Der Rezensent, frei nach Goethe

 

Der Rezensent und sein Rezipient (Leser, Zuhörer, Zuschauer) leben in einer Beziehung, meist einseitig. Die Hymne auf ein Buch ist wie eine 5-Sterne-Bewertung, doch die namhaften Feuilletons sind fest in der Hand der Buchkonzerne. Neben den wenigen hauptberuflichen Journalisten arbeiten viele freiberufliche Literaturkritiker – im vorauseilenden Opportunismus – die Rezensionsexemplare der großen Verlage ab. Natürlich lesen sie nur rein, und wenn die Zeit drängt, kopieren sie den Pressetext.

Deutschlands wohl berühmtester Buchbesprecher war Marcel Reich-Ranicki: was am Sonntagabend im Literarischen Quartett vorgestellt wurde, fand man am Montag unter den Top Ten der SPIEGEL-Liste. Selbst ein Verriss steigerte die Auflage. Ohne Zweifel funktionierte die Vetternwirtschaft der Mediengesellschaft. Damals, so unglaublich ee klingt, gehörte das Fernsehen den Öffentlich Rechtlichen-Sendern, sie hatten das Monopol der Meinungsmache. Reich-Ranicki, dieser Jude mit Intellekt, Rhetorik, Fachwissen und einer komische Aussprache, gelangte auf den Olymp der Weltliteraturkritiker, auch, weil er „authentisch rüberkam“ – ein Slogan, den man heute nur mit Populismus oder Dummheit bedient, sonst ist man nicht authentisch. Aber Reich-Ranicki stellte sich den Kritiken seiner Kritiker, „Mein Leben“, DVA, 1999, gelangte schon vor Druck auf Platz 1 der SPIEGEL-Bestsellerliste.

Wie finden Sie mein neues Buch, ist es nicht genial geschrieben?

Stimmt, es ist nicht genial geschrieben. Kritik als Kunst der Beurteilung kann positiv oder negativ ausfallen, sie kann
hätscheln oder rügen, im besten Fall zeigt sie die Schwachpunkte eines Werkes und lobt das Gelungene. Das Empfinden einer Kritik ist,
genauso wie die Äußerung, absolut subjektiv, und die Reaktion darauf sehr menschlich. Aus Ironie wird Sarkasmus, und wer es derber möchte, bedient sich der Beleidigung. Früher war der Ton anders, nicht besser oder schlechter, aber anders, und im 18. Jahrhundert forderte Goethe: „ … schlagt ihn tot, den Hund!“ Gemeint ist ein Zeitgenosse, den er in einem Gedicht verewigte, ein jemand, den er bewirten ließ, und der sich hinterrücks übers Essen beschwert hatte: „Die Supp hätt können gewürzter sein/ Der Braten brauner, firner der Wein.“ Zu allem Überfluss war der Kritiker ein Rezensent. Damit konnte Goethe gar nicht umgehen.

Eugen Roth, ebenfalls Dichter und Lyriker, setzte seine Verse mit Scherz, Satire und Ironie in die Sprache des angehenden 20. Jahrhunderts, er gehörte zu den Wegbereitern der lyrischen Humoreske. Der Gedichtband „Ein Mensch“ (1935) machte ihn beinahe über Nacht zum Shootingstar. 450 000 verkaufte Exemplare machten ihn zum „Rezensionssubjekt“. Während des ´Nationalsozialismus` oblag die Kritik ausschließlich dem NS Regime, gleichwohl ärgerte sich Roth genauso wie Goethe, doch aus anderen Gründen. Wollte man mit Gedichten das System kritisieren, musste man sich den Regeln beugen. Er formulierte sich genehmer:

„Ein Mensch hat Bücher wo besprochen/ Und liest sie nun im Lauf der Wochen/ Er freut sich wie ein kleines Kind,/ Wenn sie ein bißchen auch so sind.“

