschehens und autonome, eigenverantwortliche Individuen, die ein Leben vor dem Tod hatten. Die eigene Biographien besaßen, die es wert waren, in das Werk Eingang und in individueller, unverwechselbarer Handschrift Ausdruck zu finden.

Ihren literarischen Reflex erlebte die Entwicklung mit dem Aufkommen der Künstlerbiographien. Bis dahin wurden allein Herrscher, Feldherrn, Philosophen und Heilige mit Biographien heroisch gewürdigt, alle anderen waren Bürger zweiter Klasse, bestenfalls eine historische Randnotiz. Aber nun, Mitte des 16. Jahrhunderts, wurden erstmals auch Künstler einer solchen Biographie für würdig befunden, wurden sie aus der breiten Masse hervorgehoben, wurden relevant und für ein breiteres Publikum interessant. So erschien 1550 Giorgio Vasaris Werk Le Vite de’ più eccellenti pittori scultori ed architettori. Giulio Mancini beendete 1619 seine Considerazioni sulla pittura. Und 1672 veröffentlichte Giovanni Pietro Bellori sein Buch Le vite de’ pittori, scultori e architetti moderni.

3.5 Der Weg zur Moderne

In dem Moment, als sich der Künstler zusehends als autonomes Subjekt emanzipierte, begann er eine eigene, individuelle Bildsprache zu entwickeln, die nicht mehr hauptsachlich auf etablierte Bedeutungen rekurrierte. Sie brachte erstmals eine singuläre Künstler-Intention zum Ausdruck, eine eigenständige Künstler-Bedeutung, die sich vom Betrachter, Leser, Zuschauer nicht durch Rückgriff auf gelernte, konventionelle Gebrauchsweisen der Bildsprache erschließen ließ. Somit war für die Betrachter erstmals die Herleitung der Bedeutung des künstlerischen Ausdrucks aus der individuellen Intention erforderlich und, im weiteren Verlauf, das Verständnis des jeweiligen künstlerischen Ideolekts24.

Das Verständnis der Werke durch die Betrachter, Leser, Zuschauer war damit nicht mehr umfassend und ohne Weiteres gesichert. Es galt die individuellen Ausdrucksweisen, diese singulären Intentionen, die sich uns heute im Rahmen hochkomplexer individueller Bildsprachen vermitteln, zu interpretieren, um sie verstehen zu können. Eine Entwicklung, die ab dem 17. Jahrhundert ausgehend von Frankreich à la longue zur Etablierung eines völlig neuen, zuvor nie dagewesenen, weil bis dato nie benötigten Teilnehmers am Rezeptionsprozess führte: dem des Kunstkritikers.

Kunst wurde nunmehr zu einer autonomen Sphäre und Denkrichtung. Ein Phänomen, das es, wie der französische Philosoph Jacques Rancière 2013 in einem Gespräch25 mit Stephan Karkowsky im Deutschlandfunk betonte, in dieser Form erst seit dem 18. Jahrhundert gibt. Zuvor hatte die Kunst „noch nicht dieses Allgemeingültige, was sie heute hat“. Damals hatte sie „einfach einen Zweck zu erfüllen, sie musste zum Beispiel glorifizieren, (…) Prinzen darstellen oder Städte glorifizieren, oder eine soziale Funktion ausführen, oder aber die Ideologie illustrieren und auch wiederum feiern“. Ab Mitte des 18. Jahrhunderts änderte sich „diese Art, überhaupt uns mit Kunst auseinanderzusetzen als Begriff und auch als Erfahrung“. Seit diesem Zeitpunkt hatte die Kunst eine radikal andere Aufgabe, „als einfach nur schöne Dinge abzubilden. (…) Da ging es einfach um mehr, als nur etwas zu machen, abzubilden, darzustellen“.

Unsere Wahrnehmung, unser Verständnis und unsere Interpretation hat sich seitdem grundlegend verändert. Für Rancière muss deshalb „dieser Kunstbegriff, den wir jetzt haben, und der Anfang des 20. Jahrhunderts radikal neu gedacht worden ist“, muss einfach alles auf den Prüfstand: Wir müssen „über das Konzept der Modernität in der Kunst noch einmal neu nachdenken. All das, was in den 1940er-Jahren auch mit der Frankfurter Schule beispielsweise entstanden ist, die Art, wie man Kunstgeschichte aufgefasst hat, (…)  all das muss neu überdacht werden, und es muss eine neue Form des Denkens eingeführt werden“.

Ihm geht es „darum, die Dinge in die Kunst wieder zu rücken, die ursprünglich gar nicht zur Kunst gehört haben oder als eine so Art minderwertige Kunst galten wie zum Beispiel die Fotografie oder das Entstehen des Kinos, aber eben auch einfach nur populäre Unterhaltung, beispielsweise in den Music Halls.“ Es sind für ihn „diese einmaligen Ereignisse, die es damals gab, also diese speziellen Momente, die letztendlich dazu geführt haben, dass man die Definition von Kunst neu geschrieben hat, (…) diese Momente, wo etwas zu Kunst geworden ist, was man eigentlich im klassischen Sinne nicht als Kunst bezeichnet hat“, wie etwas, „was in einer gewissen Form als Kunst empfunden wurde, neu definiert worden ist, neu benannt worden ist“.

Das Phänomen des Bedeutungswandels hat es, wie beschrieben, immer gegeben. Er wird, vom Einzelnen unbemerkt, als kollektives Resultat im Rahmen des Prozesses der unsichtbaren Hand so lange ablaufen, wie es kommunizierende Menschen gibt. Und dieser stete Prozess des Bedeutungswandels (und parallel dazu der des Wandels des Verständnisses von ‚Kunst‘), der ja einer des Wandels der Gebrauchsweisen der Begriffe ist, wird sich auch von dem seit dem ausgehenden 4. Jahrhundert vorherrschenden christlich-abendländischen Dogma und seiner damit verbundenen Tradierung eines kanonisierten Kunstverständnisses (und entsprechenden Bedeutungssetzung) nicht davon abgehalten haben, so abzulaufen, wie er immer abläuft. Wenn auch, aufgrund fehlender schriftlicher Zeugnisse, von uns weitgehend unerschlossen. So wissen wir nur wenig darüber, wie die Menschen über die Werke der Vagantendichter des 11. und 12. Jahrhunderts mit ihrer das Leben der einfachen Leute thematisierenden, aber zumeist lateinisch verfassten Lyrik dachten. Wie in der Bevölkerung über die religiösen Legenden (lat. legenda, das Vorzulesende) gesprochen wurde, über die Volksdichtung, die Märchen und Sagen. Ob in späteren Jahrhunderten die Bänkel- und Moritatensänger für die Zuhörer einen künstlerische Stellenwert besaßen oder nicht – auch das wissen wir nicht.

Was wir aber wissen ist: Ob ein Werk als ein Kunst-Werk attribuiert wird, ist keine Frage der Zuschreibung Einzelner, auch nicht der Kunstexperten oder Kunst- und Kulturschaffenden. Es liegt eben nicht im Auge des Betrachters (auch wenn es der eine oder andere Kunstbeflissene vielleicht gerne hätte), sondern es ist das kollektive kausale, nicht geplante und nicht intentionale Resultat unzählig gleichgerichteter Handlungen Einzelner, ihrer Meinungsäußerungen, kommunizierter Betrachtungen, Erlebnisse, Eindrücke, die alles mögliche zum Ziel haben und intendieren können, nur nicht, ein Werk als Kunst-Werk zu apostrophieren (analog ist auch die Bedeutung des Begriffs ‚Kunst‘ ein solch kollektives Resultat individueller Handlungen).

