Der Mensch braucht den kleinen Rausch, sonst fängt er an zu revoltieren.
Jutta Voigt
Ähnlich wie der erste Roman Abgeschlossenes Sammelgebiet kann man die Lokalhelden augenzwinkernd als „Historienroman“ bezeichnen. Hier ist jedoch nicht die Fernvergangenheit gemeint, sondern der Zeitraum zwischen dem 9. November 1989 und dem 11. September 2001 – kein Jahrzehnt aber fast eine Dekade. Dieser Romancier erzählt in Lokalhelden von der alltäglichen Schönheit im Leben der Rheinländer und bringt verstörende Details zum Vorschein. Wer sich das Sammelsurium an schrägen Außenseitern, orientierungslosen und entfremdeten Herumtreibern vergegenwärtigt, das seine Poesie seit den Zombies bevölkert, kann sich über den verblüffend alltagstauglichen in sich ruhenden Rheinländer nur staunen. Die distanzierte Ironie, mit der er viele seiner Figuren in Cyberspasz betracht, weicht hier einer geradezu warmherzigen Anteilnahme. Seit den Vignetten gilt die Gleichung sich anziehender Gegensätze, und so sind die Lokalhelden ein Plädoyer für die Polyvalenz und gegen die Eindeutigkeit der Prosa; für die Wahrnehmung auch des Ungesagten und Verschwiegenen in ihnen und gegen die Identifizierung der jeweiligen.
Werden Heimatgefühle von literarischen Texten ausgedrückt, sind sie an bestimmte Orte gebunden, zumindest mit räumlichen Vorstellungen oder mit einem bestimmten Zeitraums verbunden. Die von Weigoni beschriebenen Rheinländer schaffen sich einerseits Räume und bewegen sich in einer Landschaft, in der sie sich wohl fühlen, andererseits meiden sie solche, die ihnen unbehaglich sind. Das liegt nicht nur daran, daß sie ihre Stimmungen und Gefühle auf Dinge und Orte projizieren, es liegt auch am Rheinland selbst, das eine ganz eigene Aura besitzt. Das in den Lokalhelden literarisch dargestellte `Scharnier-Jahrzehnt` markiert raummetaphorisch eine Grenze zwischen zwei unterschiedlichen semantischen Bereichen. Weigoni hält eine Situation fest, in der die Individuum reflektierend an einer Grenze zwischen zwei Räumen innehalten, rückwärts und vorwärts schaut, bevor sie die Grenze überschreiten.
Man kann die Lokalhelden als Puzzle bezeichnen, als eine Art der Rekonfigurationen des literarischen Erinnerns. Das Rheinland wird für die Lokalhelden zu einem schrecklichen Sehnsuchtsort. Heimat ist für diese Spezies ein Ort des unerreichbaren Sich-Sehnens und erträumten Aufgehoben-Seins. Je weniger diese Typen in einer solchen Heimat tatsächlich leben, desto inbrünstiger glauben sie an ihre Existenz. Mit einem literarisch-medialen Coup dekonstruiert Weigoni diese Simulation, deren Real-Existenz geglaubt werden soll. Stilistisch zieht er alle Register; die Vielfalt seiner Ansätze ist ebenso wahnwitzig wie sprachschöpferisch. Es ist eine Literatur, die mit ihren Beschreibungen Referenzen in die unmittelbare Lebenswelt der Rheinländer projiziert und das sinnlich Wahrnehmbare, den Rhein, das Dreischeibenhaus, den Hofgarten auflädt mit poetisch vermittelter Erfahrung, die dem bloß geographischen Ort Charakter verleiht, Sinn und Bedeutung. Man sollte den Roman nicht im Binge Reading verschlingen sondern in mundgerechten Happen genießen.
Solidarität ist die Zärtlichkeit der Völker.
