der band »Freiheit« von linda vilhjálmsdóttir, geboren 1958, die auch theaterstücke und einen roman schrieb, erschien 2015 isländisch. es ist ihr siebenter lyrikband seit 1990 und der dritte ins deutsche übertragene. die nachdichtung besorgten jón thor gíslason, maler, zeichner, übersetzer, und wolfgang schiffer, schriftsteller und übersetzer, die sich auch sonst um die vermittlung der isländischen literatur verdient machen. das cover stammt von ümit kuzoluk. gedruckt wurde das buch in istanbul. dies ist ein schönes beispiel dafür, wie menschen aus verschiedenen kulturen europas zusammenwirken können.
da die autorin wesentliches zu sagen hat, kann sie in einer einfachen, klaren und direkten sprache schreiben, der auch die schlichte und feine buchgestaltung entspricht. ihre gedichte, zugleich sensibel und energisch, äußern mit einem nüchternen ernst, dem man in den nordeuropäischen literaturen vielfach begegnet, schmerz, zorn und empörung über die finanzkrise vor 10 jahren, die in island zur staatskrise wurde und das land an den rand des ruins trieb, sowie die ursachen dafür, die sie hinterfragt. ich stellte mir beim lesen ihres buches vor, wie sie susan sontag liest.
der band, genau genommen ein fließendes langgedicht, wenngleich in ein eingangskapitel und drei weitere teile untergliedert, mit gut 50 seiten länge, jeweils im original und deutsch, sowie ohne interpunktion, folgt gewiß keiner freiheitsapologetik, sondern verteidigt die freiheit offensiv und kritisch. man könnte den buchtitel, bei dem mitzudenken ist, daß die isländer den wert eines freien und unabhängigen lebens besonders schätzen, auch mit einem fragezeichen versehen, oder lesen. denn die finanzwirtschaftlichen verwerfungen machten das land extrem abhängig von finanzmärkten, und damit unfreier. ideologen der freiheit meinen mit diesem begriff häufig eher einen ungebremsten egoismus und beschädigen die freiheit damit. denn mißbräuche der freiheit, denen wir, öffentlich und privat, heute zunehmend begegnen, gefährden am ende, zumal wenn sie, zumindest indirekt, autoritären kräften argumente liefern und anhänger zuführen, nicht nur die positive freiheit, sondern die freiheit insgesamt.
insbesondere jene, die freiheit mit ihrer macht und ihren privilegien verwechseln, müssen kritisiert werden. die hasardeure, die durch ihr handeln die finanzkrise auslösten, waren indes auch getriebene, und somit eigentlich marionetten, ihrer eigenen systemgläubigkeit sowie von strukturen und mechanismen, die sie selber bloß begrenzt durchschauen. eben deshalb ist nicht allein eine kritik von personen nötig, sondern die analyse der, teils rationalen, teils irrationalen, energien, die das weltweite finanzwesen antreiben, und der damit verbundenen verhaltensweisen, sowie ein nachdenken über wirksame gegenkräfte, ohne die sich finanzkrisen wiederholen könnten.
gute gedichte zu solch sachbezogenen problemen lassen sich gar nicht so leicht schreiben. umso bemerkenswerter finde ich, wie dies linda vilhjálmsdóttir gelang, indem sich der text, poetisch und sachlich genau, entlang seiner grundmotive entfaltet. das buch beginnt mit elementaren wahrnehmungen, die sie mit knappen worten benennt, wie allwiss in der »Älteren Edda«, licht und finsternis, himmel und erde, feuer und wasser, die in island den menschen noch näher und gegenwärtiger sind als anderswo. das nachfolgende erste kapitel beschreibt und reflektiert, nun etwas weniger verknappt, weil hier fakten mitzudenken waren, lebensformen, mit denen der mensch seine lebensgrundlagen zerstört, das zweite kapitel eindrücke einer reise nach jerusalem, also an einen knotenpunkt der weltreligionen, und damit der weltkulturen, aber auch der weltkonflikte, ehe die autorin im schlußkapitel nach island zurückkehrt.
