Spätkirmes

Ist das nervig.

Hannes warf sich jäh zur Seite, rieb aufgebracht sein Muttermal, Juckreiz oder nervöse Störung, irritierender Fleck unter dem linken Auge, willst du dir das nicht wegmachen lassen, die schwarze, gutartige Wucherung ängstigte manche Bekannte, fast jeder kam irgendwann darauf zurück, aber Hannes konnte sich auf eine Reihe von Hautärzten berufen, Herr Tannert, keine Bange, das ist nichts, vollkommen harmlos. Natürlich, könnte ich machen, kleine OP, weg isses, mache ich aber nicht, das ist so … eine Gewohnheit, fast ein Markenzeichen. Da müssen sie mit leben, kleine Abweichung, ein Appell an ihre eigenen Ängste, diese Leute, die ständig hierher rennen, sich jeden kleinsten Leberfleck gleich rausschneiden lassen.

Hannes lag gekrümmt, wie unter Schmerzen, presste die Hände auf die Ohren, so laut, er stellte sich eine Schraubzwinge vor, was aber nicht viel brachte, die Glocken waren einfach zu nah, schwingen, schwingen, die Klöppel mit großer Wucht, wo sind die Ohrstöpsel?

„Warum am Samstag? Das ist … Ruhestörung, das darf nur die Kirche, jeden anderen könntest du dafür …“

„Weckst du das Kind oder ich?“

„Dann machst du den Kaffee!“

„Ich bin sowieso dran.“

Und da ist ja alles ganz rosa, was schön ist. Rosa ist meine Lieblingsfarbe, vielleicht ist das auch ein Vorhang, durch den man spinksen kann. Ich weiß nicht genau, vielleicht doch kein Vorhang, ich geh mal da durch, denn dort ist ja das Nest. Da müssen die Eier hinein, da muss ich die Eier reinlegen, das ist gar nicht so schwer. Tut auch nicht weh. Kein bisschen. Hübsch ein Ei nach dem anderen. Das sind ja nicht so große Eier. Eher kleine. Die sind so wie die, die Papa mitgebracht hat aus Düsseldorf. Diese kleinen grünen Eier. Die liegen jetzt im Nest, vier Stück, und da ist Papa.

– Jetzt musst du dich  drauf setzen!

– Aber da gehen die doch kaputt.

– Du musst dich an den Rand setzen und das Nest schön warm halten. Dann passiert nichts. Anders geht es doch nicht. Du musst die Eier ausbrüten.

Das stimmt natürlich. Ausbrüten muss ich die, von alleine schlüpfen die Vögel nicht. Setze ich mich eben drauf.

– So richtig, Papa?

– Ganz genau, Cora. Jetzt musst du nur noch Geduld haben.

„Mein Schatz, bist du wach?“

Coras Äuglein klimperten, noch tagfremd, die Lider so schwer, sie wollten sich nicht öffnen, das helle, zu helle Licht. Sie ließ also die Augen zugeklappt, nestelte an ihrer Bettdecke und lächelte, weil sie wusste, dass er ihr zusah. Spielte schlafend. Ein Streif Sonne wie eine verzogene Raute, Mahnzeichen, Tempelzeichen, okkulte Spur. Ihre Finger immer noch unendlich klein, als sie geboren wurde, wie unglaublich winzig, der ganze kleine Mensch, Finger, Hände und Füße, alles war da und doch, schwer sich daran zu erinnern, wie weggewischt, jedes neue Stadium des Kindes löscht das Vorhergehende aus, für immer, Erinnerung, Mnemosyne, halb Göttin, halb Taumel, Musenmutter, den Künsten darf das Gedächtnis auch nicht im Wege stehen, nie zu klar, immer verschwommen, anders entstehen keine Geschichten, ein schlafendes Rehkitz, das träumt von Fluchten und Jagd.