Frederik Hetmann
Wie lesen in Weigonis zweitem Roman Lokalhelden mitunter liebenswürdig-ironische Minidramen, die im gelebten Alltag verankert sind. Er schildert die Rheinländer voller Charme und Lebensheiterkeit und interessiert sich für alles, was zwischen diesen Typen passiert, fängt es ein und kompiliert es in einem Roman, der ihm als dynamisches Abbild der realen Welt gelingt, nur erheblich konzentrierter als diese. Aus einer psychologischen Binnenspannung heraus gelingt es ihm ein enormes, großbildhaft explodierendes Menschentheater zu kreieren. Etwas Schwebendes, Flüchtiges, Versponnenes zeichnet diese Rheinländer aus. Trotz aller Leichtigkeit, Eleganz und Gedankenschärfe, es dominiert bei Weigoni die Vorstellung eines Individuums, dessen Zentrum nicht in ihm selbst liegt, sondern das in der unvermeidlichen Kreuzung sozialer Kreise einen notorisch instabilen, je nach Zusammenhang einen wechselnden Standpunkt einnimmt.
Dieser Romancier ist ein Meister der reduzierten Form, manche Szenen sind nur wenige Seiten kurz, so vermittelt der Roman ein prägnantes Bild vom beschleunigten Lebenstempo des frühen 21. Jahrhunderts: Die Kippfiguren werden ohne große Vorbereitung in eine Lage gebracht, die sofortige Entscheidungen verlangt, bei denen man sich bei den eigenen Unsicherheiten und den eigenen irrationalen Ängsten ertappt fühlt. Wie auf einer schrägen Bühne geraten dabei die Dinge immer wieder ins Rutschen, sicher geglaubte Kontrolle droht zu entgleiten, Identitäten changieren, persönliche Beziehungen geraten heillos durcheinander auch eine Vergemeinschaftung der Nachdenklichen vermag sie nicht vor sich selbst zu retten. Die kalkuliert angezettelte Verwirrung der Verhältnisse wird dabei selbst zur Quelle lustvoll ausgeschöpfter Täuschungsmöglichkeiten. Daher bleibt dieser Hinweis Spoilerfrei.
Die Leichtigkeit der Rheinländer hat nichts mit Leichtgewichtigkeit zu tun, sondern mit einer reifen Haltung gegenüber den Zumutungen des Lebens und der Geschichte. In der unmittelbaren Gegenwärtigkeit dieser Gedankenfühler machen sich, unscharf geschieden, Reste einer anderen Zeit geltend, sich dem Jetzt untermischend: ein nicht zu entwirrendes Zeiten-Melange aus Kontingenz und Fixierung. Die Rheinländer können die Welt nicht retten, auch wenn sie noch so philosophisch begabt über die Unzulänglichkeiten der Sprache, der Liebe und des Körpers nachdenken. Nichts geschieht im Rheinland, das je ganz vergehen, restlos abgelebt werden könnte; es gibt die Last der Erinnerung – wie auch immer diese Typen damit umgehen, verzweifelt oder lächerlich oder beides zugleich, sie wirkt in jedem Leben. Diese Prosa ist nie als bloße Nachahmung, sondern als tiefe Wiedererfindung von Menschen, die man wiedererkennt, auch wenn sie nie existiert haben. Die Rheinländer haben eine Vergangenheit, aber keine Gegenwart. Eine Erfahrung, die nicht teilbar ist.
Tieren ist der Sinn gegeben, Menschen müssen ihn schaffen: durchs Erzählen.
Wie sich eine Großstadt in Worte fassen läßt, wie man deren Wesen dadurch begreift, daß man nichts verklärt und gleichzeitig jedem faden Elendsrealismus die kalte Schulter zeigt, das ist in Lokalhelden exemplarisch nachzulesen. In einem formal sorgfältig komponierten Erzählmosaik beschreibt Weigoni, wie eine Identität auf einen Schlag zusammenfällt, wie Menschen an ihrer auferlegten Rolle scheitern. Frei nach Godard gibt es womöglich einen Anfang, eine Mitte und ein Ende, aber mit Sicherheit nicht in dieser Reihenfolge. Lokalhelden ist ein Puzzle, das es darauf anlegt, nicht im ersten Versuch lösbar zu sein. Manche Teile passen nicht zusammen, und andere fehlen völlig, aber viel mehr als um ein kohärentes, fertiges Bild geht es hier um den Versuch des Zusammensetzens, der an sich schon zur Erkenntnis führen soll. Auf 320 Seiten läßt er dabei viele Geschichten parallel laufen und zaubert aus dem Rollenspiel des Rheinländers nach und nach einem ganzen Kabinett menschlicher Stereotypen, die menschlich, allesamt allzumenschlich grundiert sind.