sie fragt nach dem richtigen maß, wenn sie schreibt: »wir haben / das wort vervielfacht / auf erden // vervielfacht die festungen / zwischen himmel und erde / vervielfacht gott // vervielfacht das lachen / das weinen den hass und die gier // vervielfacht alles / zwischen himmel und erde / alles außer der güte« und »wir haben die freiheit vervielfacht / uns selbst lebendig zu begraben // auf der hauswiese / daheim«. das wir, in dessen namen sie spricht, macht deutlich, daß man für die lösung menschheitlicher probleme und konflikte auch ein menschheitliches bewußtsein braucht, das noch ziemlich unterentwickelt ist. friedrich dürrenmatt schrieb: »Was alle angeht, können nur alle lösen.« und »Jeder Versuch eines Einzelnen, für sich zu lösen, was alle angeht, muß scheitern.« viele aber haben, von den beschleunigungen und ambivalenzen ihres fragmentierten lebensalltags gejagt und überfordert, nicht einmal mehr eine ahnung vom ganzen.
die hauswiese als lebensraum liegt in island, dem thule der antike, oft nahe der grenzen zwischen zivilisation und wildnis, die dort wegen der vergleichsweise unberührten natur sichtbarer werden. die memoiren von halldór laxness heißen »Auf der Hauswiese«. wenn die autorin von der heimischen hauswiese ausgeht, meint sie zugleich die gesamte welt. und das ist im isländischen angelegt. denn die worte für daheim und welt sind verwandt. heim bedeutet heim, nach hause, heima daheim, zu hause, heimili heim, wohnung, heimur welt, heimsálfa erdteil, kontinent, heimsríki weltreich, heimsborgari weltbürger, kosmopolit, heimspeki philosophie, speki weisheit, heimsendir weltuntergang, apokalypse, das jüngste gericht. isländisch tún = (haus)wiese, feld gehört zur gleichen wortwurzel wie schwedisch tunnland = flächenland, ein morgen, ursprünglich eine umzäunte wiese, deutsch zaun und englisch town = stadt, gemeinde. einem gemeinsamen wortstamm zugeordnet werden auch altnordisch garðr = zaun, gehege, hof, gehöft, garten, isländisch garður = garten, wall sowie deutsch garten, tschechisch hrad = burg, schloß und russisch górod = stadt. isländisch hagsæld = wohlstand übersetze ich poetisch mit weidenglück, siehe altnordisch hagi = weideplatz, eingehegtes stück land, isländisch hagi = weide, verwandt mit deutsch hag, hain, hecke, hegen, gehege, und sæla = glück, obwohl auch haga = ordnen, einrichten mitzudenken wäre, das auf viele lebensbereiche und fähigkeiten bezogen werden kann, bis hin zu hagmæltur = dichterisch begabt, mælskur = beredt, redegewandt. der hain war ursprünglich ein umhegtes stück land, in dem heidnische götter verehrt wurden, ein altar in freier natur.
einer der besten filme zur thematik der finanzkrise, der subjektive und objektive faktoren zusammenschaut, ist der us-amerikanische film »Arbitrage – Der Preis der Macht« von nicholas jarecki aus dem jahr 2012, wo ein hedgefonds-manager, gespielt von richard gere, kaltblütig und distanziert, fast möchte man sagen schlafwandlerisch, oder wie ein geist, schwebend, oder gleitend, und zugleich getrieben, oder automatenhaft, durch die parallelwelten der finanzwirtschaft und andere wirklichkeiten wandelt und dabei unheil anrichtet, das sein empfinden kaum noch zu erreichen scheint.
ich schaute beim lesen des buchs von linda vilhjálmsdóttir nochmal nach, was ich, eher aphoristisch, zur finanzkrise notiert hatte: »jede verwertung ist immer auch eine entwertung.«, »die welt der globalisierung bewertet ganze völker nach privatinteressen.«, »historisch betrachtet traten geldmechanismen vielfach an die stelle von kriegsmechanismen. dadurch konnten sich humanere umgangsformen entwickeln, die jedoch die grundkonflikte abhängiger menschen nicht beseitigt haben, weshalb dort, wo geld gewalt bloß sublimiert ersetzt, die rückkehr zu überwunden geglaubten verhaltensweisen immer möglich bleibt.«, »die virtuellen gelder des 21. jahrhunderts gleichen gogols toten seelen.«, »geld ist das hauptwerkzeug der kriminalität.«, »die börsennachrichten, eine lektion in zynismus.«, »unterm diktat des geldes gilt das tote produkt als gutes produkt. denn was nicht bald veraltet und verbraucht ist, hemmt das kaufinteresse. bis der mensch, das momentan noch größte hindernis für eine ungehemmt herrschende technokratie, von seinen apparaten und prothesen geistig und seelisch amputiert zurückgelassen, selber zum perfekt austauschbaren produkt seiner produkte wird.«, »wer wirklich freie bürger will, müßte das geld, das weltweit größte zwangsinstrument, eigentlich abschaffen.«, »in einer gesellschaft, die alles verwertet, ist es ehrenwert, nicht verwertbar zu sein.« und »vielleicht führt die zerstörung des werts der lebendigen arbeit am ende zum zusammenbruch der verwertungssysteme.«
neben der finanzkrise thematisiert die autorin umweltschäden und klimawandel und spricht von einem »Ergebenheitsparadies«: »was noch übrig ist / wenn wir das gartentor ins schloss werfen / wird den raben und den hunden vorgeworfen / und der rest geht außerhalb der umzäunung auf den müll // wo der abfall eines menschenlebens / in grammatischer rationalisierung endet / so dass desinfizierte müllwörter übrig bleiben / wie entladung beseitigung vergrabung und vernichtung«.
