HISTORIE VON DER ARMEN ESTHER CUMMINGS

I

Sie war noch klein da kam er an

ein schattenweicher mann

sie schob sich untern berg und

drückte sich daran

Und wie er kam so ging er

und sagte nicht ein wort

Aus haus und garten ging sie

allein früh morgens fort

Sie lebte in dem baumhaus

mit katzen in den tag

wo für den ersten hunger

das eingemachte lag

Sie träumte mit den tieren

und träumte sich bald leer

und einmal ging ihr auf das

sei hier kein leben mehr

Sie lief in tau und felder

ging bauern tags zur hand

so daß sie was zu essen

und was zu schlafen fand

Und fragte man wohin des wegs

gab sie: nach nirgends hin

und fragte man sie: bleibst du?

ich bleib nicht wo ich bin

Sie hatte lippenaugen

und einer tat’s ihr an

Sie bracht ein kind zur welt von

dem jungen unterm tann

und ging mit ihrer kleinen

in eine große stadt

da überkam sie wieder

was sie verlassen hat

II

Sie traute sich mit einem

der aus Zaire kam

und der sie übern winter

mit in die heimat nahm

Da machte er geschäfte

sie ging hinaus als vamp

und kam auf ihre kosten

in einem boxercamp

Mit seiner truppe riß sie aus

war einen film lang star

dann saß sie an der bühnentür

und hockte an der bar

und trank mit schwarzen musikern

bis daß sie müde war

denn niemand fragte mehr nach ihr

am Sunset Boulevard

III

Sie machte weil er reich war

den produzenten an

doch ans privatvermögen

da kam sie nicht heran

So ließ sie sich beerben

von einem für ne nacht

und hat das geld verdoppelt und

am abend durchgebracht

Nun hatte sie ne villa

am Sunset Boulevard

und eine unweit Akkra

am Kongo noch ein paar

Gefragt was sie wohl suche:

ich suche ein gesicht

Denn als er kam war schatten

und als er ging war licht

Sie spielten in den fluren

und fragten sie sie dann

warum wo du so schön bist

erklärt sich dir kein mann?

darum weil ich so schön bin

erklärt sich mir kein mann

Er traut sich in die nähe

er traut sich nicht heran

IV

So brachte sie den reichtum hin

und lebt‘ in armut fort

man sah sie unter menschen und

an menschenleerem ort

und fragte man wohin des wegs

gab sie: ich weiß es nicht

Der wind reicht ihr das tüchel hin

Der mond gab tschadorlicht

Wie eine marketenderin

so ging sie übers land

so ging sie und ein mädchen ging

ihr aufmerksam zur hand

Man fragte sie nach dingen die

man nicht im kopf verstand

da malte sie nur zeichen und

auch wörter in den sand

Man hat ihr vorgerechnet

daß sie noch was besaß

das hat sie dann versteigert

bis auf ein einmachglas

Ein jahr blieb sie verschwunden

und niemand wußte was

Der alte schloß die läden

Die kleine wußte was

Einst sagte sich die alte

es ist nun voll das maß

die tochter hat schon enkel

und lippenauge sah’s

Sie fuhr die halbe welt den

Sambesifluß hinauf

dort lebt sie sagt das volk noch

vom amulettverkauf

***

Rohlieder I – X von HEL, KUNO 2019

HEL ist bekannt als Herausgeber neuer Talente im „literarischen Underground“ und Publizist gesellschaftskritischer Lyrik sowie Essays. Nach dem Zyklus Zeitgefährten, die zwischen 1977 – 2008 entstanden sind, veröffentlicht KUNO die Reihe Rohlieder I – X, die dank Caroline Hartge neu ediert worden sind. In diesen Gedichten spürt HEL das Existenzielle im vermeintlich Banalen auf. Er hat es hat es nicht nötig, Fiktion zu erfinden … die Fiktion existiert bereits.

Weiterführend →

Eine Würdigung von HEL findet sich hier. Ein faszinierend langer Briefwechsel zwischen Ulrich Bergmann und HEL findet sich hier. Zur Lyrik von HEL findet sich hier ein Rezensionsessay von Holger Benkel. Eine Hörprobe des Autors findet sich auf MetaPhon.

Anmerkung:

Hab ich gesungen bis alle einschlafen