Kinderkreuzzug

Als sie beinahe alle Weltstädte in Brand gesetzt hatten, zogen sie auf Rom zu, um den Papst zu töten. Nichts vermochte sie aufzuhalten. Mit Steinen, Eisenketten und Stöcken hatten sie ganze Heere geschlagen. Sie waren zu viele. Millionen von Erwachsenen knüpften sie an die wenigen noch gesunden Bäume. Niemanden verschonten sie. Die Politiker nicht, die in Todesangst das Blaue vom Himmel versprachen. Die Bankiers nicht, die sie mit Schokolade zu bestechen versuchten. Und auch nicht die Latzbehosten, die solidarisch den Kaffee aus Nicaragua kauften.

Wie auf ein geheimes Signal hin waren sie losmarschiert, 145 Millionen Kinder, sechs bis vierzehn Jahre alt. Sie verließen die Bergwerke, Müllhalden und Bordelle, um endlich Bambule zu machen. Zu verlieren hatten sie nichts. Für fünfzig Cent Wochenlohn erhältst du nicht mal in Bombay was Gescheites.

Auf ihren Kreuzzügen verloren sie täglich 40.000 durch Hunger, Seuchen und Drogen. Alles Schöne zerstörten sie. Es hätte ihnen eh nie gehört. Als die ersten Panzer auftauchten, hechelten sie gegen die Angst ein hochgiftiges Lösungsmittel in die Lungen und marschierten weiter. Die Tanks schossen riesige Schneisen. Doch was ist das schon, wenn sich ein Millionenheer fortwälzt. Die Kinder stürmten die Kampfmaschinen, rissen die Fahrer aus den Luken, erwürgten sie oder bissen ihnen die Halsschlagader durch.

Endlich standen sie vor Rom. Die italienische Polizei und die Schweizer Garde hatten sich längst in die Berge davon gemacht. Aus allen Himmelsrichtungen strömten die Kinder dem Vatikan zu. „Nein“, ruft Wojtyla, „nein! Nicht das heilige Reliquiar des Geiselstricks Christi!“ Doch da liegt der Bergkristallbecher um 1380 schon zerbrochen am Boden. Schweißgebadet wacht der Papst auf. „Das darf nie geschehen“, flüstert er, „das darf nie geschehen.“ Noch in derselben Nacht diktiert er seinem Sekretär: „Das täglich wachsende Elend in den meisten Ländern der 3. Welt zeigt überdeutlich, dass die menschlichen Defizite des Kapitalismus mit der daraus resultierenden Ausbeutung der Menschen durch die Dinge noch längst nicht überwunden ist.“ So entstand 1991 die berühmte Enzyklika Centesimus Annus.

Ob ‘s was helfen wird? „Drastische Kapitalismuskritik“ über­schrieben viele Zeitungen den päpstlichen Tadel. Gleichzeitig konnten wir nachlesen, dass Ciba-Geigy DDT-haltige Pflanzenschutzmittel nach Tansania verkauft hat. Wir glauben immer noch, weiter machen zu können wie bisher

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Leseprobe aus: Das vogelfreie Fliegen. Eine Auswahl von Jens Prüss. Edition Virgines, 2019.

Jens Prüss zählt zu den beachtenswertesten Publizisten des Rheinlands. Als politisch engagierter Journalist und zeitweiliger Leiter des Literaturbüros NW erweist er sich als Gesellschaftskritiker in der Tradition Heinrich Heines. Zugleich ist Der Kabarettist mit dem Löwensenf, Theaterautor, und ein stilsicherer Prosaist. Seine Sprache umfaßt ein breites stilistisches Spektrum und wirkt dabei besonders in Humor und Ironie stets überaus erfrischend und souverän, auch die Verbindung von rheinischen Schauplätzen mit einem universellem Gehalt ist vollauf gelungen. Das vogelfreie Fliegen ist eine sinnfällig zusammengestellte Auswahl, die ein guter Einstieg in das Werk dieses vielseitigen Autors ist. Zwischen 1991 und 2018 nimmt er uns gleichsam mit auf eine Zeitreise. Prüss beeindruckt in seiner Fabulierlust vor allem mit Texten, denen man die feine Feile anmerkt. Ihm gelingt mit dieser Compilation die überzeugende literarische Spiegelung einer Gesellschaft im Umbruch.

Matthias Hagedorn