3.6 Möglichkeiten des Verstehens

Das Problem des Verstehens von Bedeutungen künstlerischer Äußerungen ist eines, dass die Frage nach der Übereinstimmung von Verständnishorizonten berührt. Wenn in einem Prozess sozialer Kristallisation im Rahmen einer gesellschaftlichen Gruppe (wie umfangreich diese auch immer nun sein mag) ein gemeinsames konjunktives Denken und Wissen etabliert wird, so besteht die Hoffnung, dass die an dem Prozess Beteiligten zu einem bestimmten Zeitpunkt x (eine beliebige Episode im Zeitkontinuum, zum Beispiel der Zeitpunkt einer Aufführung der ‚Vögel‘ von Aristophanes im antiken Griechenland) über eine solche Schnittmenge der Bedeutungen verfügen, so dass auch ohne den reflexiven Rekurs auf eine singuläre künstlerische Intention ein problemloses Verständnis resp. eine flüssige Kommunikation darüber möglich ist.

Alle Zuschauer, Zuhörer, Betrachter oder Leser, die an diesem Prozess der Etablierung nicht teilgenommen haben, haben es selbstredend deutlich schwerer. Denn da sie nicht daran Teil hatten, sind sie nicht Teil dessen. Und verfügen deshalb auch nicht über die entsprechenden Vorbedingungen, die ihnen ein intuitives, problemloses (genauer gesagt: unterstellt problemloses) Verständnis ermöglichen würden: Die Schnittmenge der Vorbedingungen, die sich ansonsten durch eine Teilhabe an diesem Prozess der unsichtbaren Hand einstellen würde, tendiert bei ihnen gegen Null. In diesem Fall, und das ist die Regel, da nur die wenigsten Menschen auf der synchronen Zeitachse an dem Prozess teilgenommen haben und natürlich noch niemand aus der zukünftigen diachronen Zeitachse daran teilnehmen konnte, ist ein halbwegs angemessenes Verständnis der künstlerischen Werke26 erst durch einen nachträglichen hermeneutischen Prozess möglich. Wobei dies einen Prozess der Interpolation darstellt, der fortwährenden, niemals zu einem Ende kommenden und niemals ihr Ziel erreichenden Annäherung.

Dieses Problem ist auf der synchronen Zeitachse alltäglich. Es zeigt sich immer da, wo zwei Gruppen (wie groß sie auch immer sein mögen) aufeinandertreffen, deren beteiligte Individuen nicht einen gemeinsamen Prozess der sozialen Kristallisation durchlaufen haben27 – ein Problem, das heute angesichts der unsäglichen Debatte um Verteilungsquoten von Flüchtlingen brandaktuell ist. Aber auch im Kontext der Kunst ist dieses Problem, wenngleich nicht ansatzweise so dramatisch, so doch strukturell gegeben: Wie wollen wir zum Beispiel die Kunst der Aborigines verstehen, wenn wir den Prozess der kausalen kollektiven, nicht intendierten und nicht geplanten Konstitution ihrer Kultur, ihres Kunstverständnisses und ihrer Bedeutung des Begriffs ‚Kunst‘ nicht durch unsere individuelle intentionale Teilhabe mitgemacht, mitgetragen und mitverantwortet haben? Analog finden wir auch auf der diachronen Zeitachse dieses Problem: Unsere ‚diachronische Identität‘ mit dem antiken Griechenland mag erhofft, behauptet, schlicht unterstellt oder stillschweigend vorausgesetzt werden. Gegeben ist sie nicht.

Wir können, da wir aus nachvollziehbaren Gründen nicht am Konstitutionsprozess dieser Kultur, dieses Verständnisses von Kunst und der Bedeutungskonstitution des Begriff ‚Kunst‘ (resp. techné und ars) teilhatten, nur spekulieren, was mit den damals etablierten Bedeutungen gemeint sein könnte (vom Verständnis etwaiger singulärer Künstler-Intentionen ganz zu schweigen). Können nur interpolieren, uns dem Verständnis annähern, können uns aber niemals des Angemessenheit unseres Ergebnisses sicher sein: Wen sollten wir in einem dialogischen Prozess befragen können, ob unsere Interpretation angemessen ist?

Jeder Sprecher einer singulären Sprecher-Intention, eines Ideolekts, einer gruppenspezifischen und hernach vielleicht etablierten oder konventionellen Bedeutung, der darüber beredt Auskunft geben könnte, weilt längst nicht mehr unter uns. Aber selbst wenn er noch unter uns weilen würde, ist die Möglichkeit einer dialogischen Verifizierung der vermuteten Sprecher-Intentionen oftmals nur eine hypothetische. Und so läuft es in der Regel darauf hinaus, dass es sich bei den hermeneutischen Auslegungen um eloquente Spekulationen handelt, die ein Verstehen suggerieren, aber ‚Nicht-Verstehen’ bedeuten, weil die Interpreten „nicht alle offenen Intentionen erkennen“ (Keller 2014: 133). Oder sie stellen gar ein ‚Missverstehen’ dar, weil „dem Sprecher Intentionen unterstellt (werden), die dieser nicht gehabt hat“ (Keller 2014: 133)28.

Verständnissichernd ist allein die beschriebene Art des Verständnisdurchschnitts29 zwischen den Individuen (gleichwohl sind auch in dieser sozialen Kristallisation dieselben Zeichen nicht an exakt dieselben Vorstellungen geknüpft (zum Problem der Stellvertretertheorie der Zeichen cf. Keller 2018: 79), so gibt es in der diachronischen Identität der Bedeutungen nur bedingt einen Verständnisdurchschnitt, stellt sie sich doch gewissermaßen als die diachrone Verlängerung des synchronen Durchschnitts episodaler Ereignisse des permanent ablaufenden, potentiell unendlichen Invisible-hand-Prozesses dar. Und eine Bedeutungsidentität, die die Jahrhunderte überdauert, gibt es nur als reine Vermutung, die niemals verifiziert werden kann.

3.7 Die Künste im Wandel

 Mit der Renaissance begann Europas kultureller Aufbruch in die Moderne. Er erfasste nicht alle künstlerischen Gewerke parallel und auch nicht gleichermaßen. Auch verlief der Aufbruch alles andere als in makelloser Kontinuität. Es gab zahllose retardierende Momente, ja sogar Regressionen, Rückfälle in überkommene Muster, die zudem von Kultur zu Kultur unterschiedlich stark ausfielen.

Das Bürgertum erstarkte, wurde sich seiner gesellschaftlichen Bedeutung und ökonomischen Macht bewusst: Mit Selbstbewusstsein beanspruchte es seine Position als dritte Kraft neben Adel und Klerus. Einen sichtbaren Ausdruck fand dieses Selbstbewusstsein darin, dass es neben dem Klerus und dem Adel eine immer größere Rolle bei der Auftragsvergabe künstlerischer Produktionen spielte. Nur fühlte sich das Bürgertum nicht sklavisch am vorherrschenden Kanon gebunden, nicht an die die hymnische Lobpreisung der Schöpfung Gottes, nicht an die der jeweiligen Monarchen. Dadurch erschloss sich für die Künstler eine nie zuvor gekannte Freiheit in der künstlerischen Themenwahl und Inszenierung.

Parallel dazu verstärkte sich in diesen Jahrhunderten die Hinwendung zur Diesseitigkeit, die in der Reformation ihren ersten zeitgeschichtlich bedeutenden Höhepunkt fand. Das eigenständige, selbstbewusste Ich erwachte. Und behauptete sich gegenüber dem Ich, das allein durch die Gruppe, dem es zugehörte, seine Ich-Identität erhielt. So wuchs dem Künstler neben der Freiheit von kanonisierten Inhalten einerseits und Freiheit zur eigenständigen, letztlich eigenverantwortlichen künstlerischen Aussage andererseits das entscheidende Momentum zu: die Möglichkeit, diese Freiheiten auch ausschöpfen zu können.

