Herzblut

M. filmte die Tötung mit einer auf einem Stativ montierten Videokamera. Die Aufzeichnung zeigt, wie er die Halsschlagader aufschlitzte. Das Blut spritzte im Strahl heraus. Der Puls stand in die Luft geschrieben. Als wollte der Körper Nein sagen, als die Seele starb, schlug der Kopf des Sterbenden nach allen Seiten um sich, wild im Schmerz.

Ein fetter Fisch am Haken! Die Barbe springt hoch aus dem Wasser, aber der Haken bleibt im Maul. Der Fisch taucht tief ein und zerrt die Angel mit. Ich schlafe schon, sitze taub auf meinem schiefen Hocker an der Ufermauer. Die Themse strömt langsam vorbei. Die Rute halte ich fest in der Schlinge, der Fisch reißt und lässt nicht locker, springt schon wieder in die Luft und stürzt sich mit der Wunde in die Tiefe. Ich seh das nicht. Ich denk mir alles nur. Im Taumel will ich hoch und mit den Armen sehen, was passiert. Ich stehe auf, da kippt der Stuhl nach vorn, ich verliere den Halt und wache auf, als ich schon tot bin. Das Herz steht still, der Angler fiel ins kalte Wasser und starb sofort, das Blut erfror im aufgerissenen Hals, der schrie nicht eine Silbe mehr. Ich will nicht mehr. Ich bin selber so ein Fisch, ich fing mich täglich aus dem Nichts. Warum soll ich mich fressen? Das stillt meinen Hunger nicht. Ich schmecke mir nicht, ich muss mich übergeben, wenn ich zubeiße. Ich hing Tag und Nacht am Haken, immer wund von mir selbst. Der Angler soll mich endlich fangen und totschlagen. Pack mich am Schwanz und hau den Kopf aufs Steinpflaster, bis das letzte Gefühl aus den Schuppen tropft. Ich will nicht mehr schwimmen und tauchen, will nicht mehr nach Luft schnappen. Ich will in meine Falle beißen. Ich weiß, Angler, du bist verrückt, wie ich. Du brauchst meinen Tod, damit du noch ein bisschen leben kannst. Du willst mich auffressen, dein Hunger braucht mein lebendes Fleisch. Du lebst aber nicht wirklich. Du träumst, du lebst. Du schreist nach Wirklichkeit, das ist deine Sucht. Dein Rausch wird kurz sein. Ich kenne mich aus.

M. brachte einen Becher Wasser in den Gerichtssaal um den Richtern die Blutmenge zu zeigen, die aus dem Hals strömte, als er zustach. Das Blut floss auf den Glastisch und bildete eine Lache. So groß wie ein Handtuch, sagte M., kein Tropfen rann zu Boden. Er goss im Gefängnis Kaffee auf die glatte Holztischplatte in der Zelle, handtuchgroß, genau die Menge, die im Videofilm zu sehen war, kippte den Tisch leicht an und fing die zitternde Fläche im Becher wieder auf. Das waren keine hundert Milliliter!, sagte er… Serotonin regelt Schmerzwahrnehmung und Aggressivität. Unter Dauerstress, etwa Vereinsamung, kann bei gestörter Serotonin-Produktion aggressives Verhalten stark ansteigen. Archaische, in den Genen angelegte Verhaltensmuster werden aktiviert. Ausgestorben schien das tief schlafende Verlangen, das sich vor Jahrtausenden austobte, wenn die Krieger Gehirn und Herz der besiegten Feinde aßen und ihr Blut tranken… Du zerstörst dich härter, wenn du mein Herz isst. Ich sehe, wie das alles passiert. Du nimmst meinen Tod mit der Kamera auf. Du glaubst es erst, wenn du dich erinnerst, du begreifst die Wirklichkeit erst, wenn sie dich anfasst, wenn die Richter dich verurteilen. Mein Fall ist dein Fall. Mein Hals ist dein Kelch, den du austrinkst. Ich will keine Betäubung, ich muss wissen, dass ich tot bin, auch wenn ich mich nicht erinnere wie du. Ich will nicht mehr leben, wenn ich tot bin. Das ist der große Unterschied zwischen dir und mir.

M. war das Instrument seines Opfers, dachten die Richter, aber das galt umgekehrt genauso. Er hatte sich das schriftlich geben lassen. Der Fisch wollte getötet werden. Es störte ihn nicht, dass der Angler seinen Tod filmte, im Gegenteil, das machte den Tod noch notwendiger. Ich durchschaue das. Ich erkenne meinen Hass auf mich. Er ist der hinreichende Grund für meinen Tod. Er ist schon im Leben ein Stück meines Todes. Ich lebe nicht weiter in dem Angler, der mir egal ist, der doch auch nicht leben kann. Der frisst mich auf und denkt vielleicht, er kaut sich selbst.

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Kritische Körper von Ulrich Bergmann, Pop Verlag Ludwigsburg, 2006

Ulrich Bergmann bezeichnet den Zyklus Kritische Körper als ‚Criminal Phantasy’. Der Leser findet in diesen Kurzgeschichten eine für diesen Autor typische Montagetechnik, unterstützt durch einen imagistischen Bildgebrauch und die Verwendung extremer Bilder. Von der Figurenzeichnung bis zum Handlungsablauf ist jederzeit klar, wie in diesem Zyklus die moralischen Grenzen verlaufen. Bergmann schreibt gegen den drögen Realismus der modernen Literatur an, und in der Tat besteht das Realistische seiner Literatur darin, das Grausame in seine Texte einfließen zu lassen, wobei sie plausible Beschreibungen des Innen und des Außen seiner Figuren auch ins Fantastische verlängern. Er erklärt uns eine Welt, in der sich die Bedeutung der Wirklichkeit nicht an der Oberfläche erschließt. Der Leser muss sich selber von der Abgründigkeit überzeugen.

Weiterführend → Lesen Sie auch zum Zyklus Kritische Körper den Essay von Holger Benkel.