Auswanderung

Der Despot des Absolutismus schlug gegen den Holzrahmen der Tür. Es war noch hell, daher war der Spalt zwischen Wimpern und Gesicht größer. Man hörte ein eindringliches Klopfen des Windes ans Fenster. Das blutunterlaufene Auge triefte vor Nässe, zuckte vor Wut.

Es begann zu regnen, als das Wettrennen seinen Anfang nahm. Irgendwo auf einer Insel der Verspotteten. Sie war ein junges Zigeunermädchen, das über die Grenze, gemeinsam mit drei Geschwistern, dem Vater und seinen zwei Frauen wollte. Nach einem langem Aufenthalt in Polen grenzte es an ein Wunder, dass sie überhaupt die Geduld und die Kräfte nicht verloren hatten. Die Zwillinge, die Nesthäkchen, hatten aufgehört zu weinen und vegetierten nur noch vor sich hin.

An der Grenze zu Deutschland sammelten sich die Auswanderer in einem engen Raum, dessen Wände nass und korrodiert waren. Die Zigeuner aus Rumänien trafen in der engen Zoll-Hütte auf Zigeuner aus Rumänien. Sie fielen sich gegenseitig in die Arme und torpedierten die fremde Umgebung mit leidenschaftlichen Konversationen, geführt in ihrer Muttersprache. Das Mädchen setzte sich auf den Boden neben einem Jungen nieder. Er war vierzehn. Es war fünfzehn. Die Buben quälten mit Genuss die Babys, diese schrien, die Erwachsenen förderten die Stimmen um den Lärm zu übertrumpfen, das Geschrei umging wie ein Handschuh eine knappe Zeitzone, die Schallwellen stiegen konvulsivisch zu Decke empor. Ein Grenzwächter schmiss die Tür gegen die Wand und rief aus allen Kräften „Ruhe!“. Die Laute verstummten für einen Augenblick. Die Familienoberhäupter standen auf und näherten sich dem Wachmann. Die entstandene Gruppierung bestand aus drei gestandenen Männern, davon verstanden zwei die Sprache des Dritten nicht und umgekehrt. Die Zigeuner drängelten: „Cat vrei, ma? Cat sa-ti dau?“ Einer zog aus der Hosentasche einen Ledergeldbeutel mit beneidenswert vielen Euroscheinen, die er dem Wachmann unter die Nase hielt, ihn einladend sie einzuatmen, ihn zwingend, sie anzunehmen. Der Wachmann trat überfordert zurück, schüttelte den Kopf als hätte er Läuse und rief noch einmal, fast ohne Puste: „Ruhe!“. Es wurde still. Der Wächter sprach etwas aus und verließ den Raum wieder. Ein spritziger Regen prasselte metallisch gegen die Fenster, hie und da bildeten sich kleine Wasserfälle, die auf die weiten Röcke der Frauen rollten. Die Nacht brach ein.

Am nächsten Tag wurden sie wie Kisten auf einen Lastwagen aufgeladen. Der Fahrer kam, wie versprochen, sie abholen. Die Kinder tobten in dem Wagen, Unartigkeit für die sie bedenkenlos gehauen wurden. Das junge Mädchen gab dem Jungen einen ersten Kuss. Unter der dicken Plane, roch es schwer nach menschlichen Substanzen.

Auf einem bepflanzten Feld, rechts auf der Fahrbahn, rastete der Wagen über Nacht. Die Kinder und deren Mütter schliefen ein. Das junge Mädchen wachte mitten in der Nacht auf und suchte das Feld mit einem bestimmten Bedürfnis. Es hörte in Vorbeigehen dem Fahrer beim Telefonieren zu. Es verstand nichts von dem, was er sagte. Das neue Land, das neue Leben versetzte es in Euphorie. Es war froh, es war verliebt. Es konnte der Versuchung nicht widerstehen, so pickte sich ein Wörtchen, das während des Telefonats ausgesprochen wurde aus und wiederholte es stolz, wie ein Papagei. In der Tiefe der Nacht, beim Urinieren, sprach eine junge Zigeunerin aus Rumänien den Busch vor ihr mit dem einfachen Begriff: „vielleicht“ an.

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Nicoleta Craita Ten’o  ist eine deutsch-rumänische Schriftstellerin. Sie besuchte die Schule von 1989 bis 1996 in ihre Heimatstadt Galați. Im Alter von 13 Jahren beendete sie abrupt ihre Ausbildung, und es wurde bei ihr Schizophrenie und Autismus diagnostiziert. Ihre Ausbildung blieb bei den ersten 7 Grundschuljahren. Im Jahr 2000 erschien Nicoletas erster rumänischsprachiger Gedichtband Durerea în durere piere. 2001 zog Nicoleta Craita Ten’o mit ihrer Familie nach Deutschland. Ihr Gesundheitszustand blieb unverändert.

2002 erschien im Verlag Editura Pro Transilvania aus Bukarest, Rumänien, Nicoletas Debüt-Roman Pe urmele Fefelegei… Im Oktober 2002 erschien der Gedichtband Cântece la moara timpului. Im Februar 2003 erschien Nicoletas viertes Buch, und zweiter Roman Rebel. Für Rebel erhielt Nicoleta Craita Ten’o 2003 den ersten Preis der jungen Autoren Prima Verba vom Verein der Rumänischen Schriftsteller. Im April 2010 veröffentlichte sie ihren ersten deutschsprachigen Lyrikband Haruka…, im August 2011 erschien der Gedichtband Drei Köpfe.