Die Begründung der schönen Künste und die Einsetzung ihrer verschiedenen Typen geht auf eine Zeit zurück, die sich eingreifend von der unsrigen unterschied, und auf Menschen, deren Macht über die Dinge und die Verhältnisse verschwindend im Vergleich zu der unsrigen war. Der erstaunliche Zuwachs aber, den unsere Mittel in ihrer Anpassungsfähigkeit und ihrer Präzision erfahren haben, stellt uns in naher Zukunft die eingreifendsten Veränderungen in der antiken Industrie des Schönen in Aussicht. In allen Künsten gibt es einen physischen Teil, der nicht länger so betrachtet und so behandelt werden kann wie vordem; er kann sich nicht länger den Einwirkungen der modernen Wissenschaft und der modernen Praxis entziehen. Weder die Materie, noch der Raum, noch die Zeit sind seit zwanzig Jahren, was sie seit jeher gewesen sind. Man muß sich darauf gefaßt machen, daß so große Neuerungen die gesamte Technik der Künste verändern, dadurch die Invention selbst beeinflussen und schließlich vielleicht dazu gelangen werden, den Begriff der Kunst selbst auf die zauberhafteste Art zu verändern.
Paul Valéry: Pièces sur l’art.
Kunst ist ein deutsches Wort. Bereits im Althochdeutschen lautete es kunst (Plural kunsti). Ursprünglich ist kunst ein Substantivabstraktum zum Verbum können mit der Bedeutung „das, was man beherrscht; Kenntnis, Wissen, Meisterschaft“. Die Redewendung „Kunst kommt vom Können“ ist also dem Wortursprung nach richtig. Seither wird über Kunst viel geschrieben. In den Feuilletons, in Fachzeitschriften, kunsthistorischen Seminaren, kulturpolitischen Ausschüssen oder in Kommissionen zum Thema ‚Kunst als Standortfaktor‘. Stefan Oehm betrachtet Kunst in seinem Buch Worüber reden wir, wenn wir über Kunst reden? als menschliches Kulturprodukt, das Ergebnis eines kreativen Prozesses. Die Kunst steht dabei in den meisten Fällen am Ende dieses Prozesses, kann aber seit der Postmoderne auch eben dieser Prozess selbst sein. Die klassische Einteilung verliert spätestens seit den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts an Bedeutung. Kunstgattungen wie Installation oder der Bereich der Medienkunst kennen die klassische Grundeinteilung nicht mehr.
Wann wird einmal ganz grundsätzlich über Kunst nachgedacht, darüber, ob wir, wenn wir über Kunst reden, angemessen über Kunst reden?
Wenn das Bewußtsein des Historischen verschwindet, kehren die Gespenster der Geschichte zurück. Spirituelle oder mystische Eingebungen, obskure und irrationale Denkbilder mögen sich bestens mit der Heroisierung exzentrischer Künstler-Egos vertragen. Auf die Tatsache, dass wir in einer kontingenten Welt leben, gibt der eskapistische Rückzug in Innenwelten und Randgebiete des Wissens nur eine von mehreren möglichen, sozusagen kontingenten, Antworten. Ganz abgesehen von dem vorzüglichen Niveau des Buches von Stefan Oehm erhebt sich die Frage, ob wir angemessen über das reden, was alle Welt als ‚Kunst‘ bezeichnet. Ob das, worüber alle Welt redet, überhaupt etwas mit Kunst zu tun hat. Ob das, worüber alle Welt redet, von denen, die darüber reden, überhaupt expliziert werden kann. Ob alle, die über Kunst reden, wissen, worüber sie reden.
Ob alle, die miteinander über Kunst reden, auch über das Gleiche reden?
Ob Buch oder Bau, Malerei oder Musik – die Menge dessen, was unsere Kultur täglich an Kunst ausstößt, ist unermesslich. Das meiste wird schnell ausgeschieden, manches macht seinen Weg, weniges wird zum Klassiker. Dies durchaus nicht aus Zufall – langwierige Erfindungs– und Entdeckungsprozesse stecken dahinter. Stefan Oehm weiß , dass ein großer Teil derer, die über Kunst reden, einige grundlegende Erkenntnisse außer acht läßt. Und über genau deshalb hat er dieses Buch geschrieben. Seine Verfahrensweisen, sein Stil und seine ästhetische Dimension wirkt erfolgreich der methodischen Freihändigkeit bisheriger Interpretationen entgegen.
Wie kann eine ästhetische Auswahl Verbindlichkeit beanspruchen?
Stefan Oehms Verständnisweise der Kunst ist erfrischend, weil sie, anders als die gleichnamige kulturwissenschaftliche Phrase ist, der es zwar nicht an suggestivem Glamour, aber notorisch an Problembewusstsein mangelt. Er proklamiert nicht bequem das vermeintliche Versagen der klassischen Konzeptionen; vielmehr buchstabiert er umgekehrt das Paradox aus, dass eine solche „These“, die nicht zufällig in aller Regel mit einer gewissen Erleichterung darüber vorgebracht wird, sich die erheblichen Denkanstrengungen der notwendigen Lektüre vom Leibe gehalten zu haben. Die Kunstgeschichte hätte viel zu tun, wollte sie sich mit allem beschäftigen, was den Anspruch erhebt, Kunst zu sein. Tatsächlich ist sie in ihrer Wahrnehmung der Kunst höchst selektiv. Sie beschäftigt sich nur mit der kleinen Auswahl bedeutender Kunst. Bedeutend wird Kunst durch ihre ästhetische Qualität.
