Die Lösung

An einem der letzten Julitage kurz vor den Großen Ferien gingen sie wieder in die Stadt, um die finale Aktion zu realisieren, STOP THIEF! Sie filmten mit drei Videokameras. Den Zusammenschnitt wollte Julian, ein Freund Isabels, der an der Filmhochschule in Potsdam studierte, besorgen. Julian kannte Christopher, der kannte Schlingensief, dem wollten sie dann die Vollendung zeigen. „Das haut schon hin“, sagte Julian, „wenn ihr das Ding richtig abzieht.“ Torsten spielte den Dieb, Isabel die Bestohlene. Max stand mit der ersten Kamera an der Gabelung der beiden Gassen. Rechts die Brüdergasse, der Fluchtweg für Torsten. Kurz vor der Unterführung zur Therme stand Ruth mit der zweiten Kamera. Links die Wenzelgasse, in die Sören reinlief, um von Torsten abzulenken, ein Gag, den sich Max ausgedacht hatte. An der Ecke Wenzelgasse/Friedrichstraße stand Verena mit der dritten Kamera.

Isabel hielt die Riemen ihrer Handtasche am hochgestreckten Arm und ließ die Tasche pendeln. Torsten kam von hinten auf sie zu, riss die Tasche an sich – Isabel schrie laut um Hilfe – und raste in die Brüdergasse. Gleichzeitig rannte Sören in die Wenzelgasse. Der Fahrer eines Kleinlastwagens, der am Markt parkte, in den beide Gassen mündeten, sah von hinten den Doppelstart, warf mitten im Gespräch sein Handy auf den Beifahrersitz, sprang auf die Straße und jagte hinter Torsten her. Max, der für den Zufall ein schnelles Auge hatte, erwischte den Fahrer mit der Kamera schon, als er mit den Füßen den Boden berührte. Torsten kam gut durch die belebte Gasse, wusste aber nicht, wie ihm geschah, als er plötzlich stolperte und auf die Steinplatten flog – während Sören, der nicht ahnen konnte, dass die Bäckerin, die schräg gegenüber dem METROPOL den Diebstahl von vorn sah, allerdings verdeckt durch Passanten, sodass sie glaubte, Sören sei der Dieb, weil er so dicht an ihr vorbeifetzte, die Polizei benachrichtigt hatte, die gerade in der Friedrichstraße, von der Wache sofort verständigt, in einem Streifenwagen langsam auf die Wenzelgasse zufuhr, ins Netz ging -, weil ein Penner, er war der einzige, der Torsten vor dem Verschwinden in der Unterführung noch aufhalten konnte, von den warmen Steinplatten, auf denen er in der Mittagshitze schon halb eingedöst war, aufsprang und ihm seinen Knüppel, Ruth fing ihn geistesgegenwärtig mit der Kamera ein, zwischen die Beine warf. Sören, den Verena mit einem satten Schwenk beim Einbiegen in die Friedrichstraße verfolgte, lief also den Polizisten genau in die Arme, während Torsten, die Tasche fest im Griff, aufstand, den Penner wegstieß, zurückwetzte und mit dem Fahrer des am Markt geparkten Kleinlastwagens zusammenprallte, sodass beide zu Boden gingen. Torsten konnte gerade noch die Tasche über die Köpfe der Passanten zu Max schleudern, der in die Riemen griff und die Tasche, um weiter filmen zu können, Ruth zuwarf. Zur gleichen Zeit stand Verena, die laufende Kamera in Hüfthöhe tragend, schon hinter dem Streifenwagen. Der Fahrer des Kleinlastwagens packte Torsten fest am Arm, als Sören sich plötzlich von den Polizisten, die ihn vernahmen, losriss und abhaute. Mit einem spitzen Schrei sprang er, als er die Wenzelgasse erreichte, in die Sonne, zog im Sprung sein Portemonnaie hinten aus der Jeans raus und warf es im hohen Bogen, von den Fanfaren begleitet, die aus dem Haus der Musik schallten, in die geile Menge, und Ruth wirft nun die Tasche in den blauen Himmel, genau an der Stelle, wo sie gestohlen worden war, da rennt der erste Polizist an der Bäckerei vorbei, wirft seine Mütze in die Höhe und, Isabel fängt gerade ihre Tasche, greift eine der Brezeln aus der Luft, die die Bäckerin in die Takte der Beethovenschen Musik stopft. Über den Köpfen der Bürger dieser Sommerstadt fliegen lauter Taschen und Geldbörsen, und jeder fängt das Geld des anderen auf, wirft es hinauf ins himmlische Blau, und die ganze Stadt springt in die Luft. „Wenn wir den Film in der Schule zeigen, glaubt uns kein Arsch, dass wir den gedreht haben“, sagte Max. Sie wussten schon viel. Sie waren gerade erwachsen geworden, was auch immer geschah. Und dabei blieb es.

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Kritische Körper von Ulrich Bergmann, Pop Verlag Ludwigsburg, 2006

Ulrich Bergmann bezeichnet den Zyklus Kritische Körper als ‚Criminal Phantasy’. Der Leser findet in diesen Kurzgeschichten eine für diesen Autor typische Montagetechnik, unterstützt durch einen imagistischen Bildgebrauch und die Verwendung extremer Bilder. Von der Figurenzeichnung bis zum Handlungsablauf ist jederzeit klar, wie in diesem Zyklus die moralischen Grenzen verlaufen. Bergmann schreibt gegen den drögen Realismus der modernen Literatur an, und in der Tat besteht das Realistische seiner Literatur darin, das Grausame in seine Texte einfließen zu lassen, wobei sie plausible Beschreibungen des Innen und des Außen seiner Figuren auch ins Fantastische verlängern. Er erklärt uns eine Welt, in der sich die Bedeutung der Wirklichkeit nicht an der Oberfläche erschließt. Der Leser muss sich selber von der Abgründigkeit überzeugen.

Weiterführend → Lesen Sie auch zum Zyklus Kritische Körper den Essay von Holger Benkel.