Die Erfindung des Buchdrucks 1450 markierte in Europa symbolisch diesen Zeitpunkt. Denn diese technische Revolution war vor allem eine Revolution der Konsequenzen, die sie eröffnete. Hatte bereits zuvor in dem erstarkten Bürgertum erstmals seit der Antike wieder ein nennenswerter Teil der Öffentlichkeit die Möglichkeit, aktiv an der Rezeption künstlerischer Produkte teilzunehmen, so erweiterte sich die Anzahl der Rezipienten, also der lesenden Öffentlichkeit, mit dem Buchdruck explosionsartig. Die Verbreitung der Bücher war flächendeckend. Prinzipiell hatte nun jeder, nicht nur die privilegierte Schicht des Klerus, Adels und einiger weniger Gelehrter, Zugang zu Büchern. Und jeder, der des Lesens und Schreibens kundig war, konnte nun lesen, wonach ihm der Sinn stand. Wann und wo es ihm beliebte.

Von nun waren Literaten frei von Einschränkung und Kanonisierung (was natürlich sogleich die Gegenbewegung auf den Plan rief – ist es bloß ein Zufall, dass die Zensur, lat. censura, ‚Prüfung, Begutachtung, Kritik‘, als Begriff parallel zur Verbreitung des Buchdrucks ab dem 15. Jahrhundert ins Deutsche übernommen wurde?). Sie waren frei dazu, Bücher auf eigenes Risiko zu schreiben, wie auch die ersten Verleger frei dazu waren, sie auf eigenes Risiko zu veröffentlichen. Was allerdings auch gleich die fatale Dialektik dieser Freiheit offenbarte: In dem Maße, wie sich das relativ stabile und homogene soziale Konstrukt der Auftragskunst mit seiner determinierenden Fremdbestimmung peu à peu auflöste, setzte sich ein System des selbstbestimmten Handelns durch, das zum prägenden Momentum unserer heutigen Zeit geworden ist: die primäre Orientierung an ökonomischen Faktoren – die Marktwirtschaftaft, das System des freien Handels.

Die künstlerisch Schaffenden gewannen auf Dauer in diesem Prozess der Entfesselung des ganzen Potenzials ihrer künstlerische Freiheit, die wir heute kennen (und an deren Resultaten wir heute unsere Gebrauchsweise des Begriffs ‚Kunst‘ orientieren). Aber diese Freiheit haben sie sich teuer erkauft30: Waren sie vorher zwar dem Unbill eines klerikalen Patriarchen oder adligen Landesherrn ausgeliefert, so kannten sie aber ihn und seinen Anforderungskanon aus dem Effeff. Und konnten sich und ihre Produktion daran ausrichten. Nun jedoch waren sie, obschon frei, völlig schutzlos dem Prinzip der anonym bleibenden unsichtbaren Hand ausgeliefert – dem Grundgesetz des Marktes.

Kaum war in Mainz der Buchdruck erfunden, erfand sich nur wenige Kilometer entfernt in Frankfurt auch gleich die Buchmesse. In der Handelsmetropole erkannte man schnell das ökonomische Potential der neuen Technologie. Innerhalb nur weniger Jahrzehnte entstand und erblühte ein Verlagswesen, das die Stadt am Main zur europäischen Buchhauptstadt machte. Gerade die Reformation mit ihrer auf Diesseitigkeit und Betonung des Einzelnen ausgerichteten Konzeption belebten das Geschäft. Dieses einträgliche, aber auch von Gott und Vaterland relativ unabhängige und damit potentiell gefährliche Treiben rief die Kaiserliche Bücherkommission auf den Plan, die sich als Hüterin des Katholizismus verstand. Die Folge dieser reaktionär gegenreformatorischen Bewegung war, dass sich der Verlagsbuchhandel, der seine Geschäfte zunehmend bedroht sah, Richtung Leipzig orientierte. So verlor schließlich Frankfurt Ende des 17., Anfang des 18. Jahrhunderts seine exklusive Stellung an die sächsische Metropole.

Unterdessen begannen die Künste der Bühnen eine noch breitere Öffentlichkeit für sich zu begeistern. Und das fernab des Adels, des Klerus, ja auch fernab des distinguierten Bürgertums. Die Bühnenkünste wie Theater, Singspiel oder Zirkus, nahmen dabei ganz gezielt eine Bevölkerungsgruppe ins Visier, die bislang fast völlig vernachlässigt worden war, weil sie, nach ständischen Gesichtspunkten, am Rande der Gesellschaft lebte: das einfache Volk. Der Preis, den diese Künste zu zahlen hatten, war, dass sie im hochwohlgeborenen gebildeten Teil der Bevölkerung nicht einmal ansatzweise den Stellenwert besaßen, den sie heute, gerade bei diesem, besitzen. So wurde Shakespeares Globe Theatre auf der verruchten Bankside eröffnet, Londons damaligem Vergnügungszentrum. Ganz in der Nähe übrigens einer Arena für das überaus beliebte ‚Bear Baiting‘, in der johlende Zuschauer Bulldoggen im ungleichen Kampf gegen angekettete Bären anfeuerten.

Im yard, dem Innenhof des Globe, vis-à-vis der Bühne, in greifbarer Nähe zu den Schauspielern, befanden sich die billigen Plätze. Stehplätze unter freiem Himmel für einen Penny, allen Witterungsbedingungen ausgesetzt (und das in London). Kaum anzunehmen, dass da die Aufführungen immer einen gesitteten Ablauf nahmen. Sie glichen wohl eher, schließlich befand man sich ja auf der Bankside, wo die Zuschauer erwarten durften, für ihren hart erarbeiteten Lohn zünftige Brot und Spiele geboten zu bekommen, einem veritablen Spektakel. Dem die Puritaner mit ihrer fast sprichwörtlichen Lustlosigkeit aber bald schon den Garaus machten: Sie schlossen 1642 alle Theater und Vergnügungsstätten. Nicht auszudenken, Shakespeare hätte nicht 1564, sondern erst 1600 das Licht der Welt erblickt. Seine Werke hätten vielleicht nie das Licht einer Bühne gesehen.

Beanspruchte die Französische Klassik im Absolutismus die Deutungshoheit darüber, was wie auf der Bühne zu zeigen, zu sehen und zu hören war – damit emanzipierte sich der Adel von der kirchlichen Autorität und ersetzte sie durch ihre eigene – so tobte sich, frei und ungebunden, fernab dieser streng reglementierten, ganz Europa dominierenden Vorstellung, eine vom aufstrebenden Bürgertum privatwirtschaftlich organisierte Gegenbewegung auf den Pariser Jahrmärkten aus. Hier ging es bunt durcheinander. Erlaubt war, was das Volk, die Bürger, unterhielt und wofür es bereit war, Geld auszugeben: Es gab keine Trennung zwischen Zirkus und Theater. Sprech- und Musiktheater gehörten zusammen, auch der Tanz hatte hier seinen Platz. Ob Parodien klassischer Tragödien, Marionettentheater, Pantomime, Vaudeville oder auch die Opéra-comique (bis ins 18. Jahrhundert verbot die Ständeklausel dem Bürgertum die Tragödie, die war allein dem Adel vorbehalten) – Paris‘ Jahrmärkte quollen schier über vor verschiedenartigsten künstlerischen Angeboten.

Bürgerbühnen im eigentlichen Sinne waren auch die deutsche Wanderbühnen, die sich seit dem 17. Jahrhundert als Antipoden zu den aristokratischen Hoftheatern entwickelten. Theater ohne festes Ensemble tourten mit Possen und Parodien höfischer Opern und Tragödien im Programm durchs Land. Immer vorausgesetzt, sie erhielten vom jeweiligen Landesherrn eine Aufführungserlaubnis. Hatten die Schauspieler dieser Bühnen eher den Ruf von Schaustellern, mehr fahrendes Volk denn respektable Künstler, so war man ab der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts bestrebt, die Schauspieler zu fördern und sie als Künstler zu etablieren. Eine Entwicklung, die dann in der Gründung der ersten Nationaltheater mit festen Ensembles mündete.