Für all diese Typen auch in ihrer unverhohlenen Tragik oft sehr komischen Episoden findet Weigoni eine beachtliche Breite nuancierter Töne. Seine Sätze sind stark, geschliffen, scharf und voller Wucht. Oft erscheinen sie in langen Perioden, hochkomplex und in der Wortwahl ohne Scheu vor überbordender Pracht; in den Dialogen verdichten sie sich zu knappen Wortwechseln mit der Lebendigkeit des Mündlichen und voll treffender Pointen; in lyrischen Passagen steigert seine Sprache sich zu rhythmisierten Klangfiguren, mit vielen gänzlich unbekannten Resonanzen – vielstimmig orchestrierte Wortkonstellationen, wie wir sie im Deutschen sonst kaum je finden. Er gleicht sein Erzählen, in Syntax und Metaphorik, seinen Figuren gekonnt an – ein Verfahren, das er auch dort anwendet, wo er den Mythenschatz des Rheinlands ausschlachtet und einen barocken Sprachduktus imitiert und dabei, so darf man vermuten, mit dem historisch Verbürgten sehr frei umgeht. So erhält die auf den ersten Blick realistisch anmutende Dorfatmosphäre unmerklich eine magische Note.
In das Rheinland ist das Gedächtnis der Geschichte eingeschrieben, und es mischt sich mit großer Deutlichkeit in diesem synästhetischen Roman. Die Utopie, daß Literatur in der Lage ist, das Doppelgesicht der Welt, ihre Schönheit und ihren Schrecken in ein gemeinsames Bild zu bringen. Daran arbeitet Weigoni seit den Vignetten mit atemberaubender Dringlichkeit und Hartnäckigkeit. Kreativ schreibt er sich durch sperrige Themen hindurch: Existenzialismus, Tod und Psychokrise. Er verwirrt ab der ersten Seite mit Zeit- und Perspektivensprüngen, läßt kaum einer Szene mehr Raum als vier Seiten, und beweist immer wieder Mut zum Absurden. Ein Credo bleibt: Jede Identität ist austauschbar. Außer, wir halten uns an den anderen fest. Es gibt Bücher, die kein geistiges Verfallsdatum kennen, dieses hat eine Anwartschaft darauf. Augen auf und durch, bis zum Schluß.
Statt einer Hermeneutik brauchen wir eine Erotik der Kunst.
Susan Sontag
Die Stärke von Weigoni ist es, keine Erwartung zu befriedigen. Die Realität wird im Mittelstück seiner Romantrilogie mit den Mitteln der Literatur transzendiert. Dieser Romancier hat als Flaneur das Rheinland durchwandert, ist an den Magistralen entlanggegangen und hat für die Fluidität den richtigen Ausdruck gefunden. Die Seelenwanderung ist eine alte Metapher für literarische Kommunikation und ein noch viel älteres theologisches Konzept. Trotz ihrer augenscheinlichen Antiquiertheit behauptet sie sich im aktiven Sprachschatz der deutschen Literatur. Denn soviel ist sicher: Die Seelen der verstorbenen Schriftsteller werden weiterhin heftig mit denen der Lebenden streiten. Das Resultat dieser Dialoge wird sich auch in den literarischen Werken der Zukunft niederschlagen. Und wessen Seele dann jeweils spricht, das wird auch weiterhin nicht immer klar zu entscheiden sein.
Man könnte Lokalhelden, einen großen Heimatroman nennen. Das würde bedeuten, einen vielgeschmähten Begriff zu rehabilitieren und umzudeuten. Für Romane wie diesen gibt es in der Literaturlandschaft keinen passenden Ort. Das Rheinland erscheint in diesem Roman als etwas angeschmutzte Provinz, ein in die Jahre gekommenes Westdeutschland. Unter allen praktischen Gesichtspunkten qualifizieren sich die Bewohner der rheinischen Bucht als Versager. Diese Lebensverpasser pflegen sich nicht zu schämen und den Mund zu halten, sie rutschen aus einer Problemlage in die nächste und erweisen sich auf seine diskrete Weise als schamlos. Weigoni liefert die glaubwürdige Nutzanwendung auf die deutschen Zustände des Scharnierjahrzehnts mit ihren ganz anderen Verhältnissen, Ansprüchen und Toleranzen. Es atmet den Geist eines leicht muffigen, doch zarten Trosts; und man muss in sich den Mut der Verzagtheit finden, um diesen Roman anzunehmen.