Ist ästhetische Qualität aber nicht wesentlich subjektiv, nämlich eine Frage des Geschmacks?
Bereits 1849 hatte Richard Wagner in seinem Essay „Die Kunst und die Revolution“ festgestellt, die moderne Kunst stehe unter dem Zwang der Kommerzialisierung und müsse sich unter dem Druck des Kapitals wie jedes andere Produkt auf dem Markt als Ware anbieten und verkaufen. Diese Entwicklung setze die Kunst herab zum bloßen Mittel, zur Unterhaltung für die Massen, zum Luxusvergnügen für die Reichen. Kulturkritik war gar nicht so einfach. Man mußte einiges gelesen und vieles beobachtet, noch mehr aber ausgeblendet haben. Dann verfiel die Kulturkritik selbst dem kulturkritischen als gesellschaftskritischen Urteil:
Dem Kulturkritiker paßt die Kultur nicht, der einzig er das Unbehagen an ihr verdankt.
Theodor W. Adorno
Wenn man aber heute über künstlerische Prozesse spricht, meint man ein hoch spezialisiertes System. Man kann Kunst auf sehr vielen Ebenen verstehen, man kann sie geniessen, sich von ihr unterhalten lassen, sich kritisch mit ihr befassen – das ist alles legitim. Wenn man aber wirklich verstehen will, was Kunst bedeutet, muss man viel Arbeit investieren. Stefan Oehm hat diese Arbeit auf sich genommen. Sein Buch läßt sich als Versuchsanordnung betrachten, es ist undogmatisch, subjektiv, experimentell, ergebnisoffen. Er betrachtet diese Art des Textens als Medium und Movens der Reflektion in einer Zeit, die einem bekannten Diktum zufolge ohne verbindliche Meta-Erzählungen auskommt. Dieser – wenn man so will – XXL-Essay ist ein Forum des Denkens nach der großen Theorie und schon gar nach den großen Ideologien und Antagonismen, die das letzte Jahrhundert beherrscht haben.
Der Essayist fühlt den Drang, oft und in vielen Medien, also intensiv und extensiv zu publizieren.
Vilém Flusser
Auf die offene Form, die der Essayist bespielen muß, damit dieser immer wieder neu entstehende „integrale Prozesscharakter von Denken und Schreiben“ auf der „Bühne der Schrift“ in Gang gesetzt werden kann, verweist der Literaturwissenschaftler Christian Schärf. Stefan Oehm hat eine nüchterne Art, sich dem Gegenstand der Überlegungen zu nähern und ihn aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten. Das Wichtigste ist jedoch nicht der Gegenstand der Überlegungen, sondern das Entwickeln der Gedanken vor den Augen des Lesers. Sein Buch zeichnt sich aus durch eine stilistische Ausgefeiltheit, Verständlichkeit und Humor. Jeder neue Begriff wird eingeführt und vorgestellt. Handlungen werden chronologisch erzählt und Zitate deutlich gekennzeichnet. In diesem Buch geht die abstrakte Reflexion mit der einnehmenden Anekdote einher, er spricht von Gefühlen ebenso wie von Fakten.
Der Essay bedarf keiner enzyklopädischen Stimmigkeit, seine Suggestivkraft erlaubt es, eine Pluralität von Partialwelten koexistieren zu lassen.
Eines scheint klar, zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist Kunst der Inbegriff des Fragmentarismus, der unsere Zeit ansteckt, dadurch charakterisiert und die typisch fin-de-siècle-belastete Verwirrung und Fassungslosigkeit der Methoden, der existentiellen Werkzeuge hinter sich läßt. Stefan Oehm wagt, eine Berufung der Methode einzulegen, indem er eine Berufung der Rhetorik heraufbeschwört. Die alten Fragen der Kultur bleiben erhalten, wie die nach dem Geschlechterverhältnis oder dem schäbigen Rest des Unerklärlichen, das sich der menschlichen Erkenntnis entzieht. Seine Ausführungen sind erhellend und zugleich erhebend. Sie sollten zur Pflichtlektüre werden.
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Worüber reden wir, wenn wir über Kunst reden? von Stefan Oehm, Königshausen und Neumann, 2019
Eine Leseprobe finden Sie hier.
„Ein Buch, das eigentlich jeder Kunststudent oder angehende Kunsthistoriker lesen sollte.“ (Prof. Dr. Armin Zweite)
Weiterführend →
Lesen Sie auch Stefan Oehms Essay zu Mischa Kuballs Lichtinstallation res·o·nant. Zum Thema Künstlerbucher lesen finden Sie hier einen Essay. Vertiefend auch das Kollegengespräch von A.J. Weigoni mit Haimo Hieronymus über Material, Medium und Faszination des Werkstoffs Papier.