Burleske Inszenierungen und gesellschaftskritische Töne waren auch dem Musiktheater, das um 18. Jahrhundert noch nicht vom Sprechtheater getrennt war, durchaus nicht fremd. So darf es nicht verwundern, dass Mozarts Zauberflöte nicht etwa an der Wiener Hofoper Premiere feierte, sondern in Emanuel Schikaneders schlichtem bürgerlichen Freihaustheater – dabei weniger vom Adel bejubelt, sondern mehr von der einfachen Bevölkerung.

‚Kunst‘ wurde wieder öffentlich im Sinne einer Öffentlichkeit, die nicht allein Klerus hieß, Adel oder wohlhabendes Bürgertum. Zunehmend wurde auch in öffentlichen Medien und im öffentlichen Raum diskutiert, insbesondere vom Bildungsbürgertum. Über Künstler, künstlerische Werke und die Darstellungsformen, aber auch über die Gebrauchsweisen des Begriffs ‚Kunst‘. Über das, was als ‚Kunst‘ etikettiert werden sollte. Über Ästhetik, das Schöne und Wahre, über Genie und die Frage des Vorrangs der Originalität gegenüber handwerkwerklicher Aspekte. Über die eigene Bildsprache als Ausweis der Individualität. Über Freiheiten und Reglements. Ein Resultat dieser bis heute andauernden Auseinandersetzungen (und auch dieses Resultat ist das Ergebnis eines Prozesses der unsichtbaren Hand) war die Trennung der künstlerischen Gattungen, von Literatur, Tanz, Sprech- und Musiktheater. Ein anderes war die Einschränkung des Gattungsbegriffs ‚Kunst‘ auf die bildende Kunst, auf Gemälde, Skulpturen, später Fotografie, Video, Installationen et al. Und damit sind noch nicht einmal ansatzweise die Diskussionen und Diskussionsebenen berührt, die in den letzten 200 Jahren unterhalb des Radars der Wahrnehmung des offiziellen Kulturbetriebes geführt wurden: vom einfachen, bestenfalls interessierten Betrachter über den Kulturbeflissenen bis hin zum kulturell engagierten Bürger.

Auch sie haben über die Jahrhunderte ihren Beitrag zu dem stets fluiden Verständnis von Kunst im Sinne eines episodalen Ereignisses im steten diachronen Kontinuum als ein nicht intendiertes kollektives Resultat ungezählter individueller Meinungen und Stellungnahmen geleistet. Dieser spezifische ‚Seinszustand‘ der Kunst als episodales Ereignis und kollektives Resultat wird allerdings im öffentlichen Diskurs, in der Kulturpolitik, im Feuilleton und im gesamten Kunstkontext gerne zugunsten der Behauptung eines von allen Beteiligten wechselseitig unterstellten deckungsgleichen Verständnisses überzeitlich existenter und problemlos explizierbarer etablierter Bedeutungen des Begriffs ignoriert. In diese Kategorie fallen auch die wohl gebräuchlichsten Gebrauchsweisen des sprachlichen Zeichens ‚Kunst‘ in unserem Kulturkreis wie die in der von Zeit zu Zeit gestellten Ewigkeitsfrage ‚Was ist Kunst?‘, die implizit von einem numinoses Wesen der Kunst raunt, oder die unauslöschliche Neigung zur Vitalisierung und Anthropomorphisierung, die auch aus der Kunst ein selbsttätiges Handlungssubjekt macht (‚Kunst wäscht den Staub des Alltags von der Seele‘).

Tatsächlich aber besteht innerhalb einer Kultur bestenfalls eine drei, maximal vier Generationen währende ‚diachronische Identität‘, eine Schnittmenge in der Verwendung gängiger Bedeutungen des Begriffs ‚Kunst‘, dem damit verbundenen Verständnis der Beteiligten und ein vielleicht etwas länger währendes gesellschaftliches Einvernehmen der Zuschreibung, welches Werk denn als Kunst-Werk gilt.

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Essays von Stefan Oehm, KUNO 2019

Die Essays von Stefan Oehm sind eine Reihe von Versuchsanordnungen, undogmatisch, subjektiv, experimentell, ergebnisoffen. Er betrachtet diese Art des Textens als Medium und Movens der Reflektion in einer Zeit, die einem bekannten Diktum zufolge ohne verbindliche Meta-Erzählungen auskommt. Der Essay ist ein Forum des Denkens nach der großen Theorie und schon gar nach den großen Ideologien und Antagonismen, die das letzte Jahrhundert beherrscht haben. Auf die offene Form, die der Essayist bespielen muss, damit dieser immer wieder neu entstehende „integrale Prozesscharakter von Denken und Schreiben“ auf der „Bühne der Schrift“ in Gang gesetzt werden kann, verweist der Literaturwissenschaftler Christian Schärf. Im Essay geht die abstrakte Reflexion mit der einnehmenden Anekdote einher, er spricht von Gefühlen ebenso wie von Fakten, er ist erhellend und zugleich erhebend. Daher verliehen wir Stefan Oehm den KUNO-Essaypreis 2018.

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1Dieser Essay folgt im Wesentlichen der Theorie des Sprachwandels, die der Linguist Rudi Keller in seinem Werk ‚Sprachwandel Von der unsichtbaren Hand in der Sprache’ formulierte.

2 Eben deshalb sollten wir, bevor wir über ‚Kunst’ reden, erst einmal darüber nachdenken, wie wir eigentlich reden, wenn wir über so etwas wie ‚Kunst’ reden. Um dann, derart gewappnet, in einem nächsten Schritt über ein Modell nachzudenken, das aufzeigt, wie sich ein Sprachgebrauch (und damit einhergehend auch ein Verständnis von ‚Kunst’) gesellschaftlich etablieren und welche individuell zwar nicht intendierten, aber durchaus erfreulichen kollektiven Konsequenzen dies als Ergebnis menschlichen Handelns, nicht aber als Resultat eines menschlichen Plans haben kann.

3Der Name des Mannes, adam, leitet sich aus dem her, woraus Gott ihn formte: dem Ackerboden, hebräisch ‚adamah’. Damit wurde sprachlich das vorweggenommen, was nach der Vertreibung zu seinem Schicksal werden sollte: den Ackerboden zu bestellen, zu bewahren, zu kultivieren.

4Auf unsere Gebundenheit gerade an visuelle Metaphern, namentlich der Spiegelmetaphorik, hat vor allem Richard Rorty aufmerksam gemacht. Er weist darauf hin, dass den Begründern des westlichen Denkens im alten Griechenland „das innere Auge zum unausweichlichen Modell des besseren Wissens“ und „dieses Wissen als ein Sehen von etwas aufgefasst“ wurde (Rorty 1987: 51): Die optische Abbildung wurde für uns so zu einer Metapher der Erkenntnis. Bei den Scholastikern spiegelten sich die Dinge in unserer intellektuellen Seele, unserer „Gläsernen Natur“. Sie ist der ‚mind of man’ des Francis Bacon, „in dem sich die Strahlen der Dinge ihrer wahren Beschaffenheit nach widerspiegelten“ (Rorty 1987: 55). Der Philosoph Manfred Riedel schließt sich im Vorwort seines Werks ‚Hören auf die Sprache’ der Analyse Rortys ausdrücklich an: „Das Bild vom Spiegel ist der Sache freilich so wenig gemäß wie der davon abhängige Vergleich des Denkens mit dem Licht, das sich im Spiegel bricht. Zu viele Vorgriffe sind in diese alte Bilderwelt der abendländischen Philosophie eingegangen, die eine authentische Seinserfahrung und deren Bezug zur Sprache, die wir sprechen, durch Metaphern (des Sehens, der Erleuchtung, der Reflexion) verdecken. Sie abzubauen, dazu hat Heideggers Fragen nach der Möglichkeit des Sinnverstehens, die in anderer Richtung auch Wittgenstein stellt, entscheidend beigetragen“ (Riedel 1990: 7).

