Im Morgenschlaf halb unbewusst halb wach
hör ich von überall der Vögel Zwitschern
nach tiefer Nacht als Sturm den Regen peitschte
Wieviele Blüten fielen weiß ich nicht
Auf Reime habe ich in der Übersetzung der „Frühlingsdämmerung“ von Meng Haoran verzichtet, um nicht zu frei werden zu müssen, aber dafür habe ich das Gedicht metrisch gestaltet (5-hebige Jamben). Ich versuchte möglichst nah an der Sprache zu bleiben, ließ auch den Zusammenhang zwischen Morgen und Nacht in der Schwebe. Das Gedicht lässt sich auch auf Lebensphasen übertragen oder verstehen als Anbruch einer neuen Zeit nach einer schweren Phase. Im Chinesischen kommt kein Ich vor, aber trotzdem ist ein lyrisches Ich anzunehmen bzw. konstruierbar in der deutschen Übertragung (die ohne „Ich“ allerdings auch auskäme.)
Ich habe bewusst „Zwitschern“ für „ti“ gewählt, Gesang oder Singen der Vögel wäre mir zu gegensätzlich zu Wind und Regen in tiefer Nacht. Außerdem wollte ich so auch die Möglichkeit einer Interpretation verstärken bzw. offenhalten, nach der das Aufwachen am Morgen nicht unbedingt die Erlösung ist. Die Vergangenheit (Alptraum, wirklich Erlebtes) wirkt weiter in die Gegenwart, behält ihr Gewicht. Last wird nicht gleich Lust.
Die Blüten (Blumen) sind auch mehrdeutig. Sie stehen für Knabenmorgenblütenträume, für Illusionen, die enttäuscht werden (wie in Goethes Gedicht „Prometheus“).
Trotz aller Abgründe in die Seele des lyrischen Ichs bleibt auch immer noch die Deutungs-Variante, im Erwachen des Frühlings auch das Erwachen des Menschen zu sehen, der wieder zu Kräften kommt und aus seinen schweren Träumen und aus seiner bewegten Vergangenheit herausfindet. Die vielen Blüten erinnern noch einmal an den Winter, die kalte Zeit, an den Schnee vom vergehenden Jahr. Sie sind ein komplexes Verwandlungsbild, weil sie fallen und einen schnell welkenden Teppich bilden. Vergehen und Werden fallen hier in eins. Auch die Schönheit, die ich bei den Blüten assoziiere, vergeht, verwandelt sich in neues Leben und Erleben.
Mir war wichtig, den schwebenden, unsicheren Bewusstseins-Zustand des Schlafenden, Träumenden, Dösenden, Erwachenden und Erinnernden (oder immer noch halb Träumenden) in der Übertragung zu Beginn und am Ende des Gedichts zu bewahren oder noch stärker zu erschaffen, als er von Meng Haoren intendiert war. Diese Freiheit muss der Übersetzer haben, auch wenn es ihm nicht gelingt, Mengs Gedicht in ein noch besseres zu verwandeln. Ich denke, Kubin meinte seine polemisch formulierte These eher im Hinblick auf chinesische Lyriker und Poeten nach Mao Zedongs Kulturrevolution, die im Wesentlichen die alte Kultur zertrümmern wollte im Dienste einer materialistischen Ideologie für eine neue Gesellschaft.
Ich sehe in Goethes – ebenso berühmten – Gedicht „Ein Gleiches“ einige Parallelen zu Meng:
Ein Gleiches
(Wandrers Nachtlied II)
Über allen Gipfeln
Ist Ruh,
In allen Wipfeln
Spürest du
Kaum einen Hauch;
Die Vögelein schweigen im Walde.
Warte nur, balde
Ruhest du auch.
Goethe verfasste das Gedicht am Abend des 6. September 1780 auf dem Kickelhahn, einem Berg bei Ilmenau im Thüringer Wald. Dort schrieb er die Verse mit Bleistift an die Bretterwand einer Jagdhütte.
Die auf den ersten Blick missverständliche Überschrift „Ein Gleiches“ beruht auf der von Goethe 1815 vorgenommenen Einordnung dieses Naturgedichts in seine Werkausgabe, und zwar im Anschluss an das Gedicht „Wandrers Nachtlied“. „Ein Gleiches“ bedeutet daher: ein Gedicht gleichen Themas, also ein weiteres „Wandrers Nachtlied“.
Interessant ist Goethes einfache Struktur: Von oben nach unten geht der Blick, vom Himmel bis zum Erdboden in der freien Natur. Das Lager des müden Wanderers dient der Erholung von des Tages Anstrengung. Offen bleibt, ob die Erlebnisse des lyrischen Ichs, das wie bei Meng sprachlich nicht auftaucht, leicht oder schwer waren. Die Anrede (du) kann monologisch verstanden werden oder aber auch als Zuwendung an den Leser und alle Menschen überhaupt. Das kleine Gedicht gewinnt sogar den Charakter einer Sentenz, wenn man es auf den Lebenslauf bezieht – wie bei Meng, wo Winter und Frühling für Vergangenheit und Zukunft, Vergehen und Werden stehen. Auch Goethe bettet den Lebenswanderer in die Natur. Bei ihm geschieht es vordergründig körperlicher als bei Meng. Das chinesische Gedicht akzentuiert dafür eher die psychischen Aspekte. Meng Hàorán denkt von vorn nach hinten zurück und findet in dieser Bewegung ein neues Vorne, eine bewusster werdende Gegenwart und Zukunft. Sein Gedicht ist dialektisch. Goethes Gedicht ist ambivalent, seine Bewegung von oben nach unten wirkt zunächst statischer, gewinnt aber in der Deutung des Ruhens als Sterben den Himmel zurück in einer anderen Dimension – diese zu sehen liegt beim Leser. Wahrscheinlich ist Goethes Gedicht genauso wenig religiös gemeint wie das von Meng. Wenn sich Goethes Leser an den Himmel „über allen Gipfeln“ am Schluss des Gedichts erinnert, so wird der Blick auf das gerichtet, was das Leben war; nach dem Tod bleibt davon eine Idee. Das Leben des Ruhenden, eingebettet in die Natur, wird in einen höheren Zusammenhang gestellt.
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Gedichte aus der Zeit der Tang-Dynastie und aus dem 20. Jahrhundert
26 Gedichte chinesisch/deutsch übersetzt von Ulrich Bergmann
26 Bilder von Doris Distelmaier-Haas. Mit einem Geleitwort von Wolfgang Kubin
152 Seiten, Deutsch und Chinesisch, kleine Ölbilder in Weiß auf schwarzer Grundierung, Lesebändchen, geb. Bacopa-Verlag, 2015
Weiterführend →
Mehr zu diesem Band in einem Essay von Holger Benkel. Zum näheren Verständnis zu den Gedichten aus der Zeit der Tang-Dynastie baten wir den Übersetzer Ulrich Bergmann um weitere Vertiefung.