Halb leer

 

Auf Festen hat man Gelegenheit in aller Freundschaft mit alten Bekannten zu reden, über Gott und die Welt, wie man gerne sagt, meist jedoch über Fernsehen und Fußball. Da unterhalten sich zwei gestandene Männer (sagt man so, wenn sie schon einige Jahre einen Beruf ausüben und um die Hüfte herum einen stattlichen Umfang entwickelt haben) über zuerst eine Fernsehserie, die sie regelmäßig sehen, beide. Nein, nicht eine, es handelt sich bei näherem Hinhören um ein ganzes Bündel von Serien. Sendungen und Programmen. Die werden Abend für Abend gesehen. Verschlungen und verinnerlicht. Die beiden Männer sind augenscheinlich einvernehmlich begeistert, diskutieren die dort zu sehenden Figuren aus, als wären es Leute aus der Nachbarschaft oder zumindest alte Bekannte, die man regelmäßig trifft und spricht. Auf Festivitäten braucht es eben gute und unverbindliche Gesprächsthemen. Man nimmt Augenkontakt auf, grüßt, tritt zu einer Gruppe oder Person hinzu und beginnt unverbindlich einen Smalltalk, so gehört sich das. Erst mit zunehmender Alkoholisierung sollte man ernsthafte Themen anschneiden, dann möglichst in Form von Thekenparolen. Die kann jeder verstehen.