die sprachliche wegwerfmentalität entspricht der lebensrealen. je abgestumpfter und gleichgültiger, und dadurch weniger einfühlend und staunend, das wirkliche benannt und wahrgenommen wird, umso leichter fällt das wegwerfen. dingworte, die ein denken in worthülsen etablieren, sind sprachlicher ausdruck einer verdinglichung, und damit entfremdung, der menschen. wir haben somit zu fragen, inwieweit unser bewußtsein und unsere sprache den chancen und risiken der zukunft, also der kommenden zeit, noch entsprechen.
»es wird als gegeben angesehen / dass die menschliche rasse zugrunde gehen wird // dass sie in kürze in einer flut versinkt / oder verbrennt mit haut und haar«, schreibt linda vilhjálmsdóttir sarkastisch. der grill wird ihr zum sinnbild einer falschen lebensweise, die ressourcen unmäßig verbraucht. an einer stelle sagt sie: »haben wir unseren nachwuchs / unbehelligt auf den überflussgrill / gelegt«. das klingt fast kannibalisch. unbehelligt im sinne von ungestört wäre ja so schlecht nicht, sofern die kinder groß genug sind. wer jedoch auf den grill gelegt wurde, verbrennt womöglich wirklich, oder liegt wie eine ware zum gebrauch da. derart können kinder in ein wohlstandsunglück mit ungewissen aussichten geraten. vielleicht ist das grillen eine profane nachfolgeform einstiger opferfeuer. wer die natur außerhalb der umzäunung zerstört, wird am ende auch auf umzäuntem land darunter leiden, oder gar zur opfergabe. dagegen ruft die lyrikerin güte, würde und verantwortung auf, die nicht unbedingt zum verhaltenskanon des postmodernen menschen gehören. man könnte noch empathie, achtung, behutsamkeit, rücksichtnahme und voraussicht hinzufügen, dem menschlichen genauso wie der außermenschlichen natur gegenüber, also werte, über die viele kaum nachdenken oder die ihnen als unzeitgemäß erscheinen.
der klimawandel hat für island, wo inzwischen sogar bienenfresser leben, bunte vögel, die aus südeuropa stammen, zunächst nicht nur negative folgen. die erwärmung verbessert die möglichkeiten der landwirtschaft, so zum getreideanbau, und zu aufenthalten im freien, und lockt vermutlich auch mehr touristen an. andererseits lagern im eis der gletscher große mengen kohlenstoff, die beim abtauen frei werden und, sofern ihn nicht pflanzen bei ihrer fotosynthese aufnehmen, als kohlendioxid in die atmosphäre gelangen, wodurch die temperaturen weiter steigen. ebenso kann der anstieg des meeresspiegels nicht im interesse der bewohner eines landes sein, dessen bevölkerung zum großteil entlang der küsten lebt. das buch, das eine poetische analyse und kritik egoistischer verhaltensweisen, des finanzkapitalismus und einer von einseitigen interessen, stichwort lobbyismus, gelenkten politik bietet, ist auch eine mahnende und aufrüttelnde rede an das isländische volk. stellenweise wird mir der text beinahe zu sehr zur ansprache, was sich freilich inhaltlich begründen läßt.
