Deutungskampf ∙ Revisited

Der ständige Sekretär Horace Engdahl hat die Schwedische Akademie verlassen. Damit nicht genug, in 2019 werden mit dem Segen der Nobelstiftung zwei Literaturnobelpreise verliehen: „Die Akademie hat das Vertrauen der Nobelstiftung zurückerobert“, diagnotiziert Aldo Keel in der NZZ. SZ-Redakteur Thomas Steinfeld sieht damit die Krise der Akademie längst noch nicht beendet – zumindest dem offiziellen Anschein nach. „Aber etliche Vorwürfe sind ungeklärt, angefangen bei der privaten Vorteilsnahme bei der Nutzung von Wohnungen, die der Akademie gehören, über die Bevorzugung von Freunden bei der Vergabe kleinerer Literaturpreise, die von der Akademie vergeben werden, bis hin zu Vergehen gegen das Steuerrecht, die möglich sind, weil die Akademie als aus feudalen Verhältnissen überkommene Institution den Organen eines bürgerlichen Staates nur bedingt Einsicht gewähren muss.“ Auch „der Verlust an Autorität“ sei erheblich.

„S steht heute für Schreckensherrschaft, für Sweden, Stortorget, Schwedische Akademie, Ständige Sekretärin. Abgekürzt SA, SS, SD.“

Katarina Frostenson

Die Lyrikerin Katarina Frostenson ist eine zentrale Figur in der schweren Krise, die die Schwedische Akademie im vergangenen Jahr bis in die Grundfesten erschüttert und langfristig beschädigt hat. Im Zuge wurde sie geschasst – nicht ohne beträchtliche Kompensationen mitzunehmen. Jetzt rechnet sie in ihrem Tagebuch „K“ ab: Die ganze Geschichte sei eine Verleumdung und Verschwörung gewesen, meint sie. Als der Skandal sich verdichtete, hat sie mit ihrem Ehemann Jean-Claude Arnault das Land verlassen und ist quer durch Europa getingelt, erfahren wir von Thomas Steinfeld in der SZ. An Pathos mangelt es dem Bericht dieser Reise nicht: „Frostenson spiegelt sich und ihr Schicksal in den vertriebenen, landflüchtigen, verratenen, im Stich gelassen und verleumdeten Dichtern aller Zeiten und Regionen, von Ovid bis Anna Achmatowa, von Carl Love Jonas Almqvist bis zu Ingmar Bergman. … Ein Leichtes wäre es, an diesem Tagebuch die Momente des Wahns aufzuspüren“, denn die Autorin will „um jeden Preis an eine Verschwörung wider ihren Ehemann und wider die Kunst glauben. Ihr Furor kennt dabei keine Grenzen. Nichts soll geschehen sein, kein sexueller Übergriff, kein Verrat, keine Korruption, und die Steuervergehen verdanken sich allein der Begeisterung für die Kunst. Folglich erhält die Schwedische Akademie das Kürzel ‚SA‘, die ‚Ständige Sekretärin‘ figuriert als ‚SS‘, und an persönlichen Gehässigkeiten fehlt es nicht.“ Als Literatur betrachtet, ist dieser Text allerdings schon „bemerkenswert“, geradezu „ein Kleinod“, schreibt Frank Michael Kirsch im Tagesspiegel, doch „das völlige Ausblenden einer Schuld ihres Mannes macht Teile dieses Buches schwer erträglich.“

„Wir leben im goldenen Zeitalter der Gekränkten.“

Katarina Frostenson

Zuletzt driftete die Begründung für den Preis immer immer häufiger in diffuse Mehrdeutigkeit. Bereits als der Nobelpreis für Bob Dylan verkündet wurde, teilten sich die Geister in Enthusiasten und Enttäuschte: ein gefundenes Fressen für alle diejenigen, die online ihre literarischen Meinungen kundtun, verteidigen und weiterentwickeln. Der Ruf des Nobelpreises, heißt es in der Pressemittelung, habe durch die „Publizität“ der jüngsten Vorgänge großen Schaden genommen: Die Namen künftiger Nobelpreisträger waren vorab verraten worden, es hatte Fälle von privater Vorteilsnahme gegeben, und es war im Umkreis der Akademie in erheblichem Maß zu sexuellen Übergriffen gekommen. Den Skandal um die Schwedische Akademie nahm Roman Bucheli in der NZZ zum Anlass, sich Peter Handkes Forderung anzuschließen: Den Nobelpreis sollte man endlich abschaffen.

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Irgendwann „isch over“, daher wird am 6. September 2019 letztmalig im Regierungsbezirk Arnsberg das Hungertuch verliehen.