Als Herr Nipp hinzutritt, hat er ein Glas mittelguten französischen Rotweins in der Hand. Die guten Weine trinkt man gepflegt, im Sitzen, mit Freunden, mit leckeren Schweinereien dabei, Wurst, Käse, Schokolade. Auf Partys gibt es andere Sorten, das weiß jeder, man sollte anderes auch nicht erwarten. Trotzdem kann man damit gut über den Abend kommen. Vergnüglich nahm er einen Schluck nach der kurzen Begrüßung. Sie hatten ihn damit als Gesprächspartner akzeptiert und würden im Laufe der nächsten Minute erwarten, dass er sich am Gespräch beteiligt. Normalerweise gibt man neu hinzugekommenen Leuten die Möglichkeit, sich ins Thema zu finden, wenn allerdings nach einer Minute nichts kommt, gibt man mit der Körperhaltung eindeutig zu verstehen, dass man sich wieder verdrücken sollte. Wenn man das nicht versteht, wird die Gruppe unter fadenscheinigen Gründen aufgelöst. Man geht zur Toilette oder holt sich ein neues Getränk und auf dem Weg wird man von jemand anderem angesprochen. Schon hat man seine Ruhe vor dem Schweiger. Den ganzen weiteren Abend meidet man es, auch nur in die Nähe zukommen, aus Angst weiterhin angeschwiegen zu werden. Also gilt es möglichst innerhalb von rund zwanzig Sekunden einen guten Kommentar zum Thema abzugeben, dann gilt man als weltgewandt, ein guter Gesprächspartner. „Unglaublich eigentlich, was die aus den kleinsten Indizien herausfinden können.“ „Sogar ein vertrocknetes Tröpfchen Spucke kann da ausreichen, um einen Täter zu überführen.“ „Gene, verstehst du?“ „Ja, ja, genetischer Fingerabdruck.“ Fachsimpelei auf höchstem wissenschaftlichem Niveau könnte man glauben, nein inzwischen sind die beiden bei einer amerikanischen Krimiserie angekommen. Aber immerhin hat man sich die vielen Fachbegriffe gemerkt, da macht das Zuhören Freude und man muss aufmerksam folgen. „Tolles Team auch.“ „Ja, die eine ist schon ziemlich krank, meine ich, zumindest komisch.“ „Aber auch genial, tüftelt immer so neue Sachen aus.“ Die Zeit für Herrn Nipp läuft langsam ab, wenn er nicht schnell eingreift, dann ist er für den ganzen Abend raus. „Ja, Wissenschaft ist schon ziemlich spannend, das kann man alles herausfinden, wenn man nur weiß, wonach man sucht.“ Er schaut ein wenig verlegen, hofft, dass diese Meldung akzeptiert wird. „Ja, bei CSI sind die so, die suchen so lange, bis sie etwas gefunden haben.“ „Was ist das genau?“ „ Eine der genialsten Serien aus Amerika, super spannend.“ „Hab keinen Fernseher.“ Dieses Geständnis kann der Tod jeder Unterhaltung sein, wer kein TV-Gerät besitzt, wird nicht für voll genommen. „Echt? Krass!“ Das ist schon einmal gut, Bewunderung für etwas völlig Uncooles zu bekommen, heißt, dass man voll in der Unterhaltung angekommen ist. Jetzt kann eigentlich jedes Thema gesetzt werden, zumindest bis die Gläser wirklich leer sind. „Ja, ich sehe auch nur noch Fußball und ein paar Serien…und natürlich Tagesschau, das muss schon sein, sonst ist man gar nicht informiert. Sonst kommt ja auch nichts mehr.“ „Nur blöde Talkshows mit abgehalfterten Gästen, die seit zehn Jahren dasselbe von sich geben.“ „Stimmt, alles Blödsinn und die ganze Werbung.“ „Man zappt den ganzen Abend durchs Programm und letztlich hat man nichts zu Ende gesehen.“ „Und am nächsten Tag weiß man gar nicht mehr, was man gesehen hat.“ „Habe vor einem Jahr den Fernseher abgeschafft. Halte die Bilder nicht mehr aus, alles zu viel, zu schnell, zu bunt, zu grausam.“ „Aber abends mit `nem Bierchen Fußball gucken?“ „Find ich langweilig, kann man auch beim Angeln zugucken, da hat man meist mehr Fänge in anderthalb Stunden als beim Fußball Tore fallen.“ „Aber beim Angeln zugucken gilt als langweiligste Tätigkeit überhaupt, langweiliger noch als Angeln selbst.“ „Eben, andererseits rennen beim Fußball 25 erwachsene und wahrscheinlich überbezahlte Männer hinter einem Ball her…“ „..du meinst 22…“ „..22 Spieler und die Schieds- und Linienrichter. Dann sitzen und stehen 80000 Fans im Stadion herum und 30 Millionen vor den Fernsehgeräten. Das nenne ich Langeweile.“ „Aber ist doch irgendwie auch geil, ne?“ „Ja, find ich auch, wenn die eigene Mannschaft gewinnt, nur die Interviews mit Spielern könnten sie sich schenken.“ „Und dann mit den anderen Fans feiern und singen.“ „Ja und über das Spiel diskutieren und nacherzählen, klasse.“ „Bei einem Bierchen.“ „Fußball find ich gut.“ „Eben, altes römisches Prinzip – Brot und Spiele.“ „Was meinst du damit?“ „Na, was glaubst du denn, warum nicht die Vereine die polizeilichen Schutzmaßnahmen bezahlen müssen, sondern die Steuerzahler? – Na, Hartz IV und Fußball. Gib den Menschen was zu essen und Ablenkung mit Fernsehen und Fußball und schon sind sie ruhig. Da können sie sich das Elend der anderen Menschen anschauen und schon ist das eigene Leben gar nicht mehr so schlimm. Das hält die Bevölkerung ruhig, da gibt es auch keine Demos. Wer glotzt und das Elend der Anderen sieht, ist selbst zufrieden.“ „Ja, und was machst du so?“ „Ich mache Sport, lese viel und schreibe.“ „Naja, politisch aktiv kann man das auch nicht nennen.“ Kurz betretenes Schweigen. Der eine schaut auf die eigenen Füße, macht eine Bewegung zur Seite. Mein Glas ist leer, ich hole mir mal was Neues.“

 

 

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Das Mittelmaß der Welt, unerhörte Geschichten von Herrn Nipp, dokumentiert auf KUNO 1994 – 2019

Weiterführend → Zu einem begehrten Sammlerstück hat sich die Totholzausgabe von Herrn Nipps Die Angst perfekter Schwiegersöhne entwickelt. Außerdem belegt sein Taschenbuch Unerhörte Möglichkeiten, daß man keinen Falken mehr verzehren muss, um novellistisch tätig zu sein. Herr Nipp dampft die Gattung der Novelle konsequent zu Twitteratur ein. Und außerdem präsentiert Haimo Hieronymus die bibliophile Kostbarkeit Über Heblichkeiten, Floskeln und andere Ausrutscher aus den Notizbüchern des Herrn Nipp. Begleitendes zur Veröffentlichung des Buches Fatale Wirkungen, von Herrn Nipp (Mit Fotos von Stephanie Neuhaus). Über die historische Aufgabe von Herrn Nipp aus Möppelheim.

Zum Thema Künstlerbucher lesen finden Sie hier einen Essay sowie ein Artikel von J.C. Albers. Vertiefend auch das Kollegengespräch mit Haimo Hieronymus.

Diese bibliophile Kostbarkeiten sind erhältlich über die Werkstattgalerie Der Bogen, Tel. 0173 7276421