Ansprache an die Wörter


Für Franca Ricinski

 

Ihr,

keine Bräute, sondern Nutten und Engel, die ich mit Haut und Haar

bezahle, mit meinem aufs Ganze gegangenen Leben.

Mit den Fingern klopfe ich euch ab, Zeichen für Zeichen,

bis ich euch spüre und lebendig mache – so zeuge ich mich,

nähe mein Kleid, das mich wärmt, und spanne mein Dach

überm Kopf so dicht, dass kein Hagelkorn durch die Silben schießt.

Kein Regen fällt zwischen den Zeilen, keine Sonne bleicht die Vokale,

kein Blitz verkohlt die Konsonanten meiner Fangnetze.

 

Ich bin eure Heimat – nicht ihr. Aber wenn ich hinausgehe

ins Dickicht der Sprache, wohne ich auch da. Ich bin immer bei mir.

Auch wenn ich bei euch bin, bin ich nicht außer mir. Die Welt ist da,

wo ich mit mir spreche.

 

Aber ach, am Ende gehe ich von euch. Ihr lasst mich ja dann auch

im Stich. Auf meiner letzten Reise gehe ich ohne Beine, ohne Bilder,

ohne euch. Keine Semantik mehr, über die ich stolpere. Tief sinke ich

hinab bis Nirgendwo. Da verschluckt die Schwärze sich selbst.

 

Leer seid ihr, so fern von mir und über Tage, blicklos, hörlos,

ungeahnt. Ich weiß genau: an meinem Grab singt ihr kein

Amen.

 

 

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Wir verliehen Francisca Ricinski in 2016 den KUNO-Prosa-Preis. Lesen Sie hier die Begründung.

Poesie ist das identitätsstiftende Element der Kultur, KUNOs poetologische Positionsbestimmung.