Streitgespräche gehören zum Alltag und geben ihm sogar eine gewisse Würze. Für einige Minuten oder vielleicht sogar Stunden schnellt der Blutdruck hoch, man kann sich herrlich aufregen und findet alles ungerecht. Zunächst rötet sich der Hals und man hat das Gefühl er schwelle langsam an. Das Gesicht wird immer wärmer und irgendwann könnte man meinen, dass die Wangen unter dem ungeheuren Fließen ungeheurer Blutmengen irgendwann platzen werden. Das allerdings sähe nicht so gut aus, also lassen sie es auch. Gut, wenn man bei der Sache bleibt, dann kann man sich hinterher freundschaftlich auf die Schulter klopfen und ein Bierchen trinken gehen oder Wein. Meistens wird man im Laufe des Abends in fast hysterisches Gelächter ausbrechen, schon allein beim Gedanken dran, dass die anderen wahrscheinlich nun Schlimmstes befürchten. Die werden sich nie wieder in die Augen sehen können, diese Streithähne werden wir auseinander halten müssen. Keine Sorge, möchte man dann sagen, das wird uns nicht passieren. Der ehrliche Streit ist das Salz in der Suppe einer guten Freundschaft, einer echten Partnerschaft.
Manchmal kippt ein solcher Disput allerdings ins Persönliche, vor allem bei Leuten, die sich per se nicht leiden mögen, dann wird es tatsächlich gefährlich, denn in solchen Fällen bleiben Verletzungen nicht aus, tiefe Wunden, die nur sehr langsam heilen und dabei auch noch fiese Narben hinterlassen. Ein einmal ausgesprochenes Wort ist nicht zurücknehmbar. Es wird bleiben und wirken. Selbst wenn die Kontrahenten es irgendwann vergessen haben, irgendwer wird daran erinnern und dann kommen die alten Gefühle ganz plötzlich und unerwartet wieder hoch.
Auch Herrn Nipp war solches sicherlich schon häufiger passiert. Er galt nicht umsonst nicht gerade als Integrationsfigur, sondern seine Stärke lag im Polarisieren. Egal ob bei Freunden oder im Geldberuf, den er ausübte, um den Rest machen zu können. Man mochte oder hasste ihn, dann konnte er mit süffisantem Grinsen meist darüber hinweg gehen. Er machte sich seine Gedanken und das Gegenüber merkte dies sehr deutlich. Manchmal ist das ätzend kleine Säurespritzerchen in einer Unterhaltung eine Falle. Es ist einfach eine Kunst, mit wenigen Worten den anderen zur Weißglut zu bringen, am besten auf rein sachlicher Ebene. Aber was ist schon sachlich, ein harmloses Wort in einer Kommunikationskette kann immer genau das Gegenteil bewirken. Schon mit den Worten anzufangen, „ich glaube, das ist so nicht richtig“ kann andere völlig aus der Fassung bringen, denn hier kommen zwei verschiedene Dinge aufeinander. Der Glaube ist unantastbar. Mit diesem allerdings kundzutun, dass eigentlich Wissen oder eine Meinung (hier kaum unterscheidbar) gemeint ist, bringt das werte Gegenüber automatisch in die Defensive. Er oder sie kann nun entweder selber mit dem Glauben argumentieren oder unterliegt im Umkehrschluss falschen Schlussfolgerungen. War nicht nach der Vorstellung des Konstruktivismus des Herrn von Fuchs eine objektive Welt auszuschließen, war diese nicht immer eine Folge der Betrachtung? Ja, Herr Nipp konnte ein Lied davon singen, dass er oft in solche Fallen geführt worden war, unentrinnbar. Dann ging die Eskalation ihren Weg und das Gegenüber konnte sich eins ins Fäustchen lachen. Herr Nipp fühlte sich damals meist als Verlierer und war im Anschluss ganz bedrüppelt. Es ist einfach nicht schön, wenn man in einem Streit einerseits unterliegt und andererseits auch noch beleidigt wird, das bringt einen zum Verstummen oder zur lautstarken Verbalklatsche. Beides ist beschämend später. Besser war es in solchen Fällen, immerhin hatte er das gelernt, plötzlich ganz ruhig zu werden, die innere Mitte zu finden und ganz sachlich mit einen Tonfall zu reden, als sei der Streitgegner ein Kind. Man stelle sich nur einen erwachsenen Menschen vor, sei es Frau, sei es Mann, der so behandelt wird. Sein gesamtes Sozialisationsselbstverständnis bricht in solchen Fällen einfach zusammen. Dies ist die höchste Form der eristischen Dialektik. Das Gegenüber wird sich versteigen, selbstverständlich und aus dieser selbst gebauten Falle nicht wieder heraus kommen.
Andererseits hatte er wirklich immer wieder seine Freude daran, wenn andere sich stritten, dann konnte er sich genüsslich zurück lehnen und mit sich selber Wetten abschließen, wann die angespannte Unterhaltung völlig kippen würde. Vor allem, wer gewinnen würde. Als inhaltlicher oder moralischer Sieger. Am Schönsten war eine solche Situation, wenn sie in einem Bildungsinstitut stattfand. In diesem Fall wäre alles hintüber gefallen, alles aus der Bahn gerissen worden. Die inhaltliche Diskussion würde zu einer persönlichen Beleidigungsschlacht. Endete im Extremfall mit der Anschuldigung, der Andere sei einfach nur anmaßend, damit gemeint auch inkompetent. Wenn dieser dann ging, sich eine halbe Minute mit einem Becher voll dampfenden Kaffees an den Tisch setzte, dann würde er zeigen, dass er nun ein Aufputschmittel braucht. „Was du sagst, meine Liebe, mein Lieber, kann mich nicht aufregen.“ Was hatte der schimpfwörtersuchende Sprachwissenschaftler Reinhold Aman noch so schön formuliert: „Beleidigungen sind ehrlicher als Kose- oder Lobesworte, weil sie aus dem tiefsten Hirn und aus der tiefsten Seele kommen.“
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Das Mittelmaß der Welt, unerhörte Geschichten von Herrn Nipp, dokumentiert auf KUNO 1994 – 2019
Weiterführend → Zu einem begehrten Sammlerstück hat sich die Totholzausgabe von Herrn Nipps Die Angst perfekter Schwiegersöhne entwickelt. Außerdem belegt sein Taschenbuch Unerhörte Möglichkeiten, daß man keinen Falken mehr verzehren muss, um novellistisch tätig zu sein. Herr Nipp dampft die Gattung der Novelle konsequent zu Twitteratur ein. Und außerdem präsentiert Haimo Hieronymus die bibliophile Kostbarkeit Über Heblichkeiten, Floskeln und andere Ausrutscher aus den Notizbüchern des Herrn Nipp. Begleitendes zur Veröffentlichung des Buches Fatale Wirkungen, von Herrn Nipp (Mit Fotos von Stephanie Neuhaus). Über die historische Aufgabe von Herrn Nipp aus Möppelheim.
Zum Thema Künstlerbucher lesen finden Sie hier einen Essay sowie ein Artikel von J.C. Albers. Vertiefend auch das Kollegengespräch mit Haimo Hieronymus.
Diese bibliophile Kostbarkeiten sind erhältlich über die Werkstattgalerie Der Bogen, Tel. 0173 7276421