Wundprotokolle ∙ Revisited

 

Die Wundprotokolle sind für mich ein großer Wurf deutscher Dichtung dieser Jahre! Die Sprache fließt leicht und abwechslungsreich, spielt mit den literarischen Gattungen (von der Kurzgeschichte über die Parabel bis zur visuellen Poesie), mit Erzählperspektiven, Bildern und idiomatischen Wendungen derart souverän und neuartig, dass es eine Lust ist, die schweren Gedanken und Stimmungen im Wechsel mit leichteren mentalen Zuständen zu lesen – der nachdenkliche Leser verlängert oder interpretiert die parabolischen Erzählungen mit subtilem Erkenntnisgewinn: Der Schmerz, in den Entfremdungen des Lebens, die uns alle treffen, Heimat suchen und finden zu müssen, egal wo und wer wir sind, wird hier in großer und ganz eigener Sprachkunst sublimiert, vielleicht erträglicher gemacht, also ganz dialektisch aufgehoben auf einer höheren Ebene des Verstehens. Ich habe in den letzten Jahren nichts Besseres in dieser Art gelesen.

Der Nachtzug ist leer – ein Hauch von Utopie, Andeutungen auf die ersehnte ‚Reise’ nach einem ungeborenen, noch nie da gewesenen, nur für das erzählende Ich enthüllenden Etwas, vielleicht sogar auf eine Rückkehr ins Nichts.

Ich habe Auf silikonweichen Pfoten und Zug ohne Räder wieder und wieder gelesen und bin überrascht, wie frisch und gültig die Poesie wirkt. Ich bleibe bei meinem Urteil, das ich bei Erscheinen der Bücher formulierte: Es sind zwei der besten Bücher, die seit Aglaya Veteranyi geschrieben wurden.

Francisca Ricinskis poetische oder lyrische Prosa geht mir nah. Auch ich erlebte Entwurzelung; ich litt als Kind und Jugendlicher unter dem Verlust meiner Heimat an der Saale und der Trennung von meiner Mutter, von der mich der Kalte Krieg und die Mauer, die Deutschland zerschnitt, bis zu meinem 45. Lebensjahr trennte und entfremdete.

Die Texte der aus Rumänien stammenden Dichterin, die gegenüber dem Siebengebirge am Rhein lebt, faszinieren mich mit ihren Schreibideen, den packenden Bildern und Formen. Sie erinnern mich an meine Wurzeln und sie zeigen mir, wie brüchig und schwankend der Boden ist, auf dem ich stand wie auf einer Tellermine, auf der ich schreibend wohne wie ein kleiner Sisyphos, der Buchstaben schiebt – wie Francisca Ricinski.

 

 

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Auf silikonweichen Pfoten. Wundprotokolle, Pop Verlag, Ludwigsburg 2005.

Zug ohne Räder / Trenul fara roti, lyrische Prosa, rumänisch und deutsch. Nachwort: Theo Breuer, Editura Fundatiei Culturale Poezia, Iasi/Rumänien 2008.

Als käme noch jemand. Lyrische Prosa und Erzählcollagen, Nachwort: Andreas Noga, Pop Verlag, Ludwigsburg 2013.

In deinen Schuhen voller Sand, Prosapoeme, Pop-Verlag 2019

Weiterführend →

Wir verliehen Francisca Ricinski in 2016 den KUNO-Prosa-Preis. Lesen Sie hier die Begründung.