Zischender Zustand · Mayröcker Time

Ja, ich fühle mich nur am Leben, wenn ich schreibe. Seit ich 15 bin, explodiert es jeden Tag in mir. Mein Kopf ist so voll, und alles muss raus, ich kann nicht anders.

So oder ähnlich hat Friederike Mayröcker sich immer wieder in Unterhaltungen mit Freunden, Kollegen, Redakteuren und anderen Zeitgenossen geäußert. Das per se nicht anzuzweifelnde Statement wird zusätzlich ›beglaubigt‹ durch das Füllhorn publizierter Bücher : Die 1924 geborene, in Wien lebende Schrift­stellerin hat hundert und mehr Lyrik-, Prosa-, Hörspieltitel veröffent­licht und dabei Gedichte und Proëmegeschrieben, die wortwährend an Dynamik, Komplexität, Lebendigkeit, Magie, Origi­nalität, Verve gewonnen haben und sich wie selbst­verständlich auf dem Hochplateau globaler Dichtkunst behaupten.Nach 2000 erscheint in rascher Folge Buch um Buch, und das nächste ist bereits – für 2018 – angekündigt. Schon 1979 tut Ernst Jandl einen Ausspruch, der sich heute, wir schreiben derweil das Jahr 2017, als geradezu visionär erweist :

Während wir nun fast ein Vierteljahrhundert Hand in Hand dahinschreiten (wobei nicht verschwiegen werden soll, daß sie mich zuweilen wie einen ungezogenen Jungen hinter sich herschleppen muß), ist ihre Kraft und Zuversicht gewachsen, und ihre Dichtung hat […] eine meinen Hals ausrenkende Höhe erreicht, die so sehr weiter zu steigern ihre Absicht ist, daß sie das Alter von 150 zu erreichen proklamiert hat.

Oder sollte das doch tollkühne Schwärmerei des offenbar immer noch Hals über Kopf verliebten Lebensgefährten gewesen sein? Von wegen! Ob mein Herz, mein Zimmer, mein Namevon 1988 oder brütt oder Die seufzenden Gärtenvon 1998, ob dieses Jäckchen (nämlich) des Vogel Greifvon 2009 oder die 2013, 2014 und 2016 erschienene Trilogie études· cahier· fleurs: Ein Wurf jagt den nächsten. Mir geht es beim Lesen dieser Bücher, was für 1 Wahnsinn und Wahnwitz und Irrwitz, (sowie den rund fünfzig weiteren, die ich seit 1991 gelesen habe, als ich mit Winterglückerstmals die hohe Sprachkunst der Friederike Mayröcker erlebe) wie Franz Schuh, der 1999 notiert :

In dem Maße, in dem das Schreiben für Mayröcker eine Sucht ist, erzeugen ihre Schriften einen berauschenden Sog. Wer seine fünf Sinne zusammenhalten will, kann diese Schriften hassen […]. Ich finde in ihnen ein schönes Gleichgewicht von Einfach­heit und Verrückt­heit. ›Verrückt­heit‹ meint die Erlösung vom Normalsinn durch die Mesalliancen der poetischen Freiheit.

Nach 2000 nimmt die Zahl der Bücher, die ich mir von Friederike Mayröcker zu Geblüte führe, tüchtig zu, bis ich eines Tages Bensch und Kraus gegenüber einge­stehen muß, süchtig nach dem Mayröcker­sound zu sein, und so kommt es, wie es kommen muß, zu ersten feinen Explo­sionen: Fasziniert von der Wortbild­zwie­sprache in ich bin in der Anstalt· Fusznoten zu einem unge­schriebenen Werk, beginne ich im August 2010 (plan- und vorsatz­los) den einen oder anderen Gedanken­splitter zum Gelesenen zu notieren, montiere auf diese zunächst eher beiläufige Art nach und nach den ersten Essay zum Werk Friederike Mayröckers nach 2000, für den ich als Titel das Mayröcker­zitat Bettlerin des Worteswähle.

