Der Old Monk ist zu warm, die tropische Nacht ist genau richtig. Adam und ich sitzen auf der Ufermauer an der Promenade, die sich vom Gateway of India-Monument das Ufer entlang in den Stadtteil Colaba zieht.
Links klatschen die Wellen gegen den Stein, rechts von uns ziehen Inder und Ausländer aus aller Welt vorbei. Alles, was die Stadt zu bieten hat: Musiker und Tänzerinnen, Flitterwöchner und Sextouristen, Huren und Heilige, Dealer und Polizisten. Ein perfektes Bild.
Etwas weiter am Straßenrand schiebt ein Mann lange Stangen Zuckerrohr in eine Maschine. Ein zweiter dreht eine Kurbel, die einen Mechanismus bewegt, der im Inneren der Maschine den Saft aus den Stangen presst.
Solche Stände findet man in Mumbai in allen größeren Straßen und mindestens einen in jedem Basar. Ich kaufe ein Glas mit gelbem Sirup, um die Sache mal zu testen. Ich schwenke die klebrige Flüssigkeit in dem trüben Glas umher, während um mich herum einige Inder aufmunternd die Köpfe wackeln lassen. Zögernd nehme ich einen Schluck.
Zu süß. Viel zu süß für meinen Geschmack. Ich zwinge mich zu einem Grinsen und nicke anerkennend. Um mich herum wird applaudiert.
Dann mit dem Taxi und der fast leeren Flasche Old Monk nach Norden ins Bandra-Viertel in irgendeinen neuen Club, den Adam testen will. Wir überqueren einen der Prestigebauten Mumbais, die riesige Hängebrücke, die sich elegant über die Bucht schwingt. Durchs Fenster trägt der Fahrtwind die feuchte Nacht herein; aus dem Radio plärrt Hindipop, der Sound des neuen Indiens.
Der Verkehr ist die Hölle, wie immer. Es ist schlimmer als Bangkok, schlimmer als Mexiko-Stadt. Kairo kann ähnlich grauenhaft sein, aber hier fahren auch noch alle auf der falschen Seite. Und es gibt viel mehr Arten von Verkehrsteilnehmern. Nichts übertrifft die Vielfalt von Autos, Motorrädern, Rikschas, Rollern, Fahrrädern, Eselskarren, Handkarren, Fußgängern, Hunden, Katzen, Ziegen, Kühen und Ratten, die auf Mumbais Straßen unterwegs sind.
Man hat nie mehr als zwei Zentimeter Platz zwischen sich und dem nächsten Verkehrsteilnehmer. Das Konzert aus Motoren, Hupen und Schreien ist ohrenbetäubend, und wenn die Leute hier keine Hindus wären, gäbe es hunderte Tote am Tag.
Macht mir das Angst? Macht es nicht, denn wir fahren mit Schutzzauber an der Stoßstange (Blumen und Chilis) und sicherheitshalber auch noch einem Schrein auf dem Armaturenbrett. Denn was dem Deutschen sein Wackeldackel, ist dem Hindu-Fahrer sein Armaturenbrett-Schrein.
Das Seltsame daran: Im Land des Kopfwackelns wackelt es neben dem Lenkrad nicht; das können nur die deutschen Dackel. Das Gute daran: So ein Götterschrein schützt vor Unfällen, Überfällen und anderen Widrigkeiten im indischen Straßenverkehr; und das können die deutschen Dackel nicht.
Ich vertraue also auf die schützende Kraft der Hindugötter, mache aber trotzdem dann und wann die Augen zu, um den drohenden Zusammenstoß nicht sehen zu müssen.
Linksverkehr – okay, damit komme ich klar. Womit ich nicht klarkomme, ist absolute Anarchie auf den Straßen. Das obligatorische Hupkonzert macht mir nicht viel aus, auch nicht die Fahrräder, Rikschas, Handkarren, Ziegen und Kühe. Aber hier wird gedrängelt, geschoben und gerammt, man droht sich gegenseitig mit dem Stock und geht überhaupt jedes Risiko ein, um nur ein klein wenig schneller ans Ziel zu kommen. Ich sehe hier genau genommen auf den meisten Taxifahrten alle paar Minuten dem Tod ins Auge.
Das Fahrverhalten der Inder lässt sich nur so erklären: Als Hindu hast du eben nicht nur ein einziges Leben, sondern wirst wiedergeboren und kannst nach deinem Hinscheiden bei einem Autounfall in einem neuen Körper von vorne starten. Nur ganz kurz vor deiner Erleuchtung wäre der Tod im Verkehr also wirklich tragisch, und bis dahin kannst du als Autofahrer ein Risikoverhalten wie beim Russisch Roulette an den Tag legen.
Leider bin ich aber kein Hindu! Ich habe nur dieses eine Leben und hänge daran.
Vor dem Club, den Adam auserkoren hat, wartet eine Riesenschlange. Das wird ewig dauern. Adam versucht, einen Typen in der Schlange zu bezahlen, damit er uns seinen Platz in der Reihe überlässt. Macht der Typ aber nicht, stattdessen bietet er uns afghanisches Kokain an.
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Der dreibeinige Hund lacht. Ein authentisches Roadmovie und eine Ode an Indien, den Rausch und die Liebe, von Philipp Baar. Edition Subkultur, 2019