Karl August von Witzleben hatte in der ersten Hälfte seines Lebens mit Literatur nichts am Hut. 1786 ging er zur preußischen Armee, wechselte mehrfach den Arbeitgeber sowie die Frauen, und widmete sich nach den Kriegen der Landwirtschaft. Ab 1821 verfasste er Dramen, Romane, Lustspiele – und 36 Bände unter dem Pseudonym Tromlitz. Man sollte meinen, dass ihn der erst späte Ruhm vor Kritik gefeit hat, aber das Thema scheint ihn so berührt zu haben, dass er dem Rezensent eine gleichnamige Novelle widmete: „Ich hab dich so oft gewarnt, den gefährlichen Weg der Schriftstellerei zu betreten, es ist eine Klippe… überdies begibst du dich in die Hände der Rezensenten.“

Der kommerzielle Buchmarkt ist überschaubar, die Verlagsgiganten halten sich ein paar Dutzend Autoren/Innen, sie werden gefüttert, gepflegt und werbewirksam vermarktet. Also artgerecht. Populistische Meinungen gehören zum Geschäft, solange sie den Verkauf fördern. Social Media hat das Geschäft – seit Goethe – grundlegend verändert. Buchdruck und Internet, zwei radikale Neuerungen, die aber nur zwei alte Bekannte bedienen: Kommunikation und Neugier. Und was heute usus ist, erkannte schon Lessing: „Der Rezensent braucht nicht besser machen zu können, was er tadelt.“

 

 

 

Josef „Biby“ Wintjes

Weiterführend →

Zu den Gründungsmythen der alten BRD gehört die Nonkonformistische Literatur, lesen Sie dazu auch ein Porträt von V.O. Stomps, dem Klassiker des Andersseins. Kaum jemand hat die Lückenhaftigkeit des Underground so konzequent erzählt wie Ní Gudix und ihre Kritik an der literarischen Alternative ist berechtigt. Ein Porträt von Ní Gudix findet sich hier (und als Leseprobe ihren Hausaffentango). Lesen Sie auch die Erinnerungen an den Bottroper Literaturrocker von Werner Streletz und den Nachruf von Bruno Runzheimer. Zum 100. Geburtstag von Charles Bukowski, eine Doppelbesprechung von Hartmuth Malornys Ruhrgebietsroman Die schwarze Ledertasche. 1989 erscheint Helge Schneiders allererste Schallplatte Seine größten Erfolge, produziert von Helge Schneider und Tom Täger im Tonstudio/Ruhr. Lesen Sie auch das Porträt der einzigartigen Proletendiva aus dem Ruhrgebeat auf KUNO. In einem Kollegengespräch mit Barbara Ester dekonstruiert A.J. Weigoni die Ruhrgebietsromantik. Mit Kersten Flenter und Michael Schönauer gehörte Tom de Toys zum Dreigestirn des deutschen Poetry Slam. Einen Nachruf von Theo Breuer auf den Urvater des Social-Beat finden Sie hier – Sowie selbstverständlich his Masters voice. Und Dr. Stahls kaltgenaue Analyse. – Constanze Schmidt beschreibt den Weg von Proust zu Pulp. Ebenso eindrücklich empfohlen sei Heiner Links Vorwort zum Band Trash-Piloten. Inzwischen hat sich Trash andere Kunstformen erobert, dazu die Aufmerksamkeit einer geneigten Kulturkritik. In der Reihe Gossenhefte zeigt sich, was passiert, wenn sich literarischer Bodensatz und die Reflexionsmöglichkeiten von populärkulturellen Tugenden nahe genug kommen, der Essay Perlen des Trash stellt diese Reihe ausführlich vor. Die KUNO-Redaktion bat A.J. Weigoni um einen Text mit Bezug auf die Mainzer Minpressenmesse (MMPM) und er kramte eine Realsatire aus dem Jahr 1993 heraus, die er für den Mainzer Verleger Jens Neumann geschrieben hat. Jürgen Kipp über die Aufgaben des Mainzer Minipressen-Archives. Ein würdiger Abschluß gelingt Boris Kerenski mit Stimmen aus dem popliterarischen Untergrund.

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