Als Schriftsteller ist Weigoni nur schwer auf eine Poetik festzulegen, die kohärenten und wiedererkennbaren Strukturen folgen. Seine eindringliche Lakonie entsagt sich der Täuschung ebenso wie einem falschen Idealismus. Was diesen Romancier antreibt, ist die Suche nach der Wahrheit, und dieser kommt der Leser dank seiner souveränen Gesellschaftsdiagnose ein ganzes Stück näher. Er stellt seine Diagnosen mitunter wie ein Arzt aus, der seinen Patienten krankschreibt. Weigoni verfügt über ein endloses Reservoir an skurrilen Figuren und schier unerschöpflichen Sprachwitz. Die Rheinländer, die er porträtiert sind dazu verdammt immerfort zu werden und niemals zu sein. Dieser Romancier hat ein widerborstig, genialisch verrücktes Buch geschrieben, er erkundet das „Scharnierjahrzehnt“ mit einer phantasiebewegten Subversionen und nimmt die präzise Wahrnehmung der Wirklichkeit als Ausgangsmaterial für ein poetisches Kunstwerk. Er gehört zu den schönen Aufgaben der Literatur, der Welt ein wenig Magie zurückzugeben. Hier ist es Fall geglückt.
Wenn ich von einem Ort spreche, dann deshalb weil er verschwunden ist.
Jean Baudrillard
Weigonis Roman über das Rheinland, ist mit seinen raffiniert verflochtenen Erzählsträngen und ständigen Bezügen auf eine geografische Struktur ist mithin auch ein strudlhofstiegenartiger Stadtführer durch die Nebenstrassen (anders als in Heimito von Doderers Roman gibt es hier jedoch kein dramaturgisches Zentrum). Weigoni parodiert das wunschbiografische Erzählen des Rheinländers, er führt vor, wie diese Typen in schillernden Rede-Kaskaden das Wort geradezu fröhlich erbrechen. Dabei gelingt diesem Romancier eine Balance zwischen Nachdenklichkeit und spielerischer Ironie. Er beschreibt Außenseiterfiguren und Randgeschichten, ohne in die Groteske abzurutschen. Jean Baudrillards Paradigma für die systematische Verflüchtigung einer Realität, deren Verdämmern wir gewissermassen auskosten, findet sich gerade im Rheinland wieder.
Unabhängigkeit zeugt von Selbstbehauptung, Freiheit, von Emanzipation. Man muss das Streben nach Unabhängigkeit von Weigoni im Kontext dieser Liberalität sehen, um zu begreifen, womit sich dieser Romancier herumschlägt. Er spielt mit dem Leser, enttäuscht bewußt seine Erwartungen, liefert ihm widersprüchliche Informationen, stört kontinuierlich seine Identifikation mit den Figuren und befriedigt oft nicht mehr das konservative Bedürfnis nach Ausgleich und Harmonie. Moral kann kein primäres Kriterium der Literaturkritik sein, wer Romane an moralischen Maßstäben misst, kastriert die Kunst. Es findet in diesem Rheinland eine Substituierung des Realen durch Zeichen des Realen statt der Verlust der Zeichenreferenz sei das Ergebnis. Alle tatsächlichen Ereignisse werden unablässig in Medienereignisse transformiert. Literatur meint zuallererst das sprachliche Kunstwerk, ein klug gedachtes, bewusst gemachtes, ein formal hoch organisiertes Gebilde, dessen Wirkung von sprachökonomischen und dramaturgischen Prinzipien abhängt.