Ihr Anblick rührte Hannes, ihre rosige, glatte Haut, wie unter Zwang drückte er ihr Küsse auf die Schläfe, die Wange, die Lippen, jetzt lachte sie, jetzt schlug sie die Augen auf, die hell waren, wasserhell, als könne man direkt auf den Grund sehen, Metas Augen waren das. „Papa“, sagte sie, wie verzückt, dass ihm gleich wieder warm ward, „Ja“, sagte Hannes, „Papa“, wieder sie, ihr Atem roch säuerlich, ein Mundgeruch wie bei großen Menschen: „Das ist gut“, sagte sie, „dass du mir das mit den Eiern erklärt hast.“

„Mit den Eiern?“

„Ja, wie ich sie ausbrüten muss.“

„Du?“

„Ich habe doch diese Eier gelegt und dann hast du mir gesagt, wie ich sie ausbrüten muss.“

„Cora, du hast geträumt!“

„Meinst du wirklich, Papa? Aber das war gerade eben, in echt …“

„Mhm. Ganz sicher. Ich bin jetzt erst in dein Zimmer gekommen.“

„So.“

„Das ist aber ein ulkiger Traum gewesen. Den musst du mir erzählen.“

„Ja.“

„Sollen wir in unser Zimmer?“

„Ja.“

„Tragen oder selber gehen?“

„Tragen.“

Hannes umfing das bettwarme Kind, Thymian-Duft und Schwefelhölzchen, Cora klammerte sich an ihn, barg ihr Köpfchen in seinem Bart, ohne Rückhalt, die Arme fest um seinen Nacken, schwer wie ein Kasten Wasser, er hievte sie hinüber ins Elternschlafzimmer, legte sie hinein in die weiche Decke und sich dazu.

Diffus drang das Licht durch die gelben Vorhänge, Safrannebel, Rauch aus irgendeiner Nebenwelt, nur zwischen zweien dieser bodenlangen Fensterschleppen klaffte ein schmaler Spalt, der ausreichte, das Zimmer in ein fahles Zwielicht zu tauchen, Konturen und Gegenstände, ein hüfthoher weißer IKEA-Schrank, Regale, zwei kleine Nachttischchen, einen Stuhl und ein Reckchen, über dem einige Kleider hingen. Das warme Kind an seinem Leib, Kinderhitze, Hannes lüftete die Decke, kitzelte Cora an den Fußsohlen, dass sie sich wand und kicherte.

Meta kam mit dem Tablett, Kaffee und Marmeladenbrote, stellte es auf dem Bett ab und streichelte Coras Wange: „Guten Morgen, Schatz. Hast du gut geschlafen?“

Cora erwiderte nichts, sondern schlängelte sich wie ein Wurm unter der Decke hin zum Fußende. Meta hockte sich schräg aufs Bett, kauernde Steinzeitvenus im Halbprofil, missbilligend strich sie mit dem Finger über das Nachttischchen: „Ich komme einfach zu nichts hier.“ Daraufhin Hannes abgelenkt: „Hm?“, ohne eine Antwort zu erwarten, Meta gab ihm auch keine. Sondern: ein Gähnen, laut, ein Strecken, die Gelenke knackten, dann schüttelte sie ihren Kopf, die Locken zahllos, sie ringelten sich hinab auf den Rücken, vielleicht lebten sie, Medusenhaupt, Königreich für eine Bürste, ihr rundlicher Leib im roten Satinnachthemd, fast eins mit der Düsternis des Raumes, nur Schultern und Arme, unbedeckt, stachen heller ab.

Nun ließ sich auch der Hund blicken, der unter dem Bett schlief, verborgen im dunklen Nirwana aus Staub und dort verstauten Taschen: „Singa, meine Süße, bist du schon wach? Na, komm mal her.“ Die Hündin schwarz wie die Nacht, aus der sie eben hervorgekrochen war, dunkelbraun ihre Torfaugen, sie sprang an Meta hoch, aufgeregt, kaum wach, wollte sie schon spielen oder musste sie raus, Hannes wusste es nicht, Meta schon, Meta verstand immer, die Sprache der Menschen und der Tiere, sie zog den Kopf der Puli-Dame an sich und meinte: „Ein bisschen musst du dich gedulden, wir gehen gleich los. Und Cora, kein Guten-Morgen-Kuss von dir?“

***

Auszug aus Spätkirmes, Roman von Enno Stahl, Verbrecher Verlag 2017

Weiterführend 

Eine Würdgung des Hungertuchpreisträgers finden Sie hier. Lesen Sie auch den Artikel Perlen des Trash über 25 Jahre Gossenhefte und Enno Stahls fulminantes Zeitdokument Deutscher Trash. Eine Hörprobe von Trash me! finden Sie in der Reihe MetaPhon.