5Unsere hypostasierte Sprache verführt uns immer wieder zu Positionen des so genannten ‚Realismus’. Nicht zuletzt, weil wir es uns, im alltagssprachlichen Kontext ebenso wie im wissenschaftlichen Diskurs, nur allzu gerne einfach machen und auf lieb gewonnene, gewohnte Denkmuster zurückgreifen – selbst ausgewiesene Nominalisten sind davor nicht gefeit. Zur Geschichte des Universalienproblems siehe auch: de Libera, Alain (2005): Der Universalienstreit, Paderborn: Wilhelm Fink Verlag.

6Es sollte nicht verwundern, dass, als mit dem Positivismus Mitte/Ende des 19. Jahrhunderts der vorläufige Höhepunkt des exaltierten Anspruchs der Aufklärung auf rationale Begründbarkeit und Berechenbarkeit allen Seins erreicht war, nicht nur Nietzsche seine Zeitdiagnose in der griffigen Formel ‚Gott ist tot’ kondensieren konnte, sondern auch, dass genau jetzt, 1870, auf dem Ersten Vatikanischen Konzil, die päpstliche Unfehlbarkeit, der profanierte Absolutheitsanspruch, formuliert wurde. So wurde aus dem Statthalter Christi sprachlich der Statthalter Gottes auf Erden.

7Vom ‚Ding’ spricht auch rund 2300 Jahre später noch Charles Sanders Peirce: „Ein Zeichen ist ein Ding, das dazu dient, ein Wissen von einem anderen Ding zu vermitteln, das es, wie man sagt, vertritt oder darstellt. Dieses Ding nennt man Objekt des Zeichens. Die vom Zeichen hervorgerufene Idee im Geist, die ein geistiges Zeichen desselben Objekts ist, nennt man den Interpretanten des Zeichens“ (Peirce (2000): 204). Wobei ‚Ding’, germanisch ‚ting’, ‚thing’, ursprünglich ‚Übereinkommen, Volks- und Gerichtsversammlung’ bedeutete. Im Zuge des Sprach- und Bedeutungswandels wurde dann aus der in der Gerichtsversammlung behandelten ‚Rechtssache’ die Bedeutung ‚Sache’ verallgemeinert.

8Wenn Wittgenstein konstatiert, dass man „für eine große Klasse von Fällen der Benützung des Wortes ‚Bedeutung’ (…) dieses Wort so erklären (kann): Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache“ (Wittgenstein 1977: 41 (PU 43), so redet er dabei „nicht von einer großen Klasse von Wortbedeutungen“, vielmehr „sagt (er) uns, was das Wort ‚Bedeutung‘ bedeutet“ (Keller 2018: 86): Sein Gebrauch in der Sprache (und nicht eine stets veränderliche, kontextvariable ‚Bedeutung‘). Doch was ist bei Wittgenstein mit ‚Gebrauch‘ gemeint, was mit ‚Sprache‘? Keller konstatiert: Mit dem Ausdruck ‚Gebrauch‘ ist „nur die Gebrauchsweise in der Sprache gemeint, die Regel des Gebrauchs“ (Keller 2018: 88). Beherrsche ich die Regel des Gebrauchs eines Wortes, kenne ich seine Bedeutung, denn „der Gebrauch (…) ist seine Bedeutung“ (Keller 2018: 90). Damit erschließt sich auch, auf welche Ebene der Sprache Wittgenstein sich hier bezieht: auf die der Langue, der Sprache als überindividuelles Sprachsystem, nicht auf die der Parole, der Realisierung der Langue in konkreten sprachlichen Äußerungen. Das bedeutet auch, dass ‚Bedeutung‘ bei Wittgenstein nichts mit irgendwelchen mentalen Entitäten, Vorstellungen, zu tun hat, die sie auf eine nicht recht erklärliche Weise repräsentieren: „Nicht, was kommuniziert ist, soll Bedeutung genannt werden, sondern was Kommunizieren ermöglicht“ – so Kellers Definition von ‚Bedeutung‘ im Rekurs auf Wittgenstein (Keller 2018: 82).

9Formen „autoritativer Sprachfestsetzungen“ (Keller 2014: 210) gibt es natürlich in Hülle und Fülle: „DIN-Terminologie, Orthographiereform oder Umbenennungen“ (Keller 2014: 210). In Relation zu den milliardenfachen Sprachäußerungen jedoch, die tagtäglich weltweit gemacht werden, sind sie de facto höchst selten. Grund für unsere etwas verschobene Wahrnehmung ist nicht zuletzt die Tatsache, dass diese Versuche oftmals deutlich spektakulärer verlaufen und in einer größeren Öffentlichkeit stattfinden als unsere profanen alltäglichen Gespräche. So sind vor allem die propagandistischen Setzungsversuche der Nationalsozialisten und insbesondere die eines Joseph Goebbels, die Victor Klemperer beispielhaft in seiner Schrift zur Lingua Tertii Imperii, zur Sprache des Dritten Reichs, „LTI Notizbuch eines Philologen“ 1946 beschrieben hat, zu nennen. Hier wird der Gebrauch bestimmter Begriffe und Formen geplant, gezielt und vorsätzlich verabsolutiert und damit ideologisiert, um eine bestimmte Gemeinschaft zu konstituieren und, vice versa, eine andere bis hin zur physischen Eliminierung auszugrenzen.

10Die Dinge stellen sich oftmals ganz anders dar, als sie uns heute erscheinen: Für den bedeutenden mittelalterlichen Nominalisten William of Ockham war das ‚Sein der Dinge’, unserer Objekte, esse subiectivum. Und das ‚Sein der Gedanken im Geiste’, im Subjekt, esse obiectivum.

11„Das Buch der Natur ist in der Sprache der Mathematik geschrieben und ihre Buchstaben sind Dreiecke, Kreise und andere geometrische Figuren, ohne die es ganz unmöglich ist auch nur einen Satz zu verstehen; ohne die man sich in einem dunklen Labyrinth verliert.“
Galileo Galilei Il Saggiatore (1623): 232, zitiert nach: Edition Nazionale, Bd. 6: 232, Florenz 1896/ Übersetzung Hoye; William (o.Z:): http://www.hoye.de/galileo/lieferung4

12Diese Reziprozität ist grundlegend. Aber eben eine Unterstellung. Denn trotz aller sozialer Kristallisation und des konjunktiven Denkens ist die Annahme einer gelingenden Kommunikation eine Fiktion: Es ist die menschlich notwendige kontinuierliche Suggestion eines gemeinsamen Gebrauchs und intersubjektiv konstituierten Verständnisses, dessen wir bedürfen, um nicht während eines Gesprächs bei jedem geäußerten Wort gleich in psychotische Zustände zu verfallen. De facto aber reden wir permanent aneinander vorbei. Und tun so, als würden die verwendeten Begriffe mit einem explizierbaren Bedeutungsgehalt ausgestattet sein, das zudem noch allen Teilnehmern des Diskurses (oder auch der Stammtischrunde) in gleicher Weise präsent ist (selbst wenn es so wäre: Wie wollten wir uns dessen vergewissern?).

13 Wobei eigentlich schon die Begriffe ‚Befolgung’ und ‚Regel’ meines Erachtens irreführend sind. Denn auch hier schlägt uns die Sprache ein Schnippchen und nötigt uns zu einer unangemessenen Sprachweise, die eher das Gegenteil dessen sagt, was der Fall ist: Es sind keine Regeln im Sinne mathematischer Regeln, die ich zu lernen und zu befolgen habe, um zu einem richtigen Ergebnis zu kommen. Es sind eher in einem langwierigen evolutionären Prozess herausgebildete Regelmäßigkeiten, die die Teilnehmer von Sprachspielen zu den von ihnen erhofften Ergebnissen führen. Die Teilnehmer verhalten sich dabei jedoch nicht nach ihnen, sondern mit ihnen.