Sein literarisches Sujet stellt sich quer zum Zeitgeist. Weigonis Ausdeutung der rheinischen Geschichte ist ein literarisch-ironisches Trompe-l’œil, ein Scheingemälde aus chauvinistischen Selbstzuschreibungen und historischen Behauptungen, andere Gefühlslagen inklusive. Schließlich sind die Rheinländer die Könige des Augenblicks. Weigoni kann von sanftem Unwillen bis hin zu knackigem Sarkasmus chargieren, das macht seine Prosa unverwechselbar. Sein gestischer Roman ist als ein Werk zu verstehen, in dem nicht mehr Figuren sondern ein Netz von Handlungen, die zu bestimmten Grundhaltungen oder Gestus verdichtet sind, die Sinnmitte bilden. Dieser Roman funktioniert wie eine Schnitzeljagd, es geht darum, Hinweise zu entdecken und zu entschlüsseln. Eine jede Geschichte dieses Buchs, wo kluge Konstruktion und menschliche Wahrhaftigkeit zusammenfinden, erinnert an ein Diminuendo. Die Töne werden leiser, flüchtiger, bis sie im sich auflösenden Nebel verklingen.
Wir sind von Heimatbildern umgeben, es wird dauernd erzählt, wie schön das alles ist und die dritten Programme versammeln in ihrer Jämmerlichkeit die fünfzehn schönsten Brücken Nordrhein-Westfalens.
Christian Petzold
In seiner Prosa arbeitet Weigoni mit Gedankenpartikeln, mit essayistischen Splittern, die dem Publikum unter Ein-Wort-Einschriften portionsweise verabreicht werden. Die Leser sollen sich nicht in eine fiktionale Welt flüchten. Sie sollen lieber mit einem erneuerten Gefühl für kreative Möglichkeiten in ihr Leben zurückkehren. Dieser Roman ist geistreich, unterhaltsam, formal schlüssig, virtuos in den Mitteln. Das Vergnügen, das sich beim Lesen über die komplexen Themen einstellt, soll dazu inspirieren, die Welt in neuem Licht zu sehen, selbst wenn die Rheinländer über den Deckel ihres Bierglases nicht hinauskommen.
Sein Werk braucht Zeit, Muße, Ruhe, die dann jedoch mit großem Lesegenuss belohnt werden: Akribisch, detailliert und mit einer Vielzahl von historischen Exkursen zeichnet Weigoni diese Zeit nach. In den Lokalhelden geschieht die Subversion des Heimatsbegriffs durch die disseminative Sprache der Literatur. Seit den Vignetten kommen seine Werke nicht nur ebenso klug wie experimentierfreudig daher, sie kommen dazu ohne ein deutsches Geschichtsbeschwernis aus. Die Aufgabe dieser Prosa und dementsprechend ihre Wirkung liegt nicht in einer „Verrechnung ästhetischer Formen“ auf ein politisches Analogon hin. Es gibt eine andere Lösung, die dem Utopiecharakter von Literatur besser entspricht, je reiner der ästhetische Kern enthalten ist, umso größer die Strahlkraft nach außen: Diese geschieht in den Lokalhelden nicht als sozialkritische Korrektur des generellen Diskurses, sondern als dessen Irritation. Die Irritation des Diskurses vollzieht sich als Subversion der Gültigkeit seiner normativen Begriffe.
Solange sich die Geschichte wiederholt, wiederholen sich auch die Geschichten. Weigonis poetischer Realismus greift auf eine die emphatische Moderne zurück. Und berücksichtigt auf der syntagmatischen und paradigmatischen Achse den kulturellen Hintergrund des Rheinlands. Man trifft in dieser Kulturlandschaft auf mythologische, paläolithische, ästhetische, physignomische, populärkulturelle, comicsemiotische und transzendentale Ansätze. Der Mythos des Rheinlands stützt sich ein sekundäres semiologisches System, ihr schildkrötenhaftes Fortschreiben. Der große Traum aller literarischen Avantgarden, auf dem Wege der Kunst bewohnbare Strukturen zu schaffen, ist von der Kulturindustrie samt ihren trivialsten realistischen Erzählmustern längst verwirklicht worden. Weigoni bringt das Kunststück fertig, die im Rheinland aufgehobene Welt in ihrer Fremdheit zu belassen und uns die Unüberschaubarkeit der gesellschaftlichen Verhältnisse gleichzeitig nahe zu bringen. Die rheinische Landschaft wird zum Projektionsraum des Menschlichen.
Die Schrift ist meine Heimat. Heimat, aber gefährlich.