In der Folge verfertige ich weitere Essays und Gedichte, in denen die Lektüre der nach 2000 geschriebenen Mayröcker­bücher sehr (oder weniger) un/sicht/bare Spuren hinterläßt. Diese sind zum größten Teil in den Literaturzeitschriften »Freibord«, »Kritische Ausgabe«, »manuskripte«, »Matrix«, »Triëdere«, in den Sammelbänden »Dem Meister des langen Atems · Paulus Böhmer zu Ehren«, »FREUDEN­ALPHABET · Eine Antho­logie kommuni­zie­render Poesie«, »HAB DEN DER DIE DAS · Friederike Mayröcker zum 90. Geburtstag«, »Versnetze · Deutschsprachige Lyrik der Gegenwart« sowie den lite­rarischen Online­portalen »Fixpoetry«, »Kulturnotizen« und »Poetenladen« erschienen. Mit jedem neu ge­schriebenen Text, jeder – insbesondere für dieses Buch ausgeführten – Aktua­lisierung, Erweiterung, Über­arbeitung, Neufassung habe ich mehr und mehr erkannt, daß die Essays und Gedichte zum einen als eigen­ständige Elemente gelten, im Kern jedoch zusammenhängende Bausteine eines inter­textuell geprägten Gebildes sind,das mit dem Buch »Zischender Zustand · Mayröcker Time« die ent:sprechende Form gefunden hat.

 

 

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Zischender Zustand . Mayröcker Time von Theo Breuer. Reihe Lesezeichen Band 1 – POP VERLAG, 2017

Friederike Mayröckers Texte radikalisieren die Frage nach der Autorschaft. Sie suchen nicht nach einer Personalisierung, sondern führen eine Bewegung in den Text ein, die den Ursprung der Rede  unbehaftet läßt. Bei ihr wird das Konzept der Herrschaft über einen Text zugunsten einer unüberschaubaren – nur zeitweiligen – Perspektivierung aufgelöst. Mayröckers „Liebesspiel mit der Sprache“ kennt keine logischen Grenzen, es sucht und findet „das zärtliche Durchwachsensein grenzüberschreitender Honigkeiten“. Daß diese sprachlich avancierte Lyrik eine starke Wirkung auch auf die jüngeren Autorengenerationen ausübt, ist nicht verwunderlich. In sprachreflexiven Gedichten österreichischer und auch deutscher Lyriker (wie beispielsweise Thomas Kling und Sophie Reyer) ist ihr Einfluß spürbar. In Mayröckers Texten ist Autorschaft keine in der Verkleidung einer Erzählung mit Figuren und deren Entwicklung verborgene Frage, sondern artikuliert sich in der Frage nach Herkunft, Status und Professionalität des Schreibens. Diese Befragung möglicher Autorschaft wird von Theo Breuer in seinem Gebrauchslesebuch als Hyperautorschaft gelesen. Dieser Zischende Zustand ist eine spektakuläre, hyperaktive Hommage, die zu explodieren scheint vor Einfällen, Einsprengseln und Meta-Reflexionen und es doch immer wieder schafft, Inseln zum Verharren in den sprudelnden Textfluß einzubauen. So elegant und witzig kann eine schreibende Selbstvergewisserung sein, und ebenso geistreich und anregend ist dieses journalistische Produkt. Die beim ersten Band in der Reihe LESEZEICHEN versammelten Texte sind literarische Kleinode und damit das Beste des Genres; kaum einer Reflexion gereicht das hohe Tempo, das typisch für das Feuilleton ist, zum Nachteil. Niemand wird an diesen essayistisch-poetischen Reflexen einer Mayröckerrezeption (und immer wieder darüber hinaus) vorbeikommen – außer Stan Libuda.

Weiterführend →

Auf KUNO finden Sie auch den Rezensionsessay von Holger Benkel über Friederike Mayröcker. – Einen Essay über das Tun von Theo Breuer lesen Sie hier.

 Poesie zählt für KUNO weiterhin zu den identitäts- und identifikationstiftenden Elementen einer Kultur, dies bezeugte auch der Versuch einer poetologischen Positionsbestimmung.