14Idealerweise, möchte man hinzufügen. Denn Voraussetzung dafür ist nicht nur, dass es diese Variationen auch tatsächlich gibt und sie nicht nur (a.) eine charmante Illusion sind, die die Suggestion einer gelungenen Kommunikation ermöglicht, sondern auch, dass (b.) jeder Teilnehmer des Gesprächs um diese Variationen weiß, dass (c.) diese Variationen auch von ihnen in ausreichender Form explizierbar sind und dass (d.) für beide Teilnehmer die jeweils ausgewählte zeitunabhängige Bedeutung die gleiche ist bzw. sich deren mögliche Bedeutungs-Asynchronität in Grenzen hält, so dass die Kommunikation irritationsfrei gelingen kann. Der Fall, dass man ein Verständnis einer zeitunabhängigen Bedeutung möglicherweise nur vortäuscht, weil man in dem Diskurs nicht als Depp dastehen will, sei hier nur am Rande erwähnt (und der Fall, dass ein Verwender dieser Bedeutung deren Kenntnis sprachlich nur eloquent suggeriert, weil er sich als ausgewiesener Kenner des Sachverhalts darstellen möchte, ebenso – ebenso wie der Fall des Gesprächspartners, der diese Unkenntnis bei dem Fachmann zwar vermutet, aber angesichts einer vielleicht allseits dem Verwender zugeschriebenen Kompetenz ebenfalls nicht vor aller Welt als Depp dastehen möchte. Ad infinitum.).

15Vielleicht sollte hier besser vom ‚Pseudo-Saussure’ gesprochen werden: Der Sprach-, Medien- und Kulturwissenschaftler Ludwig Jäger hat bereits 1975 in seiner Dissertation „Zu einer historischen Rekonstruktion der authentischen Sprachidee Ferdinand de Saussures“ aufgezeigt, dass es sich bei dem für die Entwicklung des Strukturalismus maßgebenden Werkes, Cours de linguistique générale, in wesentlichen Zügen um eine nachträgliche Rekonstruktion der beiden Herausgeber, Charles Bally und Albert Sechehaye, handelt.

16Deshalb konnte damals auch niemand, in unserem heutigen abendländischen Verständnis, seines eigenen Glückes Schmied sein.

17Das Verständnis der auf Kosten des Katholizismus in Süd- und Mittelamerika stark expandierenden, erzkonservativen Evangelikalen von der humanitas wird sich sicher nicht mit der etablierten Bedeutung des Äußerungstyps in den westlichen Demokratien oder auch mit meiner persönlichen Vorstellung decken. Ebenso wenig wie es der Humanitasbegriff im Nationalsozialismus tat:
Eine entartete Auffassung von H. im späteren 19. und beginnenden 20. Jahrh. verfocht unter führender Beteiligung des Judentums den Schutz alles Menschlichen um seiner Selbstwillen, also auch des Minderwertigen und Entarteten. Entgegen solchen, gesunden sittlichen Anschauungen zuwiderlaufenden Ansichten betont die völkische Weltanschauung eine naturgegebene, bes. rassisch bedingte Ungleichheit der Menschen und den Vorrang von Gott und Staat vor einem allgemeinen Menschheitsideal“ (Der Neue Brockhaus: Allbuch in vier Bänden. Band 2 (F-K), Leipzig 1941, S. 456).
Mit den Menschenrechten verhält es sich ähnlich. Ihre Existenz wird im Grunde überall anerkannt, aber als Zeichen bezeichnet der Begriff gänzlich unterschiedliche Vorstellungen: Im Westen bezieht sich der Begriff ‚Menschenrechte‘ auf das Recht eines Individuums, sein Recht einzuklagen, in China auf das Recht der Masse, nicht durch Rechtsbeanspruchung eines Individuums in ihrer Stabilität gefährdet zu werden.

18Heidegger mag diese zwecklose Zweckbestimmung vor Augen gehabt haben, als er in seinem Vortrag ‚Die Frage nach der Technik’ eine kritische Auseinandersetzung mit der Technik anmahnte, die „in einem Bereich geschehen (muss), der einerseits mit dem Wesen der Technik verwandt und andererseits doch von ihm grundverschieden ist. Ein solcher Bereich ist die Kunst.“ (Heidegger 2000: 36) Damit zeige sich die Kunst ursprünglich als techné, ist aber, im Gegensatz zu Wissenschaft und Technik, eben nicht durch dieses Prinzip der Verwertbarkeit gekennzeichnet. Ein Kunstwerk wird nicht, so Heidegger, zu einem bestimmten Zweck angefertigt. Es kann nicht benutzt werden. In ihm leuchtet die Welt als Bedeutungsganzheit auf und kann uns so einen anderen, befreiten Weg zur Welt und zur Wahrheit aufzeigen, der sich nicht aus der normierten Weltsicht der Zweckbestimmung, Nutzenorientierung und Verfügbarkeit ableitet.

19Mark Siemons berichtet in einem Artikel der F.A.S. (‚Wille zu Welt‘, 28.01.2018) über das chinesische Konzept der Geschichte, das den Anschein einer fast 3000 jährigen ‚diachronischen Identität‘ erweckt: ‚Tianxia‘ (in etwa: ‚alle unter einem Himmel‘). Es stellt, so Siemons, eine „verblüffend bruchlose Kontinuität der Mythen, Chroniken und Romane (dar), die sich mit China beschäftigen. Wenn in China von der Tradition der ‚Geschichte‘ die Rede ist, dann ist vor allem diese kodifizierte Überlieferung gemeint.“ Und solche kodifizierte Überlieferungen korrespondieren gerne mit einem codierten Sprechen, „das von jedem verstanden wird, der in der chinesischen Welt sozialisiert ist, aber nicht außerhalb.“ Nun steht diese Bedeutungsidentität aber unter dem beschriebenen Verständnis- und Nachweisvorbehalt: Der Sprach- bzw. Bedeutung- und Verständniswandel ist ein Prozess, der, solange es nur genügend Sprecher einer lebenden Sprache gibt, permanent abläuft. Ob die einzelnen Sprecher das nun wollen oder nicht. Dies gilt nicht allein für alle Bedeutungen, die im Laufe der sozialen Kristallisation (die auch ein Prozess der unsichtbaren Hand ist) etabliert wurden – dies gilt auch für kodifizierte Überlieferungen und codiertes Sprechen. Denn auch sie verschont der  Wandlungsprozess nicht, ist er doch ein von den Intentionen der einzelnen Menschen unabhängiger kollektiver Prozess, der zu nicht intendierten, ungeplanten, ungewollten Ergebnissen führt. Die Worte können bleiben, aber die Vorstellungen, die die Menschen dabei haben, wandeln sich (auch an dieser Stelle mag man mir meine anthropomorphisierende Redeweise verzeihen – ich bediene mich hier der Einfachheit halber der klassisch reziproken Kommunikationsstrategie: „Rede so, wie du denkst, dass der andere reden würde, wenn er an deiner statt wäre.“ (Keller 2014: 137)). Unabhängig von den einzelnen Verwendern der Sprache. So handelt es sich weniger um eine „verblüffend bruchlose Kontinuität der Mythen“, sondern eher um den Mythos einer verblüffend bruchlosen Kontinuität der Mythen. Wir können nur mutmaßen, ob vor 3000 Jahren mit ‚Tianxia‘ das verbunden wurde, was im heutigen China damit verbunden wird. Eine definitive Vergewisserung ist, aus naheliegenden Gründen, unmöglich. Was aber der Angemessenheit dessen, was Siemons sagt, eigentlich wenig Abbruch tut (cf. Kap. 2.11/2.12). Denn entscheidend ist an dieser Stelle in China allein die Suggestion einer fast 3000 jährigen ‚diachronischen Identität‘, die identitätsstiftende Behauptung einer solch durchgehend identischen Bedeutung und eines gleichbleibenden Verständnisses, ungeachtet aller Wandlungen der Kontexte, ungeachtet der Struktur der Wandlungsprozesse.

