Totes Rennen

„In geschnittenen Blumen lebt die Natur aus der Kunst. Man kann fast dasselbe über Gesichter sagen“, sagte Bellini, der Rennfahrer, als er vor dem Grand Prix in Monza der Tänzerin Dora de la Rosa, die er über alles liebte, eine dornige Rose zum Zeichen seiner Begierde schenkte. „Wenn du siegst“, versprach sie, „gehört dir die Nacht!“

Für Bellini, der von der Pole Position startete, begann das Rennen mit einem Horror Crash. Als die Ampel beim Start auf „Grün“ schaltete, rollte Bellinis Ferrari wegen eines Getriebeproblems nur langsam weg. Der von Position 8 losfahrende Luciano Burti raste mit voller Beschleunigung frontal in den beinahe stehenden Ferrari. Der Brasilianer überschlug sich in seinem Prost-Acer und drehte sich dabei um die eigene Achse. Beim Aufprall fiel er zwischen beide Arrows, ehe er in die Reifenstapel fuhr. Bellini und Burti überstanden den spektakulären Unfall wie durch ein Wunder unverletzt. Die Rennleitung neutralisierte das Rennen sofort und entschied Sekunden später auf Abbruch und Neustart. Bellini hatte Glück im Unglück: Er konnte unter dem ohrenbetäubenden Jubel seiner roten Fangemeinde in den Ersatzwagen umsteigen und das Rennen erneut aufnehmen. Der zweite Startversuch nach 25 Minuten Pause klappte reibungslos. Alle kamen gut weg. Aber in der Mitte des Rennens überschlugen sich die Ereignisse: Erst stand Juan Pablo Montoya in der 22. Runde beim Reifenwechsel geschlagene 29,9 Sekunden an der Box, weil der Tankstutzen klemmte. Zwei Umläufe später blieb Bellinis härtester Konkurrent, Mika Häkkinen, in der ersten Bremsschikane, an dritter Position liegend, mit seinem Silberpfeil urplötzlich stehen, stieg aus und stand versteinert am Rand der Piste. Dann gab Montoyas BMW-Motor in der 25. Runde den Geist auf, und Rubens Barrichello ereilte drei Runden später das gleiche Missgeschick. Als Montoya ausgeschieden war, konnte Bellini seiner Rolle als Geheimfavorit dank des starken Motors und der hitzebeständigen Michelin-Reifen gerecht werden. In 1:18:17,873 Stunden gewann er am Ende souverän. Nur zwölf der 22 Fahrer erreichten bei diesem Hitze-Rennen die Ziellinie. „Ein Traumergebnis!“, meinte Bellini nach dem Rennen.

Die Tänzerin, die auf dem Dach des Landhauses die Rückkehr des Geliebten erwartete, erkannte in der Geometrie der Baumlandschaft, die ihr noch nie aufgefallen war, das Blumengleichnis ihres Geliebten wieder und verlor die Ruhe. Als sie Bellini in seinem feuerroten Bugatti näherkommen sah, eilte die Liebende barfuß die Wendeltreppen hinab. Die schnellen Schritte, mit denen Dora die Stufen nahm, waren Teil eines Tanzes, in dem die natürliche Gesetzmäßigkeit ihres schönen Körpers und die unverbildete Wahrheit ihrer Bewegungen zum Ausdruck kam. In der Vorhalle schlüpfte sie wegen der harten Steine des Schotterweges schnell in die Turnschuhe.

Auf der Freitreppe schaute sie hinunter in die Allee, in der Federicos weißer Schal, die lange Flagge seines doppelten Sieges, zwischen den Pappeln flatterte. Dann sprang sie die Stufen hinunter. Der Schnürsenkel des linken offenen Turnschuhs blieb im rechten hängen, vielleicht trat sie auch mit dem Fuß darauf. Dora de la Rosa strauchelte in dem Augenblick, als sich Federicos Schal im langsamer fahrenden Bugatti in den Speichen des linken Hinterrades verfing. Sie stürzte – der Schal zurrte sich fest – sie schlug einen Salto nach dem andern, indes das Automobil ungebremst heranfuhr, und fiel mit dem Kopf in dem Augenblick, als der Schal riss, der Federico das Genick brach, auf den weißen Kies, genau vor das rechte chromblitzende Vorderrad, das über den schönen langen Hals der Tänzerin rollte – seine Augen starrten ins Blaue – dann rollte auch das Hinterrad über ihren Hals. Der gerissene Schal schlug sanft ihre Augen. Der leuchtend rote Wagen blieb in einem Rosenbusch stehen. Die metallene Vase barg den schönen Kopf des jungen Mannes, dessen lange schwarze Haare aus dem Rosenstock wuchsen. Ihr Kopf lag im Kies. Das weiß blühende Kleid war ein seidenes Blütenblatt. Die Gesichter der Liebenden schauten in die Wolken, die über den blauen Himmel fuhren. Sie wussten nichts von ihrer Schönheit.

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Kritische Körper von Ulrich Bergmann, Pop Verlag Ludwigsburg, 2006

Ulrich Bergmann bezeichnet den Zyklus Kritische Körper als ‚Criminal Phantasy’. Der Leser findet in diesen Kurzgeschichten eine für diesen Autor typische Montagetechnik, unterstützt durch einen imagistischen Bildgebrauch und die Verwendung extremer Bilder. Von der Figurenzeichnung bis zum Handlungsablauf ist jederzeit klar, wie in diesem Zyklus die moralischen Grenzen verlaufen. Bergmann schreibt gegen den drögen Realismus der modernen Literatur an, und in der Tat besteht das Realistische seiner Literatur darin, das Grausame in seine Texte einfließen zu lassen, wobei sie plausible Beschreibungen des Innen und des Außen seiner Figuren auch ins Fantastische verlängern. Er erklärt uns eine Welt, in der sich die Bedeutung der Wirklichkeit nicht an der Oberfläche erschließt. Der Leser muss sich selber von der Abgründigkeit überzeugen.

Weiterführend → Lesen Sie auch zum Zyklus Kritische Körper den Essay von Holger Benkel.