Häutung

Die Pariser Modemacher litten immer schmerzlicher unter der Konkurrenz, mit der sie sich gegenseitig erdrückten. Der Kampf ums Überleben zwang auch die erfolgreichsten Couturiers unter ihnen zu den kühnsten Ideen, denn der Markt der zweiten Haut, der ihnen schon so lange gehörte, wurde aus den entferntesten Winkeln der Welt angegriffen. Als die Kreation eines Couturiers aus der Mandschurei, der aus den Flügeln gezüchteter Riesenschmetterlinge elektrisierende Bikinis und futuristische Ballkleider zauberte, wertvolle Marktanteile eroberte, sah sich der regierende Modezar Cabanel gezwungen darauf mit einer Gegenkollektion zu antworten.

Er ging in den Louvre und suchte in den alten Bildern nach neuen Ideen. Riberas großes Bild vom Ausgang des musikalischen Wettkampfs zwischen Marsyas mit der Flöte gegen Apoll mit der Kithara faszinierte ihn sofort. Apoll besiegte Marsyas, den er mit den Füßen an einem Baum aufhängte und enthäutete, von den Füßen bis zum Kopf. Cabanel sah in der Flöte die männliche Macht der Ordnung, die geopfert werden musste, in der Kithara die weibliche Freiheit des Spiels, das die Ordnung zum Chaos verführt und die Welt in Liebe verwandelt. Riberas Bild brachte ihn auf die Idee Kleider herzustellen, die noch kein Mensch zu tragen wagte: Hemden, Jacken, T-shirts, Hüte, Handschuhe, Strümpfe, Röcke und Hosen aus der weißen und schwarzen Haut junger Männer und Frauen – Kleider aus feinstem Menschenleder.

Die Lizenz zur Menschenjagd war in einigen Gebieten Innerasiens ohne größere Schwierigkeiten zu erhalten. Die Kosten blieben angesichts der knappen Devisen in dieser Region im Rahmen der Rentabilität. Cabanel schrieb das Jagdgebiet in armen Diktaturen aus und beauftragte den billigsten Fangtrupp, wilde Menschentiere einzufangen.

Die frische Beute wird an Ort und Stelle bei lebendigem Leib enthäutet, weil das die beste Qualität ergibt. Die Käufer riechen nämlich den Makel einer humanen Tötung, unter der letztlich die Geschmeidigkeit des Leders leidet, was auch die Kunden sofort fühlen. Die Fleischseite des frischen Handabzugs wird mit festem Salz bestreut und, als Schweinehaut verzollt, mit Flugzeugen nach Paris gebracht. In der Wasserwerkstatt werden die eingesalzenen Häute in Gruben oder rotierenden Fässern einer Weiche unterworfen. Sie erhalten den Wassergehalt der schlachtfrischen Haut zurück und werden gewaschen. Die Haare werden mit Schabeisen abgeschabt, die enthaarten Blößen im Haspel entkälkt, gebeizt und gegerbt. Die ausgegerbten Häute erhalten durch Blanchieren oder Falzen gleichmäßige Dicke, werden gefettet oder auf der Tafel geschmiert, gewalkt und gefärbt. Die großen Leder werden flächig gedehnt, auf Holztafeln aufgenagelt oder auf Lochbleche gespannt, in geheizten Räumen getrocknet. Das steife Leder wird durch Biegen wieder weich. Bügeln, Pressen, Glanzstoßen, Krispeln gibt Festigkeit, Elastizität, Narbenglätte, Glanz und Profil. Zuletzt Zurichtung durch Schleifen, Aufgießen von filmbildenden Deckfarben oder Lack. Die Leder erhalten auf der Aasseite eine feine Appretur aus Weißpigmenten, Pflanzenschleimen und Ölen.

