Verwendet wird die Redewendung „Am Hungertuch nagen“ seit dem 16. Jahrhundert – ihr Ursprung geht aber bis in das Jahr 1000 n. Chr. zurück. Ursprünglich war es Brauch, das Tuch selbst zu nähen, weshalb die Redewendung zunächst „Am Hungertuch nähen“ hieß.
Auszeichnungen und Preise ähneln – Billy Wilder zufolge – Hämorrhoiden, „früher oder später bekommt sie jedes Arschloch.“ Und in den weitaus meisten Fällen sind es die Jurys, die sich für ihren Geschmack auszeichnen. Die doppelte Perfidie, die hinter dem Verleihen von Preisen liegt darin, daß die Künstler nach Anerkennung durch die Jury lechzen, zum anderen will er sich nicht durch private oder staatliche Institutionen vereinnahmen lassen. Im Rhein-, Ruhr- und Sauerland beruft man sich dagegen auf die lässige Tradition von Christian Dietrich Grabbe und stellt den komödiantischen Widerpart zu einem Kulturbetrieb dar, der über wenig Selbstironie verfügt. Im Jahr 2001 wurde mit dem Hungertuch vom Kunstförderer Ulrich Peters ein Künstlerpreis gestiftet, der sich auf den Katholizismus beruft.
Kein Mensch verdient, dafür geehrt zu werden, dass er lebt.
Jean-Paul Sartre
Der Künstlerpreis Das Hungertuch wurde seit 2001 alle zwei Jahre in erster Linie an Künstler, Literaten und Musiker verliehen, die mit experimentellem Pioniergeist im 21. Jahrhundert in neues künstlerisches Terrain aufbrechen. Die Jury, die aus den bisherigen Preisträgern besteht, verfolgt mit besonderem Interesse künstlerische Ansätze, die sich um die Verschmelzung unterschiedlicher Genres bemühen. Die Idee zu diesem Preis leitet sich vom Brauch des Fastentuchs ab, das während der Fastenzeit in der katholischen Kirche die bildlichen Darstellungen Jesu verhüllt (in der Regel das Kruzifix). Zur körperlichen Buße des Fastens tritt eine seelische. Der Sinnspruch am Hungertuch nagen bezieht sich nicht nur auf materielle Armut, sondern auch auf die als Bedrängnis empfundene Gottferne. Konsequenterweise besteht die Dotierung aus einem künstlerisch gestalteten Hungertuch, das während des Festakts zum Hungertuch-Künstlerpreis verliehen wird.
Es gibt Kunst und Galeriekunst.
Ed Kienholz
Zu Beginn des 21. Jahrhunderts steckt die Kunst in der Krise. Das überraschende Debüt, die markante Debatte, der schockierend gute Roman, eine heißkalte Inszenierung, ein sinnlicher Song, eine schlau kuratierte Ausstellung – dies alles fehlt. Die Kritik entwarf sich selbst als Hegemonialmacht mit universaler Deutungskompetenz; allüberall, in einer Grußformel, einem Reklameslogan, einem Hollywoodfilm, vermochte sie das falsche Bewusstsein, wie diese Gesellschaft es notwendig erzeugt, aufzustöbern und in ein richtiges, das heißt kritisches Bewusstsein zu verwandeln. Dort, wo die Theorie dingfest gemacht werden soll, gibt es einen Irrgarten aus Wörtern, den man systematisch, nicht chronologisch, nicht durchwandert, sondern durchstreift, von Stichwort zu Stichwort. Glauben heißt nicht ausgeliefert, sondern ergriffen sein. Wenn man bemerkt, dass alles schon einmal da war, relativiert sich die Ernüchterung.
Es ist eine Aufspaltung der Kunstszene in Marktkunst, Kuratorenkunst und autonomer Kunst zu erkennen.
Löst man sich vom Themendiktat des Mainstreams, kann es spannend werden. Das Aufregende ist beispielsweise in verlassenen Industriehallen zu finden (es verwandelt sich mitunter in ein „Kunstwerk“), dort beschäftigt sich KUNO mit Künstlern wie Roland Bergère, Stan Lafleur, Christoph Staude, AESTATE, Holger Küper, Enno Stahl, der Künstlergruppe Salon Atelier, Pyrolator, Swantje Lichtenstein, Eun-Sik Park, Eva Kurowski, Joachim Paul, Denise Steger, Woon-Jung Chei, Peter Engstler, Thomas Suder, Pia Lund, A. J. Weigoni, Katja Butt, Holger Benkel, Matthias Hagedorn, Almuth Hickl, Manuel Quero, Haimo Hieronymus, Tom Liwa, Peter Meilchen, Tom Täger, Barbara Ester.
Nicht im Sinne eines Geheimwissens, das die Redaktion gegenüber anderen, nicht eingeweihten Kritikern auszeichnet, sondern weil die Kunst ein privilegierter Ort der Fremderfahrung ist. Lesen und Unvertrautes zu erfahren, gehört untrennbar zusammen.
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Letztemalige Verleihung des Hungertuchs im Golem, Lange Wende 30 in 59755 Neheim (bei Arnsberg), ab 19:00 Uhr an: Patricia Brooks, Marion Haberstroh, Gleb Bas und Frank Michaelis.
Die Deutsche Kritik neigt dazu, klüger als die Kunst sein zu wollen. Dies zu ändern ist im Jahr 2001 der Kunstförderer Ulrich Peters angetreten und hat mit dem Hungertuch einen Künstlerpreis gestiftet, der seit seinem Bestehen von Künstlern an Künstler verliehen wurde. Es gibt im Leben unterschiedliche Formen von Erfolg. Zum einen gibt es die Auszeichnung durch Preise und Stipendien, zum anderen die Anerkennung durch die Kolleginnen und Kollegen. Dies manifestiert sich in diesem Künstlerpreis mit spielerischer Leichtigkeit.
Die Dokumentation zum Künstlerpreis Das Hungertuch erscheint mit einem Originaldruck von Haimo Hieronymus bei der Edition Das Labor, Mülheim 2019