Der gestrige Tag hat noch nicht begonnen

 

Die an den Schnittstellen von Text, Fotografien und deren medialer Vermittlung entstandenen Erzählungen der ukrainischen Autorin, Jg. 1980, erregen nicht nur aufgrund ihrer unterschiedlichen Verfremdungsverfahren das wachsende Interesse des Lesers. Yevgenia Belorusets gelingt es vielmehr, in ihrem zweifachen Vorwort zu den vorliegenden zweiunddreißig Erzählungen etwas in den Fokus der Lesenden einzuschreiben, was sie in ihren Fotoprojekten „Der Krieg im Park“ und „Ich behaupte: Der gestrige Tag hat noch nicht begonnen“ aus Jahr 2017 leitlinienartig begonnen hat. Es ist die optische Einschreibung von menschlichen Gestalten wie auch materiellen Objekten in einen Wahrnehmungsprozess, in dem vor allem die von der Erzählerin befragten und erlebten Protagonistinnen in Situationen angetroffen werden, die in doppelter Hinsicht irritieren. Es sind auf den ersten Blick scheinbar seltsame Frauen, die von männlichen Partnern getrennt leben, ihr Leben auch in materieller Hinsicht selbst gestalten. Mit ihnen kommt die Ich-Erzählerin, manchmal auch eine – gleichsam „zur Hilfe eilende“ Wir-Erzählerin – ins Gespräch. Oft aber beobachtet sie ihre Protagonistinnen nur aus der Distanz, und manchmal denkt sie sich nur Geschichten aus, die in einer oft surrealen Verbindung zu ihren Zielpersonen stehen.

Offensichtlich ist, dass die Erzählerin ein wohlwollendes, oft auch merkwürdig-skurriles Verhältnis zu ihren Protagonistinnen entwickelt, denen sie an unterschiedlichen Orten in Kiew oder im Donbass begegnet. Beispiele belegen es: Da ist es eine „wunderschöne, makellose Frau mit dem feinen Teint“ (S 19), die sich beinahe das Leben nimmt, weil sie nach dem Nähen einer Bluse vergisst, die Nadel zu entfernen. Oder die charismatische Frau, der keine gesellschaftliche Krise etwas anhaben konnte, die in jeder politischen Krise Gewehr bei Fuß steht, magische Kräfte entwickelt, als Hebamme in ihrem Stadtbezirk bekannt ist, oder diese seltsame Frau, die am 8. März plötzlich nicht mehr laufen kann, weil nur am Internationalen Frauentag die Männer sich den Frauen gegenüber „aufmerksam und zuvorkommend“ verhalten. Sie alle vermitteln eine Aura des Geheimnisvollen, die sich allmählich auflöst, je mehr Protagonistinnen über ihre Erfahrungen mit gesellschaftlicher Realität vor allem in ihrem Lebensraum Ukraine berichten. Zunächst ist es eine Lena, die von Leipzig aus von ihrem Vater am Telefon erfahren möchte, ob sie mal wieder ihre ukrainische Heimat besuchen darf, was der ihr kategorisch untersagt. Und Lena zu der jähen Einsicht bringt: „So unglaublich gefährlich war es auf einmal geworden, dort zu leben.“ (S. 62) Im Anschluss daran ist es eine Flut von Beobachtungen und bitteren Erkenntnissen über ihr Geburtsland, das sie gleichsam schockartig ihren Lesern mitteilt. Von den wenigen reichen Dörfern seien kaum welche übrig geblieben. Und ihre Bewohner? Oft von der Außenwelt abgeschnitten, weil keine Busse mehr fahren. Und die jungen Leute? „Suizid – oh ja, das ist das einzige Gebiet, auf dem sie  … Fantasie entwickeln, Hand anlegen können.“ (S. 67)