Der Laufsteg brannte im Blitzschlag der Pressefotografen. „Wir tragen Kleider, als seien sie aufgemalt auf die eigene Haut“, sagte Cabanel in der Pressekonferenz am Vortag der mit größter Spannung erwarteten Präsentation seiner neuesten Kollektion. Menschenkleider nach Maß zu schneidern, war sein Ideal. Das berühmte Selbstporträt des Malers Christian Schad, in dem er seine eigene Haut wie ein Hemd trug, gab ihm die Anregung für den letzten Schliff seiner Modephilosophie. Die Mannequins bereiteten sich auf ihren Auftritt vor. Mit ihnen kamen die ersten wirklichen Menschenkleider zur Welt. Eine Jacke machte den Anfang. Die Jacke saß wie aufgenäht, die Schöße schwangen in Zeitlupe durch die lärmende Helle. Dann ein Rock. Der zarte Faltenwurf floss um den Körper der Schönen, den gierigen Augen stockte der Atem. Cabanel wusste, dass die neuen Stoffe alles schlugen, was bisher gezeigt wurde. Diese Kollektion aber war noch mehr. Sie war nicht nur eine bisher nie gesehene, nie erlebte Kunst – das behauptete ja jeder Couturier, sondern sie bewegte die Menschen dazu ihr Leben völlig neu zu begreifen, sie erschuf die libidinöse Apotheose eines haptischen Gefühls, das langsam wuchs und auf einen Gipfel hinauslief, der Cabanel selbst ängstigte, den er deshalb hinauszögern wollte. Er brauchte jetzt das retardierende Moment um den Sieg ein für alle Mal zu erringen. Er ging aufs Ganze.

Auf den Laufsteg schritt, um die Experten der haute couture zu testen, ein nacktes Mannequin mit rasiertem Schamhaar. Sie trug nur ihre eigene Haut. Aber die Konkurrenz durchschaute den Trick. Die weltberühmten Schneidermeister schrien alle auf und nannten die schöne Nackte, die doppelten Mut zeigte, ein schamloses Weib.

Das Mannequin ertrug die Entwürdigung nicht. Immer war sie schön gewesen, egal welche Kleider sie trug, weil ihr Körper schön war, weil ihr Gang auf dem Laufsteg und ihr ganzes Wesen wunderbar strahlte. Nun wurde ihr Körper niedergemacht, ihr Wesen nicht erkannt. Sie zog mit der Rasierklinge einen Schnitt rings um den Hals und zwischen die Brüste einen tiefen Ausschnitt, dann riss sie die Haut wie einen Halskragen auf und öffnete ihre Brust wie eine Bluse. Blut lief in kleinen Streifen an ihrem Körper in den Schritt, nur Schuhe trug sie um ihre Schritte wie Musik ins Holz zu schlagen. Das kunstsinnige Publikum tobte. Alle standen von den Sitzen auf. Rhythmisches Klatschen knallte durch den Raum in die Mikrophone.

Als die hochbeinige Frau in ihrem Kleid, das immer roter leuchtete, an der Zungenspitze des Stegs stehenblieb, sich hoch aufrichtete und die Brustspitzen ins Licht der Kamerablitze streckte, trat vollkommene Stille ein. Red Box. Der Körper vibrierte in der harten Drehung der Hüfte. Der Stoff der weit geöffneten Bluse flog und tanzte wild in den Wellen des roten Flusses. Dann kippte der Körper, die Tänzerin fiel von der Bühne in die Augen der Kameras – dort schwebte oder schwamm der rote Körper in der Luft, die im Sturm des Jubels zitterte.

 

 

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Kritische Körper von Ulrich Bergmann, Pop Verlag Ludwigsburg, 2006

Ulrich Bergmann bezeichnet den Zyklus Kritische Körper als ‚Criminal Phantasy’. Der Leser findet in diesen Kurzgeschichten eine für diesen Autor typische Montagetechnik, unterstützt durch einen imagistischen Bildgebrauch und die Verwendung extremer Bilder. Von der Figurenzeichnung bis zum Handlungsablauf ist jederzeit klar, wie in diesem Zyklus die moralischen Grenzen verlaufen. Bergmann schreibt gegen den drögen Realismus der modernen Literatur an, und in der Tat besteht das Realistische seiner Literatur darin, das Grausame in seine Texte einfließen zu lassen, wobei sie plausible Beschreibungen des Innen und des Außen seiner Figuren auch ins Fantastische verlängern. Er erklärt uns eine Welt, in der sich die Bedeutung der Wirklichkeit nicht an der Oberfläche erschließt. Der Leser muss sich selber von der Abgründigkeit überzeugen.

Weiterführend → Lesen Sie auch zum Zyklus Kritische Körper den Essay von Holger Benkel.