Sprachmagische Dichtungstradition

Wer sagt, er habe ein Gedicht verstanden, der hat es nicht verstanden.

Walter Benjamin

Dichter werden verstanden, indem sie gelesen werden. Und so gilt es denn, die Schriften zu studieren und zu drehen und zu wenden, bis uns ihre Bedeutung allmählich transparent wird. Manche Schulen verlangen sogar, nur den Text in seiner reinen Gegenwärtigkeit zu befragen. Alle weiteren Bezüge, etwa zu den Verfassern oder zum historischen Kontext, werden damit zugleich überflüßig wie verdächtig. Denn Biographisches und die Historie trüben den Blick auf das Eigentliche; auf eine Aussage, die sich mit Wort und Satz aus sich selbst erschließen soll. Neben der Lyrik ist der geistreiche Essay, das wie zufällig gefundene, unverbissene Aperçu der Raum, den Holger Benkel bespielt.

 Die Worte Νεφελοκοκκυγία Nephelokokkygia, stammen aus Aristophanes’ Komödie Die Vögel. Sie bezeichnen eine Stadt in den Wolken, die sich die Vögel als Zwischenreich gebaut haben. Sie verhindern damit die Kommunikation zwischen den Menschen und den Göttern.

Mit dem Band fliegende wesen konnte Holger Benkel seine jahrelange Beschäftigung mit der Symbolik der Vögel und Insekten literarisch transformieren. Der Titel hat etwas doppeldeutiges und meint nicht allein reale Tiere, sondern überdies Seelen. Dies paßt zum Buchtitel seines letzten Gedichtbandes Seelenland von 2015. Vor über 20 Jahren heißen bereits seine Traumnotate Reise im Flug. Die Flugsymbolik folgt der uralten Sehnsucht der Menschen aufzufliegen, die irdische Schwere hinter sich zu lassen und überwirkliche Sphären zu erreichen, die der Seele Asyl geben können. Benkel konfrontiert die Selbstwahrnehmung des Ich mit der äußeren Natur und Landschaft, für ihn ist Lyrik immer Topografie und Erinnerung, Landvermessung und Rekonstruktion in einem. Die Natur ist ein Maßstab abseits des Menschlichen, eine Wahrheit, der sich der Dichter stellt und immer wieder neu justiert.

Es erklingt eine Musik, die wir schon einmal gehört haben, aber das ist lange her. Ich weiß nicht, wann und wo es war. Eine Musik ohne Melodie, von keiner Flöte, keiner Maultrommel gespielt.

«Die Zikaden» von Ingeborg Bachmann

Mit Naturlyrik im klassischen Sinn hat das wenig zu tun, die Natur wird hier nicht romantisiert, sondern als selbstverständliches Gegenüber festgehalten. Diese Gedichte berühren die tragischen Dispositionen der Existenz und zeigen die Dinge in einer fremden Nähe. Sie gehen nicht den Weg der kommunikativen Ansprache, sie sprechen in dunkel-elegischen Konfigurationen. Es ist eine Papier gewordene Parallelwelt aus präziser Beobachtung und Beschreibung, welche gleichzeitig reiche Assoziationsketten und Gedankenbilder erzeugt, die Mücken der Sprache schwirren dem Leser durch den Kopf. Dieser Lyriker stellt sein breites Spektrum von Stilmitteln nie eitel aus. Es sind Gedichte ohne versimpelte Romantik und ohne Kitsch, die, zuweilen nostalgisch umweht, das Lebendige wahrnehmen, dabei Vergänglichkeit, Sterben und Tod mit einschließen. Seine Gedichte entwickeln ihre Eindringlichkeit, weil der Autor einen Rest von Dunkelheit bewahrt.

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fliegende wesen, Gedichte von Holger Benkel,  erschienen in der Weberknecht-Edition, Magdeburg, 2018 – Ulrich Bergmann mit einer Rezension zum aktuellen Band.

kindheit und kadaver, Gedichte von Holger Benkel, mit Radierungen von Jens Elgner. Verlag Blaue Äpfel, Magdeburg 1995. – Eine Rezension des ersten Gedichtbandes von Holger Benkel finden Sie hier.

meißelbrut, Gedichte von Holger Benkel, mit siebzehn Holzschnitten von Sabine Kunz und einem Nachwort von Volker Drube, Dr. Ziethen Verlag, Oschersleben 2009. – Eine Rezension finden Sie hier. Ulrich Bergmann regte der Band zu einer Suche nach der Anderswelt an. André Schinkel liest darin Nachrichten aus der Knochenzeit.

Seelenland, Gedichte von Holger Benkel, Edition Das Labor 2015 – Benkel beweist als Lyriker in seinem Band Seelenland ein Gespür für das Unvertraute im Vertrauten, das Unheimliche des Alltäglichen, das Scheinhafte des Realen. Ulrich Bergmann denkt über den Gedichtband nach.

Gedanken, die um Ecken biegen, Aphorismen von Holger Benkel, Edition Das Labor, Mülheim 2013 – Benkels Gedanken, die um Ecken biegen gehen weiter als der geschriebene Text; sie sind kein Ende, sondern ein Anfang. Sie versuchen, diesen kleinen Rest an Sprache etwas aufzuhellen, und wagen es seine Ränder verstehbar zu machen.

Essays von Holger Benkel, Edition Das Labor 2014 – Einen Hinweis auf die in der Edition Das Labor erschienen Essays finden Sie hier. Auf KUNO lesen Sie u.a. Rezensionsessays von Holger Benkel über die Brüder Grimm, Ulrich Bergmann, A.J. Weigoni, zur Lyrik von HEL = Herbert Laschet Toussaint, Haimo Hieronymus, Uwe Albert, André Schinkel, Ralph Pordzik, Werner Weimar-Mazur, Holger Uske, Joachim Paul, Jürgen Diehl, Birgitt Lieberwirth, Sabine Kunz und Joanna Lisiak.

Weiterführend

In einem Kollegengespräch ergründeln Holger Benkel und A.J. Weigoni das Wesen der Poesie – und ihr allmähliches Verschwinden. Das erste Kollegengespräch zwischen Holger Benkel und Weigoni finden Sie hier.