European Diggers

 

Thekengespräche haben vor allem für sich, dass man Gedanken entwickeln kann, welche etwas neben der Spur liegen. Dort darf man sich wilden Phantasien hingeben, ohne direkt als Spinner bezeichnet zu werden. Sogar gewisse politische Unkorrektheiten sind zugelassen, solange sie nicht in Richtung der Grenzen einer Geschichtsleugnung und Menschenverachtung zielen oder diese gar überschreiten, wie es jüngst in Frankreich bei einem Designer geschehen. Man kann sich nicht in rechts- oder linksradikalem Gedankengut irgendwelche hanebüchenen Schlüssel zur Zukunft zurechtfeilen, das wird zwangsläufig in die Hose gehen. Die Geschichte hat zu Genüge bewiesen, dass jede Form des diktatorischen Nationalismus und Internationalismus zu unmenschlichen, nein barbarischen Exzessen führt. Die Zeit zwischen 1914 und 1995, speziell aber zwischen 1933 und 1945, hat mit Millionen ermordeter oder traumatisierter Menschen in Europa die Folgen der Diktaturen gezeigt und immer noch viele leiden darunter. Ein modernes und vor allem humanes Miteinander sieht anders aus. Das muss an dieser Stelle nicht weiter ausgeführt werden.

Die meisten Thekengespräche greifen aktuelle Probleme auf und versuchen eigene Lösungswege zu gehen, dabei kommen sie zum Teil zu wagemutigen Ergebnissen, die im Normalfall wegen alkoholisch bedingter Amnesie am nächsten Tag vergessen sind, in Glücksfällen aber vielleicht von halbwegs nüchternen Zeitgenossen vernommen und eventuell sogar zur Grundlage einer lukrativen Idee werden.

Als Herr Nipp sich sein wohlverdientes alkoholfreies Weizen bestellte, war die Kneipe jedenfalls noch leer gewesen und er konnte sich in seine geliebte Arbeit vertiefen, er hatte sich ein Buch („Intimes Tagebuch“ von Henri-Frédéric Amiel), das neue halbleinene Notizbuch im Querformat, einen Bleistift zum Unterstreichen und seinen schwarzen Pelikan-Füller (das schönste Geschenk, welches er jemals erhalten hatte) mitgenommen, machte seine Exzerpte und Notate. Dafür war er wohl inzwischen bekannt und kaum jemand sprach ihn an, wenn er irgendwo saß, erst wenn das Arbeitsmaterial zur Seite gelegt worden war, kamen die Bekannten zu ihm an den Tisch, oft aber saß er auch einfach noch alleine ein Weilchen dort und beobachtete selbst unbeachtet die Gäste.

Irgendwann hatten sich am Nachbartisch drei Freunde eingefunden, der eine schon etwas älter, die beiden anderen noch recht jung. Sie hatten sich, unüblich für diese Sorte von Lokalen, in denen sonst nur Bier und Schnaps getrunken wurden, einen Rotwein bestellt, eine ganze Flasche sogar. Die Wirtin brachte diese mit freundlichem Lächeln und drei Wassergläsern, einen italienischen Negroamaro, den Herr Nipp noch niemals angeboten bekommen hatte. Dieser Wein schien nur für die drei reserviert zu sein. Schon nach einer Stunde wurde eine nächste Flasche bestellt und das Gespräch etwas lauter, so dass man, ohne allzu sehr lauschen zu müssen, das Hin und Her verfolgen konnte.