wir können nur hoffen, daß »sich das ende der bewohnten welt / in einen strudel neuer weltsicht wandelt«. das paradoxe dieser metapher zeigt, wie schwer das sein wird. müssen menschen immer erst selber leiden, bevor sie aufwachen? das buch endet mit: »und gleiten tatenlos / über das ultraviolette weltweiteweb / in der spät aufgeklärten macht der väter // während die menschenkinder sich gewöhnen / an die stechende kälte die brennende hitze / und den zunehmenden mangel / an luft.« »weltweiteweb« übersetzt isländisch veraldarvefinn, wörtlich weltgewebe. auch texte sind ihrem wortursprung nach etwas gewebtes oder geflochtenes. veraldarsaga ist die weltgeschichte und saga mit deutsch sagen und sehen verwandt. es wird zeit, daß die menschen die globalisierten gewebe ihrer welt erkennen, damit sie gemeinsam darauf einwirken können.
aktuell denken immer noch zu wenige über ihr haus und ihre wiese, ihren zaun und ihre stadt, ihr land und ihre interessengruppe hinaus. viele verwechseln zudem egoismus mit individualität. individuell leben bedeutet, eigene begabungen, intentionen, fähigkeiten und naturelle zu entwickeln. egoistisches handeln hingegen richtet sich häufig, bewußt oder unbewußt, gegen andere, zumindest in seinen auswirkungen, oder ignoriert die interessen anderer einfach, und kann dadurch rücksichtslos und verletzend sein. doch letzten endes führt jeder kranke und zynische traumzustand der selbstverliebtheit, also selbstbeschränkung, zu einem, entweder befreienden oder entsetzten, erwachen, und zwar individuell, kollektiv, gesellschaftlich und global.
während meiner jüngsten lesungen wurde ich öfter gefragt, ob aphorismen wie »utopien sind ein ewiger kreuzzug der kinder.«, »bald wird die klimakatastrophe wetterreform heißen.«, »der regenwald wird durch vernichtung kultiviert.« oder »der schlachthof ist die rache der menschen an ihrer eigenen herkunft.« durch die proteste von kindern und jugendlichen gegen den klimawandel und andere umweltsünden angeregt wurden, worauf ich antwortete, diese gedanken seien einige jahre alt, und ergänzte, wer selber denke und über die tellerränder seiner gegenwart hinausschaue, könne manches voraussehen, das dann wirklich geschehe. wir wissen heute viel mehr über gefährdungen der umwelt als noch vor 50 jahren. aber die umsetzung des wissens, das heißt der nächste schritt, gelingt nicht schnell genug. der interdisziplinäre naturforscher alexander von humboldt wies bereits vor 200 jahren darauf hin, daß die rodung des regenwaldes in brasilien verheerende folgen für das klima haben könne. die britische regierung gab ihm später keine genehmigung, nach indien zu reisen, weil sie befürchtete, er würde dort ähnliche vergehen der kolonialmacht aufdecken.
kritisches engagement wird heute auch dadurch verhindert, daß sich menschen im labyrinth und auf der rennbahn, oder in den laufrädern, ihrer alltagsabläufe mit vielem konfrontiert sehen, das sie kaum noch überblicken und einordnen, geschweige denn beeinflussen zu können glauben. siegfried kracauer schrieb schon vor 60 jahren: »Die Welt ist so komplex geworden, politisch und anderweitig, daß sie sich nicht mehr vereinfachen läßt. Jede Wirkung scheint von ihren mannigfachen möglichen Ursachen getrennt zu sein; jeder Versuch einer Synthese, eines vereinheitlichenden Bildes, erweist sich als unzureichend. Daher ein weitverbreitetes Gefühl der Ohnmacht angesichts von Einflüssen, die unkontrollierbar sind, weil sie sich der Definition entziehen. Zweifellos leiden viele von uns, bewußt oder unbewußt, darunter, diesen Einflüssen hilflos ausgesetzt zu sein.« bei friedrich dürrenmatt erklärt augias: »Es ist eine schwere Zeit, in der man so wenig für die Welt zu tun vermag, aber dieses Wenige sollen wir wenigstens tun: das Eigene.«
jerusalem beschreibt linda vilhjálmsdóttir mit skepsis dem praktizierten religionstourismus gegenüber. die religiösen stätten dort sind für gläubige zwar unverändert orte der verheißung. sie als neutrale beobachterin bemerkt aber vor allem vorurteile und spaltungen unter den menschen, die bis zum religiösen und nationalistischen fanatismus reichen, und weist etwa auf die chancenungleichheit zwischen israelis und palästinensern sowie männern und frauen hin. »hier hat sich die wut in sinn und seele eingenistet / und die front verläuft mitten durch das tägliche leben / über straßen und stiegen durch schulen und heime durch flure / und häuserstuben durch die erinnerungen von opa und oma / gedanken von papa und mama durch die brust eines jeden kinds / hinunter in das grabgewölbe aus dem sie als echo widerhallt«. der blick zurück verschärft und legitimiert so haß und gewalt, und umgekehrt. da wäre wohl, um aus diesem teufelskreis herauszukommen, ein neuen schub an modernität und vernunft nötig, ohne den es keinen gerechten frieden geben wird. oder ist das zu westundnordeuropäisch gedacht?