30Sehr eindringlich hat bereits 1941 Erich Fromm in seinem Werk ‚Die Furcht vor der Freiheit‘ beschrieben, was passieren kann, wenn diese Freude über die Freiheit, die zwar eine Entlassung aus dem Zwang der Fremdbestimmung, aber eben auch aus behüteter Umzäunung, aus wohliger Einbettung in ein Kollektiv und damit in ein für mein Ich identitätsstiftendes Wir bedeutet, in Furcht umschlägt. Und wenn dieses hinausgeworfene, alleingelassene Ich nun selbstverantwortlich seinen selbstverschuldeten Ausgang zur Unmündigkeit finden und sich in orientierungsloser Zeit orientieren muss: Es flüchtet. Oftmals ins Autoritäre, ins Konformistische oder auch ins Selbstdestruktive. Was vielleicht die hohe Zahl der depressiven Erkrankung (im Bewusstsein der alles andere als ausreichend geklärten Gebrauchsweise des Begriffs ‚Depression‘) in den Leistungsgesellschaften abendländischer Prägung erklären mag.

20Im vollen Bewusstsein der heiklen vorstellungstheoretischen Implikationen, die bei der „charakteristische(n) traditionelle(n) Zeichentheorie“ mit der Verwendung des Begriffs ‚Vorstellung‘ verbunden sind: Die Stellvertretertheorie besagt, dass die Zeichen etwas vertreten, was in der Vorstellung gegeben ist. Bei „Kuh, Haus, trinken“ mag diese Vorstellung noch plausibel sein. Aber welche Vorstellungen die Zeichen „nichts, ob, Dienstag, gut, Vetter, ähnlich oder unvorstellbar“ vertreten, darauf habe zumindest ich keine befriedigende Antwort (cf. Keller 2018: 79). Und auf die Frage, welche Vorstellung das Zeichen ‚Vorstellung‘ vertritt, dürfte auch Menschen eine Antwort schwer fallen, die mit einem deutlich größerem Verstand gesegnet sind als ich: „Die Anwendung der Vorstellungstheorie führt bei dem Versuch, sie auf den Ausdruck Vorstellung selbst anzuwenden, zu einem iterativen Regress“ (Keller 2018: 79).

21Dem Dichter waren klare Grenzen gesetzt. Er war als Individuum einerseits nicht in der Lage, über das Individuationsniveau hinausgelangen, das die Gesellschaft kennzeichnete, in die er eingebunden war und die ihm damit zum einen Zwänge auferlegte, zum anderen aber auch Sicherheit und Geborgenheit gab. Diese prinzipielle Unfreiheit bedeutete andererseits, dass ihm eine wesentliche Schattenseite des Individuationsprozesses der Menschen in der kapitalistischen Leistungsgesellschaft westlichen Zuschnitts im Allgemeinen und der Künstler im Besonderen erspart blieb: „die zunehmende Vereinsamung“ (Fromm 2016: 27). Der Dichter wuchs nicht aus seiner Welt heraus, war nicht „allein und eine von allen anderen getrennte Größe“ (Fromm 2016: 27). Er trug damit nicht die schwere Last der Eigenverantwortung, musste keinen Gedanke daran verschwenden, einen Ausgang aus selbstverschuldeter Unmündigkeit zu finden. So verwandeln sich ihm die „Fremdzwänge“ noch nicht „in Selbstzwänge“ (Elias 1976: 313). Dies ist erst das „nicht ‚rational‘ geplant(e)“ Resultat des Zivilisationsprozesses in der abendländischen Gesellschaft, in dem sich die Persönlichkeitsstrukturen im Zuge des Wandels der Sozialstrukturen ändern:

„Pläne und Handlungen, emotionale und rationale Regungen der einzelnen Menschen greifen beständig freundlich oder feindlich ineinander. Diese fundamentale Verflechtung der einzelnen, menschlichen Pläne und Handlungen kann Wandlungen und Gestaltungen herbeiführen, die kein einzelner Mensch geplant oder geschaffen hat. Aus ihr, aus der Interdependenz der Menschen, ergibt sich eine Ordnung von ganz spezifischer Art, eine Ordnung, die zwingender und stärker ist, als Wille und Vernunft der einzelnen Menschen, die sie bilden“ (Elias 1976: 314).

Das gesellschaftliche Gewebe „bildet das Substrat, aus dem heraus, in das hinein der Einzelne ständig seine individuellen Zwecke spinnt und webt. Aber dieses Gewebe und sein geschichtlicher Wandel selbst ist als Ganzes in seinem wirklichen Verlauf von niemandem bezweckt und von niemandem geplant“ (Elias 1976: 477). Damit beschreibt Elias nichts anderes als den Prozess der unsichtbaren Hand, in dem er die „Verflechtungsordnung (sieht), die den Gang des geschichtlichen Wandels bestimmt; sie ist es, die dem Prozeß der Zivilisation zugrunde liegt“ (Elias 1976: 314).

22Nur am Rande sei erwähnt, dass die derzeit so sehr gepriesene Geschichte des christlichen Abendlandes mit einer in dieser Form nie zuvor erlebten, nahezu völligen Auslöschung tradierten Wissens seinen Anfang nahm: Seriöse Schätzungen gehen davon aus, dass über 99% aller Bücher schlicht verloren gingen oder, soweit sie nicht von christlichen Autoren stammten, sogar gezielt vernichtet wurden. Wenn Bücher tatsächlich so etwas wie ein kollektives Gedächtnis darstellen sollten, dann stellte dieser Verlust europäische Demenz im Endstadium dar. Das Christentum brachte nicht die Erleuchtung, ex oriente lux, über die Menschheit. Im Gegenteil, es läutete das Dunkle Zeitalter Europas ein. Das großartige Wissen der Antike überlebte nur sporadisch in wenigen Nischen, nur von wenigen gekannt und rezipiert. Und, auf deutlich breiterer Basis, in arabischen Bibliotheken und Gelehrtenstuben: Ohne deren Quellen würden wir die Grundlagen unserer abendländischen Philosophie, von den Vorsokratikern über Platon bis Aristoteles, heute bestenfalls noch vom Hörensagen kennen. Es sollte zudem bis zur Erfindung des Buchdrucks dauern, bis wieder eine breitere Bevölkerungsschicht Zugang zum kümmerlichen Rest des antiken Wissens bekam.

23Bei diesem Autor handelt es sich nicht um den Autor, von dem Roland Barthes in seinem Essay ‚Der Tod des Autors‘ spricht: „Der auteur ist eine moderne Figur, die unsere Gesellschaft hervorbrachte, als sie am Ende des Mittelalters im englischen Empirismus, im französischen Rationalismus und im persönlichen Glauben der Reformation den Wert des Individuums entdeckte – oder, wie man würdevoller sagt, der ‚menschlichen Person‘“ (Barthes 2016: 186; cf. hier Kap. 3.4 ff.).