„…nein, das große Problem ist doch, dass wir im Müll untergehen…unsere Gesellschaft geht doch…“ „…das ist alles Quatsch, inzwischen haben wir das doch ganz gut im Griff…Mülltrennung schon alleine.“ „Ja klar, und dann wird alles zusammengekippt, in der Deponie, das ist doch wirklich Augenwischerei.“ „Stimmt doch gar nicht, inzwischen…“ „…wird thermisch verwertet, ja, man verbrennt alles und übrig bliebt Asche…ökologische Form der Stromgewinnung…“ „…und keiner will so eine Anlage in seiner Nähe haben…“ „…immerhin kann man aus der Asche prima Dünger machen…“ “ …und die Felder mit PAKs verseuchen und all den anderen Giften.“ Der Dritte schaltete sich erst jetzt in das Gespräch ein, er hatte sich bisher dezent zurückgehalten und lieber mehr von dem offensichtlich wohlschmeckenden Wein getrunken, doch jetzt waren auch seine sprachlichen Dämme gebrochen und er konnte sich frisch und frei in den verbalen Schlagabtausch einschalten. „Ihr müsst die Sache mal ganz anders denken, ich habe mir da so einen Plan zurechtgelegt und ihr könnt vielleicht mitmachen. Im Nachbardorf wurde doch Jahrzehnte lang der Steinbruch als Müllkippe genutzt, gut verfüllt und mit Erde abgedeckt.“ „Was kommt denn jetzt, willst du, dass wir dagegen demonstrieren?“ „Nein, Geld verdienen.“ Die beiden anderen schienen wie vom Blitz getroffen, schauten sich an und mussten herzhaft lachen. Ein solches Lachen kann man nicht erklären, es entsteht wahrscheinlich, wenn man die vermutete Blödheit des eigenen Gesichts in dem des Gegenübers entdeckt. „Ja, Geld verdienen, ist wahrscheinlich einfacher, als ihr euch das denkt. Wir müssten rund Fünfzigtausend investieren, aber das sollte sich schon nach wenigen Wochen wieder eingespielt haben.“ „Willst du eine große Glaskuppel darüber bauen und die entstehenden Methangase absaugen und als Biogas verkaufen?“ „Das könnte man zusätzlich machen, allerdings brauchte man dann noch einige Euronen mehr, meine Idee ist viel einfacher und vor allem einträglicher. Wir brauchen ein Einlass- und Kontrollhäuschen mit Wiegestation, alles recht edel eingerichtet, eben mit dem besonderen Flair. Einige einfache Werkzeuge, wie Schüppen, Spaten, Spitzhacken, für die Peniblen auch Handschuhe, natürlich Schubkarren und Eimer. Das war es.“ „Verstehe, du willst die Müllkippe ausbeuten und wir sollen für dich schuften.“ „Nein, viel besser, ihr sollt Teilhaber werden. Wir werden die Müllkippe als modernes Abenteurerparadies vermarkten. Innerhalb des Geländes werden Claims abgesteckt, diese kann man für einige Stunden oder einen ganzen Tag mieten und die archäologischen Schätze der jüngsten Vergangenheit bergen. Wir werden ganze Schulklassen dorthin ziehen, die mit ihren überengagierten Geschichtslehrern Forschungen machen, auch Hobbyarchäologen mit Metalldetektoren. Zunächst müssten diese natürlich Eintritt bezahlen, so je fünf bis zehn Euro, dann könnten sie sich Werkzeug leihen, für weiteres Geld und alle Fundstücke, die mitgenommen werden, würden nach Gewicht bezahlt.“ „Nach einigen Jahren hätten wir Müllionen verdient.“ „Ich würde auf jeden Fall einen Schnellimbiss integrieren, vielleicht Mäcces, das passt doch.“ „Väter würden mit ihren Söhnen ganze glückliche Wochenenden dort verbringen und selig über die Fundstücke schwadronieren, vielleicht eine Radkappe eines Opels aus den fünfziger Jahren.“ „Oder ein ganzes, aber verrostetes Bonanzarad aus den späten Siebzigern.“ „Natürlich müsste man mit solchen Floskeln wie ultimatives Abenteuer, Schatzsucher, Goldgräber werben.“ „Und wenn die Müllhalde ihren Reiz für diese Klientel verloren hätte, was normalerweise nach zehn Jahren eintreten dürfte…“ Einer der drei bestellte die dritte Flasche. „…dann werden wir aus ganz Europa willige Arbeitskräfte anwerben, die als Ich-AGs dort Schürfrechte erwerben könnten und die gefundenen Metalle vorsortiert an uns verkaufen.“ „Ja, aber die dürften sich nicht über die Glasvorkommen hermachen, das wären dann Sonderrechte, die einzeln zu erwerben wären.“ „…wir wären die Jobmaschine der Zukunft, vielleicht könnten irgendwann auch Ausbildungs- und Studienberufe daraus entstehen, wie zum Beispiel Rückgewinnungsmechaniker, Haldenmanagement, Recyclingingenieurwesen oder Zweitverwertungstechniker.“ „Ja, und alle unter dem Dachverband der EUROPEAN DIGGERS, denn auch die anderen Müllkippen in Europa hätten wir bis dahin unter unseren Fittichen.“

In diesem Moment setzte sich ein Freund zu Herrn Nipp und er konnte dem Gespräch nicht weiter folgen.

 

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Das Mittelmaß der Welt, unerhörte Geschichten von Herrn Nipp, dokumentiert auf KUNO 1994 – 2019

Weiterführend → Zu einem begehrten Sammlerstück hat sich die Totholzausgabe von Herrn Nipps Die Angst perfekter Schwiegersöhne entwickelt. Außerdem belegt sein Taschenbuch Unerhörte Möglichkeiten, daß man keinen Falken mehr verzehren muss, um novellistisch tätig zu sein. Herr Nipp dampft die Gattung der Novelle konsequent zu Twitteratur ein. Und außerdem präsentiert Haimo Hieronymus die bibliophile Kostbarkeit Über Heblichkeiten, Floskeln und andere Ausrutscher aus den Notizbüchern des Herrn Nipp. Begleitendes zur Veröffentlichung des Buches Fatale Wirkungen, von Herrn Nipp (Mit Fotos von Stephanie Neuhaus). Über die historische Aufgabe von Herrn Nipp aus Möppelheim.

Zum Thema Künstlerbucher lesen finden Sie hier einen Essay sowie ein Artikel von J.C. Albers. Vertiefend auch das Kollegengespräch mit Haimo Hieronymus.

Diese bibliophile Kostbarkeiten sind erhältlich über die Werkstattgalerie Der Bogen, Tel. 0173 7276421