Die maltesische Eisläuferin Maria Cassata, die wegen ihrer hohen Sprünge und schnellen Drehungen auf dem Eis vom Publikum gefeiert, von der Jury aber stets gefürchtet war, weil keiner hinter das Geheimnis ihrer Kunst kam – während ihres Fluges über dem Eis erschien sie in der Luft wie eine eingefrorene Bewegung, die bis zum Schluss des Tanzes nicht mehr aus den Augen verschwand -, errang nie einen Sieg bei Weltmeisterschaften oder olympischen Spielen, denn die Wettkampfrichter konnten das Wunder ihrer Verwandlung auf dem Eis aus Neid und Missgunst oder wegen nationaler Begünstigungen nicht anerkennen, auch der Vorwurf der Korruption wurde oft erhoben. Die schöne Frau aber, weißhäutig wie das Eis, wurde mit jedem Lauf gegen die ungerechten Richter immer stärker, immer vibrierender gelangen ihre Sprünge durch die Luft, immer gewagter wurden ihre Flüge, noch gefährlicher ihre Drehungen und Kreisbahnen, noch gedehnter die Zeit außerhalb aller Wahrscheinlichkeit – und immer wahrer verschmolzen Wirklichkeit und Idee.
Bei ihrem letzten Wettkampf, als die ganze Welt auf den Fernsehschirmen den Tanz der großen Eiskünstlerin verfolgte, die ihren Abschied mit der seltsamen Bemerkung angekündigt hatte, sie werde in einem unwiederholbaren Auftritt das Rätsel ihres Zaubers endgültig offenbaren ohne es zu verraten, stieg Maria Cassata, die in so gewaltigen Schritten die Schlittschuhe ins Eis stach, dass kleine Eiswolken meterweit gegen die Scheinwerfer wirbelten und alle Töne in der Halle erstickten, wie von Engeln gezogen in die Höhe, drehte die im grellen Raum schwirrende und sternenhaft gleißende Spitze ihres Fußes wie ein Schwert zu den Köpfen ihrer Richter, fuhr ihnen damit über die Augen und schnitt ihnen die ungläubigen Blicke heraus. Als die kleinen Kugeln auf dem Spiegel der Arena ausrollten, zischte leise das Eis. Dann zitterte der ganze Raum. Der spitze Schrei aus zwanzigtausend Hälsen zerschlug die Luft. Alles stand plötzlich still, als in allen Kehlen die Stimmbänder rissen. Die Augen schrien weiter, sahen Maria immer noch über den Köpfen, die sie zerschnitt. Die Augen schrien lauter, als Maria mit einem riesigen Schwung zurück aufs Eis glitt und in einer Pirouette zur Form erstarrte.
So schnell drehte sich ihr Körper auf dem Schwert, dass das ganze Blut nach außen schoss. Als es die Haut durchdrang, zerstäubte das Blut in der Luft, mit der es sich verband. Kein einziger Tropfen floss ins Eis.
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Kritische Körper von Ulrich Bergmann, Pop Verlag Ludwigsburg, 2006
Weiterführend → Lesen Sie auch zum Zyklus Kritische Körper den Essay von Holger Benkel.