24Der französische Zeichner und Radierer Jaques Callot, der von 1592 bis 1635 lebte, war in diesem Sinn vielleicht einer der ersten modernen Künstler. In seinen Serien Les petites misères de la guerre und Les grandes misères de la guerre brachte er keine kanonisierte Sicht der Dinge oder einen gesamtgesellschaftlichen horror vacui zum Ausdruck – er zeigte, was ihn bewegte. Wie er die Dinge sah. In jedem Bild zeigt sich seine persönliche, existentielle Betroffenheit und damit eine gänzlich andere Wertung als die zu seiner Zeit übliche. So schilderte er detailgetreu die Gräuel des Dreißigjährigen Krieges, zeigte Bevölkerung wie Täter als Opfer menschlicher Grausamkeit. Zeigte Soldaten, die gelyncht wurden. Als Krüppel endeten. Oder als strange fruits am Galgen. Mit Francisco de Goya, dem diese Arbeiten gut 200 Jahre später in seiner Serie Los desastres de la Guerra als Vorlage dienten, erreichte die Kunst endgültige die Moderne: In seinen Pinturas negras, wie zuvor auch schon in den Los Caprichos (ab 1793), werden die radikale Subjektivität des Künstlers, seine düsteren Phantasien, seine Ängste, seine Verzweiflung und seine Wut angesichts der Armut, Korruption, Brutalität und Ungerechtigkeit zum Sujet. Noch radikaler war vielleicht William Blake als Literat, aber auch als Maler und Radierer: Die wohl entschiedenste Form der Subjektivität wurde ihm zum Quell seiner Inspiration und Kreativität – die Vision. Damit ist in der Form- und Bildsprache das erreicht, was auf linguistischer Ebene ‚singuläre Sprecher-Intention‘ genannt werden kann.

25Das Gespräch wurde anlässlich des Erscheinens des Buchs ‚Jaques Rencière: Aisthesis‘ (Wien: Passagen-Verlag, 2013) geführt.

26Damit ist nicht ein Verständnis der Aussagen der Werke gemeint. Denn Werke sagen nichts aus wie sie mir auch nichts sagen. Dieser verführerische, in unzähligen kunstwissenschaftlichen Abhandlungen, Feuilletonbeiträgen, Künstlerbiographien, selbst im Werk Hans-Georg Gadamers ‚Wahrheit und Methode‘ („Wer einen Text verstehen will, ist vielmehr bereit, sich von ihm etwas sagen zu lassen.“ Gadamer 1975: 253) perpetuierte anthropomorphisierende und vitalisierende Sprachgebrauch macht auch aus dem künstlerischen Werk das sagenumwobene animal rationale. Indem ich nun seine Existenz bestreite, bestreite ich aber ganz und gar nicht, dass Werke nicht ‚Auslöser für etwas‘ beim Leser, Zuschauer, Zuhörer, Betrachter sein können. Ganz im Gegenteil: Sogar in zweierlei Hinsicht können sie es sein – aber eben nicht in der Form, wie es dieser anscheinend unauslöschliche anthropomorphisierende Sprachgebrauch nahelegt. Nicht das Werk wirkt. Der Leser, Zuschauer, Zuhörer, Betrachter ist es, der das Gelesene, Gesehene, Gehörte, Betrachtete als Inspiration empfindet:

  1. Inspiration zur Assoziation: diesseits jeder nachgelagerten Interpretation und hermeneutischer Abhandlung
  2. Inspiration zur Interpretation: Wer verstehen will, muss „für die Andersheit des Textes von vornherein empfänglich sein“ (Gadamer 1975: 253). Hans-Georg Gadamer beschreibt (grob verkürzt, wie er sagt) den Verstehensprozess, den hermeneutischen Zirkel, wie folgt: „Wer einen Text verstehen will, vollzieht immer ein Entwerfen. Er wirft sich einen Sinn des Ganzen voraus, sobald sich ein erster Sinn im Text zeigt. Ein solcher zeigt sich wiederum nur, weil man den Text schon mit gewissen Erwartungen auf einen bestimmten Sinn hin liest. Im Ausarbeiten eines solchen Vorentwurfs, der freilich beständig von dem her revidiert wird, was sich bei weiterem Eindringen in den Sinn ergibt, besteht das Verstehen dessen, was dasteht“ (Gadamer 1975: 251).

27Wobei auch bei denen, die ihn gemeinsam durchlaufen haben, ein gemeinsame Verständnis oftmals nur ein unterstelltes ist – tatsächlich sind die individuellen Verständnisweisen vielfach alles andere als deckungsgleich: Es ist dies die Annahme bzw. die Suggestion eines solchen gemeinsamen und damit gemeinschaftsfördernden, ja: gemeinschaftskonstituierenden Verständnisses.

28Wäre aber andererseits grundsätzlich das reflexive Verstehen der Intention gesichert und die Möglichkeit des Nicht-Verstehens oder des, warum auch immer vom Sprecher intendierten,  Missverstehens nicht gegeben, so wäre die Notwendigkeit einer hermeneutischen Deutung obsolet: Warum soll ich deuten, was jeder versteht? Ob ohne dieses aus heutiger Sicht (die ja tendenziell eher auf Funktionalität ausgerichtet ist) dysfunktional erscheinende Missverstehen ein intellektueller Fortschritt möglich wäre, ist zu bezweifeln: Ohne Missverstehen würde sich sehr bald ein Zustand intellektuellen Stillstands und der Regression einstellen. Der Umkehrschluss gilt leider nicht: Missverstehen bewahrt uns nicht vor Stillstand und Regression, es macht beides höchstens ein klein wenig wahrscheinlicher.

29Geht es bei einem Werk, das als kollektives, kausales, nicht intendiertes und episodales Resultat intentional veranlasster individueller Rezeptionen gegebenenfalls in einer gesellschaftlichen Gruppe (wie groß diese auch immer sein mag) die Zuschreibung ‚Kunst-Werk‘ erfährt, um ein vom Erschaffer intendiertes Verstehen seiner singulären Künstler-Intention, um die Explikation einer „unbewussten Meinung des Urhebers“ (Gadamer 1975: 181) oder darum, „was der Sinngehalt seiner Schöpfung ist, was diese ‚meint‘“ (Gadamer 1975: 181)? Geht es vielleicht um konventionelle oder konversationelle Implikaturen (Grice) eines Textes? Nein. Ich denke, es geht zunächst einmal um einen unmittelbaren Zugang, um eine Inspiration diesseits jeder nachgelagerten Interpretation, um eine andere, ganz und gar nicht hermeneutisch grundierte Option. Um das, was meine gerichtete Rezeption eines Werkes, sein Anblick, seine Lektüre, sein Hören in mir bewirkt: Impuls. Initiation. Inspiration. Anregung zur Assoziation. Zum Selberdenken. Widersprechen. Weiterspinnen. Den Gedanken freien Lauf lassen. Flanieren in der eigenen Phantasie. Ein Momentum, das das Werk nur als Anstoß benötigt. Sich von da ausgehend frei bewegt. Und das Werk, den Autor, den Anlass vergisst. Und wer weiß – vielleicht entsteht ja „erst durch die Handlung des Betrachters (…) ein Werk“, wie es der Bildhauer Franz Erhard Walther einmal ausgedrückt hat. Alles andere, und damit alles Verstehen, ist auf der Ebene nachträglich.

30Sehr eindringlich hat bereits 1941 Erich Fromm in seinem Werk ‚Die Furcht vor der Freiheit‘ beschrieben, was passieren kann, wenn diese Freude über die Freiheit, die zwar eine Entlassung aus dem Zwang der Fremdbestimmung, aber eben auch aus behüteter Umzäunung, aus wohliger Einbettung in ein Kollektiv und damit in ein für mein Ich identitätsstiftendes Wir bedeutet, in Furcht umschlägt. Und wenn dieses hinausgeworfene, alleingelassene Ich nun selbstverantwortlich seinen selbstverschuldeten Ausgang zur Unmündigkeit finden und sich in orientierungsloser Zeit orientieren muss: Es flüchtet. Oftmals ins Autoritäre, ins Konformistische oder auch ins Selbstdestruktive. Was vielleicht die hohe Zahl der depressiven Erkrankung (im Bewusstsein der alles andere als ausreichend geklärten Gebrauchsweise des Begriffs ‚Depression‘) in den Leistungsgesellschaften abendländischer Prägung erklären mag.

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Rancière, Jacques (20.11.2013): im Gespräch mit Stephan Karkowsky
http://www.deutschlandfunkkultur.de/geistesgeschichte-wie-kunst-als-kunst-definiert-wird.954.de.html?dram:article_id=269579