manche meinen, zu hoffen, daß monotheistische religionen, die sich traditionell am jenseits orientieren, die irdische welt retten könnten, sei womöglich eine paradoxe vorstellung. bei dürrenmatt, dem sohn eines pfarrers, sagt napoleon: »Wer an eine unsterbliche Seele glaubt, für den ist der Weltuntergang nicht sonderlich schlimm.« dennoch wird auch ein religiös grundierter idealismus gebraucht, der sogar dafür empfängliche atheisten anregen und motivieren kann, zumal man in zeiten, wo viele menschen ihr vertrauen in institutionen und autoritäten verlieren, die wirksamkeit der religion ohnehin weniger von gott und glauben abhängig machen sollte. »Altes Testament« und »Neues Testament« kritisieren die habsucht, die seelen vergiftet, genauso wie antike philosophen und dichter. und die »Ältere Edda« kennt ebenfalls das verfluchte gold.
mit ihrer frühen bewahrung und aufzeichnung heidnischer überlieferungen, die sie mit den iren verbindet, lagen die isländer schon nicht verkehrt. der polytheismus entspricht der individualisierten modernen wirklichkeit mehr als der monotheismus. die koexistenz von heidnischem und christlichem erbe konnte ein gespür für die relativität des glaubens schaffen und damit toleranz fördern und fanatismus entgegenwirken. dadurch konnten auch die elfen überleben, die nordgermanisch am ursprünglichsten überliefert blieben, in nordeuropa ganz heidnisch mit aufgelösten haaren tanzen und zugleich in isländischen märchen sogar eigene pfarrer haben. die künstlerisch, handwerklich, geologisch und prophetisch begabten deutschen zwerge hingegen, überlebende der steinbronzeundeisenzeit, wurden alle vertrieben, unter anderem vom bergbau und vom glockenläuten, und durch die degeneriert protzenden gartenzwerge in den kleingärten der kleinbürger ersetzt. immerhin haben einige der deutschen romantiker, so e.t.a. hoffmann, versucht, elfen und feen, die, christlich dämonisiert, zu hexen geworden waren, wieder zurückzuverwandeln.
der zwerg alwiss, der allwissende, sagt: »Unter der Erde wohne ich, unter dem Stein habe ich meine Stätte.« und das ist in island bis heute allgemeinwissen. von zwergen und elfen kann der mensch lernen, die natur zu achten. die götterparodien der »Älteren Edda«, loki immer mittendrin, die snorri sturluson aufgriff, enthalten indes, und zwar selbst dann, wenn sie in der übergangszeit von der heidnischen zur christlichen religion entstanden sind, indem sie die götterwelt infrage stellen, wie jene bei aristophanes und lukian, eine untergründige tendenz in richtung atheismus, der in seinen egoistischen und technokratischen ausprägungen neue gefährdungen schuf.
bei aller notwendigen kritik wollen wir nicht vergessen, daß sich island seit seiner unabhängigkeit 1944 erstaunlich entwickelt hat. die lebensbedingungen sind mit den ärmlichen von vor hundert jahren, die halldór laxness beschrieb, kaum mehr vergleichbar, allein wenn man an die veränderte ernährung denkt, ja island gilt als eines der länder mit der höchsten lebensqualität. das verleiht der kritischen sicht auf zivilisatorischer fehlentwicklungen, die zeitgleich stattfinden und heute ärmeren völkern vermutlich noch bevorstehen, umso mehr bedeutung.
die lektüre des buches regte mich an, nochmal über die isländische sprache nachzudenken, die den wortursprüngen, und damit dem sinnlichen wahrnehmen und bildhaften denken, noch näher ist, was der literatur, und gerade der lyrik, zugute kommt, indem nicht allein durch die wortprägungen der skalden, sondern ebenso viele umgangssprachliche worte, die kenningen ähneln, metaphorische bausteine reichlich vorgeprägt sind, die man dann natürlich kreativ anwenden muß. das selbstvertrauen isländischer schriftsteller basiert, neben der qualität ihrer bücher, nicht unerheblich auf dem bewußtsein dieser traditionen.