Peter Handke
Auch die Geschichte legt, so scheint es, gelegentlich eine Atempause ein. In seinem zweiten Roman beschreibt Weigoni den Welt-Alltag zwischen zwei Epochen. Bei den Lokalhelden geht es um das Weltganze, wie es einem schwafelnden, denkenden, lesenden Ich entgegenkommt, das in einem Brauhaus des glokalisierten Rheinlands sitzt und seine Wahrnehmung auf Empfang gestellt hat. In einer der irrwitzigsten Szenen dieses Romans lauschen wir in einem rheinischen Brauhaus in einem Trialog von drei unterschiedlichen Typen einer intellektuellen Arbeit an der Gegenwart, vielleicht sogar an der geistigen Situation der Zeit. Sicher darf man sich nicht sein, der Autor hält das gekonnt in einer irrwitzigen Schwebe.
Der Roman spielt im ‚Scharnier-Jahrzehnt’ zwischen dem 9. November 1989 und dem 11.09. 2001. Eine Zeit, von der Francis Fukuyama annahm, das Ende der Geschichte sei gekommen. Der Politwissenschaftler wiederholte in seinem Essay Gedanken, die Alexandre Kojéve bereits in den 1930er Jahren formuliert hatte. Letztgenannter legte eine eigenwillige, in Frankreich aber epochale Hegeldeutung vor. Friedrich Hegels Geschichtsphilosophie führt zu einem Ende im Sinne einer letzten Synthese, wenn es keine weltpolitischen Widersprüche mehr gibt. Fukuyama vertrat die These, daß sich nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion die Prinzipien des Liberalismus in Form von Demokratie und Marktwirtschaft überall durchsetzen würden. Mit dem Sieg dieses Modells ende der Kampf um Anerkennung und es entfalle das Antriebsmoment der Geschichte. Spätestens am 11.09. 2001 erkennt die westliche geprägte Welt, daß in islamischen Ländern eine andere Dynamik herrscht.
Wer lange und ausdauernd nachdenkt, dem öffnet sich die Tür zu einer Vergangenheit, die immer auch geträumt sein könnte. Mit dem Welt-Geist war im ‚Scharnierjahrzehnt’ nicht viel zu gewinnen, eher mit Intelligenz, nicht nur mit künstlicher, sondern, mit der humanen Intelligenz des Gegenwartsbeobachters. Sie lehrt wenig Erfreuliches über die Zeit zwischen dem Ende des kalten Kriegs und der asymmetrischen Kriegsführung. Neuen Medien, Neoliberalismus, die Unwirtlichkeit der Städte, die Ignoranz der Politiker, dies alles wird in den Lokalhelden gespiegelt. Wir besichtigen auf dem rheinischen Versuchsfeld Spuren, Relikte und Reliquien, das Übriggebliebene, kurz gesagt das, was eine Geschichte ausmacht. Weigoni vermeidet sorgsam abschließende Antworten, aber er misst bedächtig das Problemgelände der glokalsierten Welt aus. Vom Verschwinden zu handeln, schließt im Rheinland die Verschwundenen mit ein, denen dieser Romancier einfühlsame Porträts dieser Spezies widmet. Auf den Geist berufen sich, weil der Begriff so vielsagend ist, auch Schwätzer und Schwadroneure, folgen wir dem Erforscher von Trivialmythen in das Brauhaus und lauschen dem rheinischen Singsang der Nachfahren der Loreley.
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Lokalhelden, Roman von A. J. Weigoni, Edition Das Labor, Mülheim 2018 – Limitierte und handsignierte Ausgabe des Buches als Hardcover.
Weiterführend → Lesenswert auch das Nachwort von Peter Meilchen sowie eine bundesdeutsche Sondierung von Enrik Lauer. Ein Lektoratsgutachten von Holger Benkel und ein Blick in das Pre-Master von Betty Davis. Die Brauereifachfrau Martina Haimerl liefert Hintergrundmaterial. Ein Kollegengespräch mit Ulrich Bergmann, bei dem Weigoni sein Recherchematerial ausbreitet. Constanze Schmidt über die Ethnographie des Rheinlands. René Desor mit einer Außensicht auf die untergegangene Bonner Republik. Jo Weiß über den Nachschlüsselroman. Margaretha Schnarhelt über die kulturelle Polyphonie des Rheinlands. Karl Feldkamp liest einen Heimatroman der tiefsinnigeren Art. Als Letztes, aber nicht als Geringstes, Denis Ullrichs Rezensionsessay.