Perspektivenwechsel gehört zu den besonderen Fähigkeiten einer Autorin, die immer wieder den Versuch unternimmt, ihre Protagonistinnen einem Strom von objektivierten Ereignissen auszusetzen und sie zugleich einem Verfremdungsprozess unterwirft. So sind es Mitarbeiterinnen eines Schönheitssalons, die eine Revolte zum Wohl der ostukrainischen Bergarbeiterstadt Antrazit organisieren. Oder eine gewisse Olga Petrowna, aus Slawjansk stammend, die in Kiew in der Wohnung eines Ehepaars plötzlich zaubern kann, die aus dem Blickwinkel einer Ich-Erzählerin ihre seltsamen Fähigkeiten kommentiert und sich von ihrer „Verrücktheit“ distanzieren möchte. Oder Andrea, die die Erzählerin in Kiew kennenlernt, und die gerne pathetische Ausführungen über die Ukraine macht und zugleich behauptet, die Ukraine sei ein „Land der entbehrlichen Erscheinungen“, ein Land, das seinen Bewohnern nur wenig Spielraum lasse.

Und der Krieg, der seit Jahren in der Ostukraine schlimme Verwüstungen an Behausungen, an der Landschaft und umso schlimmere an Menschen hinterlässt?

Seine psychischen und mentalen Auswirkungen lauern in dem narrativen Gefüge der kurzen Erzählungen in diesem Band, der einen Titel trägt, der beim ersten Blick auf das sich küssende Paar auf dem Umschlag so viel Glück verspricht und auf groteske Weise dem Leser die Auswirkungen einer Katastrophe aufzeigt. Sie kommt scheinbar schleichend daher in einem unscheinbaren Text im letzten Drittel des Buches, „Philosophie“ heißt er, mit einem Soldaten als persona anonyma, der gesteht, dass er mit dem Krieg verheiratet sei, das heißt: „Er nahm sich eine Frau, die eine Nummer zu groß für ihn war, die ihn klein hielt, verhöhnte und betrog.“ (S. 120) Und je länger er mit diesem Krieg verheiratet ist, desto besser kann er, wie seine Kameraden an der heimtückischen ostukrainischen Front, sich selbst ausblenden, sein Innerstes nur noch durch den Krieg sehen. Und was dann folgt, erweist sich als grausame Offenbarung einer vergeudeten Generation: „Eine Renaissance ist in der Ukraine nur möglich im Angesicht von Erschießung und Terror.“ (S. 121)

Es ist eine Aussage, in der die vielfach gebrochene Stimme der Erzählerin aus der Perspektive ihrer leidenden Landsleute zu hören ist. Sie übermittelt eine Botschaft, in der das kollektive Narrativ von Menschen enthalten ist, die den von heimischen Oligarchen und ehemaligen Okkupanten geraubten Mehrwert zurückfordern. Und diese multimedial besetzte Stimme der Erzählerin richtet sich zugleich gegen den Herrschaftsanspruch derjenigen, die ihr Volk jahrzehntelang betrogen haben. Es ist eine Stimme, die an den Schnittstellen von düsteren Nachrichten und listigen Botschaften aus den eingefügten Fotografien gleichsam schelmisch besetzt ist. Sie erzählt mal von einer imaginären Heldentat, mal von einem komischen Liebesverhältnis, mal von einer naiven Frau, entwirft auch mal eine Skizze zu einer fiktiven Autobiographie. Und je länger der Einsichten und Aha-Erlebnisse sammelnde Leser sich in diese „Glücklichen Fälle“ vertieft, desto häufiger wird er von einer Autorin belohnt …  für seine wachsende Neugier bei der Suche nach Erkenntnissen über den Alltag emanzipierter Frauen in der Ukraine und für seine vielschichtigen Erkenntnisse beim Anblick sich küssender Paare.

 

***

Glückliche Fälle, von Yevgenia Belorusets. Aus dem Russischen von Claudia Dathe. Berlin (Matthes & Seitz Verlag) 2019