mein isländisch-wörterbuch, das ich seit über 25 jahren habe, lag beim lesen des hier besprochenen bandes immer neben mir. wenn ich die etymologie eines deutschen worts erkunde, schaue ich stets auch nach verwandten isländischen worten. schließlich kommt, wer ins isländische eintaucht, ursprüngen des deutschen nahe. die begegnung mit isländischen worten ist daher wie eine wiedererkennende begegnung mit eigenen vorfahren. ich nannte die isländischen worte, die ein weltkulturerbe sind, einmal die galápagos-echsen der europäischen wörter und zitiere sie mitunter in essays oder rezensionen, wie zuletzt leikskóli, wörtlich spielschule, für kindergarten. in einem vortrag übers »Bauhaus« in dessau verwies ich auf die verwandtschaft der worte haus und haut, das haus birgt und schützt seine bewohner wie die haut den körper, und nannte, neben verwandten deutschen worten wie hode, hose, hort, hütte, scheune und schote, isländisch skór = schuh, skúr = schuppen und skurn = eierschale, nußschale. alle diese worte bezeichnen etwas bedecktes und bedeckendes, umhülltes und umhüllendes, geborgenes und bergendes, verborgenes und verbergendes. landschaften sind sozusagen die häute der natur, die genauso geschützt werden müssen wie die körper der menschen.
als ich vor 20 jahren per mitfahrgelegenheit von magdeburg zu einer lesung nach düsseldorf fuhr, stiegen in braunschweig zwei junge isländer hinzu, die dort studierten und nach köln wollten. beide sprachen gut deutsch und erklärten mir einige worte und städtenamen genauer, nach denen ich sie fragte. als ich den film »Ingaló«, deutsch »Ingalo im grünen Meer«, von ásdís thoroddsen aus dem jahr 1992 erwähnte und vor allem die darstellerin der ingaló, sólveig arnarsdóttir, die seither auch an deutschen theatern und in deutschen filmen spielt, hervorhob, sagte der eine, das sei seine tante. die frühere isländische präsidentin vigdís finnbogadóttir berichtete in einem dokumentarfilm über island, für den sie befragt wurde, daß sie praktisch in jedem isländischen ort, den sie besuchte, menschen begegnete, sie ihr erzählten, wie und durch wen sie mit ihr verwandt seien. mit den studenten sprach ich dann auch über halldór laxness und sagte, daß mir sein roman »Kristnihald undir Jökli«, also »Seelsorge am Gletscher«, wegen der weltweisen ironie darin besonders gefalle. guðný halldórsdóttir, eine tochter des meisters, hat dieses buch unterm titel »Am Gletscher« überzeugend verfilmt.
die tochter von guðný halldórsdóttir, auður jónsdóttir, wiederum, die ich jüngst im rundfunk hörte, ist inzwischen ebenfalls eine international bekannte schriftstellerin. auður bedeutet, gegensinn der urworte, zugleich reichtum und vermögen sowie leer und öde. auf island gibt es bei inzwischen über 350000 einwohnern aktuell siebzig schriftsteller. vigdís finnbogadóttir antwortete in besagtem dokumentarfilm auf die frage, weshalb begabungen in island besser gefördert werden als anderswo: »Weil wir so wenige sind.« regierungen kleinerer völker unterstützen ihre kultur insgesamt mehr, wohl da sie wichtiger für die identität des landes und ihrer bewohner ist. größere völker vergeuden ihre talente eher. inseln bringen zudem oft besonders viele originale hervor. im isländischen kulturleben fällt überdies der hohe frauenanteil auf, der ja ganz natürlich ist.
außerdem hat island, abgesehen von kleinen spezialeinheiten, keine armee. wenn es eine hätte, wären die zwerge und elfen, und diese wohlwollend ironische bemerkung sei zum schluß erlaubt, vermutlich ausdrücklich vom wehrdienst befreit. psychologisch und soziologisch wäre interessant, welche ängste, demütigungen, beschädigungen und deformationen jungen männern, die in keiner armee dienen müssen, erspart bleiben, und wie dies auf die gesellschaft insgesant wirkt. von island könnten somit in einer durch egoismus, umweltschäden, soziale kluften und gewalt bedrohten welt auch hoffnungen und ermutigungen für andere länder ausgehen.
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Freiheit, Gedichte von Linda Vilhjálmsdóttir aus dem Isländischen übertragen von Jón Thor Gíslason und Wolfgang Schiffer. ELIF VERLAG Nettetal, 2018
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