Die Stille, die eintrat, als die Sumoringer zum letzten Kampf in der Kokugi-Halle erschienen, fror jede Bewegung ein – das Licht der Scheinwerfer strahlte auf einmal noch greller und schimmernder, auf den vier großen Bildschirmen, auf denen der Kampf aller Kämpfe in übernatürlicher Großaufnahme übertragen wurde, damit auch die hinteren Reihen, manchmal in Zeitlupenwiederholung, jeden Griff sehen konnten, die geringste Grenzüberschreitung oder Bodenberührung, hörten alle, wie plötzlich einer der kleinen Reissäcke, die den Dohyo begrenzten, zerriss, die Körner fielen,
so kam es den Betrachtern der Stille vor, wie Sterne vom Himmel auf den Boden der Halle, ein stummer Urknall platzte in das Vakuum der ungeheuerlichen Spannung -, bis mit einem Schlage der schreckliche Mund der Vierzehntausend aufging und die ganze Halle gebar, so scharf knallte der Schrei der Erwartung in die Moleküle des explodierenden Moments.
Dann warfen unter dem kleinen Dach des Kampfplatzes die schwersten und stärksten Kämpfer, die jemals unter der Sonne des Landes gesehen wurden, das Salz in die flimmernde Luft, das im gleißenden Licht, als es fiel, brannte, und alle spürten, heute ist alles möglich, wird alles übertroffen, was die Geschichte über die Kämpfe der Naturgewalten seit Jahrtausenden schon erzählt. Die Augen der Kampfexperten wurden immer größer und richteten sich auf das Dach – es wird nämlich die sonderbare Geschichte überliefert, dass die größten Sumotori in der Zeit, als die Regeln des Kampfs noch erschaffen wurden, gleichzeitig in die Höhe sprangen, nachdem alle Stoßtechniken und Schiebemanöver versagt hatten, um in einem kurzen Luftkampf den Gegner mit neuen Griffen zu bezwingen. Denn im Fluge wirkten die Griffe, mit denen der Kämpfer den Gürtel des Gegners erfasst, damit er aus dem Stand gehoben wird und fällt, anders als am Boden. In einem dieser Kämpfe, von denen eine berühmte Kung-Fu-Chronik berichtet, stiegen beide Sumotori Arm in Arm aufs Dach des Dohyo, setzten dort, jeder auf seiner Schräge des Dachs stehend, den Kampf fort, hielten einander fest und versuchten den Kopf des Gegners auf das Dach zu drücken; der Kampf blieb unentschieden, weil die Kämpfer am Ende entkräftet vom Dach fielen und so unglücklich in den Ring stürzten, dass sie sich die Hälse brachen. Die Chronik lässt offen, ob der Schiedsrichter beide Kämpfer zu Verlierern erklärte.
Aber das sind natürlich alles Märchen, und der Leser solcher Chroniken wird überdies den Verdacht nicht los, dass feine Ironie rivalisierender Eliten im Spiel war. Wie sollte ein 150 Kilogramm schwerer Sumokämpfer, dessen Schnelligkeit zwar von den Liebhabern des Kampfrituals gern betont wird, aber in deutlichen Grenzen sich hält, in die Luft steigen und fliegen können, wo es ihm schon schwer genug fällt, den Boden, auf dem er als Sieger stehen muss, mit beiden Beinen zu verlassen? Legenden sind das, die wir in unsere Wirklichleit übersetzen müssen, wenn wir sie verstehen wollen, Legenden wie die von den Drachen, die uns an unsere Vorfahren erinnern, die Flugsaurier, das Animalische in uns, das Böse, das wir im Kampf gegen uns selbst besiegen. In Wirklichkeit erzählen uns unsere Augen immer die wahren Geschichten, die schöner sind, aber oft und zugleich schlimmer.
Der Kampf, von dem in dieser Geschichte die Rede ist, ereignete sich vor den Augen des Erzählers, der die alten Geschichten, als er sah, was er hier beschreibt, noch gar nicht kannte und völlig unparteiisch das Geschehen verfolgte – im Konsens mit vierzehntausend Zeugen und in völliger Übereinstimmung mit den Filmaufzeichnungen.
Die beiden Kämpfer gingen in die Hocke, dann gab der Schiedsrichter den Kampf frei. Die Ringer gingen aufeinander los. Zunächst versuchte der eine den anderen aus dem Ring zu stoßen, indem er blitzschnell die offene Hand gegen das Gesicht und die Brust des Gegners führte, der jedoch auswich und den in die Leere schwingenden Angreifer über die Reisgrenze zu schieben trachtete, was genauso fehlschlug wie die folgenden Versuche den Mawashi des Kontrahenten zu fassen und ihn aus dem Stand zu heben. Der Kampf zog sich stundenlang hin, ohne dass auch nur ein einziger Reissack berührt wurde. Sie waren gleich stark, gleich schnell, reagierten auf jede Taktik ohne Fehler, sie wandten beide ihr gesamtes grifftechnisches Repertoire an, erfanden neue Bewegungsstrategien, eine neue Choreographie des Kampfes und beherrschten jede Anforderung an die Atemtechnik in Angriff und Verteidigung, dass der Schiedsrichter in seiner Konzentration langsam ermüdete.
Die Zeugen des Kampfes spürten, dass eine Entscheidung, wie auch immer sie ausging, in der Luft lag, als plötzlich alle Bewegungen einfroren und die Ringer, die in der Mitte des Rings standen, sich langsam losließen, ein paar Schritte auseinander gingen und an der Reisgrenze stehen blieben. Keiner wagte zu atmen. Beide Ringer streckten die rechte Faust zum Himmel des kleinen Dachs. Sie öffneten die Hand. Zwei Blitze zischten unter dem Himmel. Sie fingen die fliegenden Messer aus der Luft und schlossen fest die Hand um den Griff des langen scharfen Stahls.
Als der Schiedsrichter sich zwischen die schweren Leiber warf, war es schon zu spät. Die Messer steckten bis zum Knauf in der Stirn der Kämpfer. Aus dem gingkoblattförmigen Knoten ihres schwarzen Haupthaars ragte die Spitze des Stahls. Dann fielen die mächtigen Körper nach hinten, die Köpfe schlugen so wuchtig auf den Boden, dass die Messer aus der Stirn schossen – ins schimmernde Licht.
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Kritische Körper von Ulrich Bergmann, Pop Verlag Ludwigsburg, 2006
Weiterführend → Lesen Sie auch zum Zyklus Kritische Körper den Essay von Holger Benkel.