Titel und Untertitel des voluminösen Romans erwecken sicherlich die Aufmerksamkeit von Liebhabern kaukasischer Literatur, wenngleich die Zugabe zum Nachnamen des Protagonisten Tutaschchia, in Anlehnung an die altgeorgische Gottheit Tutaschcha, das megrelische Wort für ‚Tag des Mondes‘, auf den ersten Blick einer tradierten deutsch- romantischen Heldenverehrung geschuldet ist. Doch eine solche Vermutung führt die Erwartungen der Leser in die Irre. Tschabua Amiredschibi (1921 bis 2013), wie uns die georgischen Herausgeber und die Übersetzerin Kristian Lichtenfeld bereits auf Seite 2 des vorliegenden Romans verkünden, habe dieses „ungewöhnliche Meisterwerk“ offenbar noch während seiner 16 Jahre währenden Verbannung in stalinistischen Lagern zwischen 1944 und 1960 erdacht. Amiredschibis Familie wurde bereits 1937 in Tiflis während der schlimmsten Terrorwelle in der Sowjetunion verhaftet, er selbst sieben Jahre später zu 25 Jahren Haft in Sibirien verurteilt. Trotz mehrerer Gefängnisausbrüche und zweimaliger Todesurteile gelang ihm die Rückkehr in seine georgische Heimat. Dreißig Jahre später war er Vordenker und Protagonist der georgischen Unabhängigkeitsbewegung und 1992 Mitglied des Parlaments.
Ein solcher von Tragik und brutaler Entrechtung menschlicher Existenz gezeichneter Lebenslauf hätte manch anderen Autor bewogen, ein von Dramatik gezeichnetes Oeuvre über seine Leidensorte zu schreiben. Doch eine solche Erwartungshaltung enttäuscht den Liebhaber „edler“ Räuberromane gründlich. Der Ich-Erzähler führt uns zunächst – nach einem kurzen Traktat über die sinnvolle Tätigkeit des schöpferischen Menschen – in den Tifliser Stadtteil Sololaki, wo er uns den Grafen Szegedy, einstmals Chef der Kaukasischen Gendarmerie, vorstellt. Ein „hochgewachsener, hagerer Greis mit einem „von Falten durchfurchte(n) Gesicht“, der ihn sieben Jahre in der deutschen Sprache unterrichtet habe. Er starb friedlich und hinterließ eine Vielzahl von russischsprachigen Manuskripten, die die Grundlage für die Lebensgeschichte „eines Räubers, eines Abragen“ bildeten. In der Figur des ‚Abrage“, ein aus dem ossetischen abreke stammender Begriff für Freiheitskämpfer, kristallisierte sich für den Erzähler jener Data Tutaschchia heraus, der in den 1880er Jahren als Räuber und Helfer der Armen in einigen georgischen Provinzen zwischen Tiflis und Poti am Schwarzen Meer auftritt, von der Gendarmerie verfolgt, und ihr immer entschlüpft.
Der Erzähler verwendet zahlreiche Textarten, um seine Zielfigur mit immer neuen Akzenten zu versehen. Zunächst erzählt Graf Szegedy über die Umstände, die Data zwangen als Freiheitskämpfer, als Abrage, in die Berge zu gehen. Dann wechselt der Erzählstrom zu den Tagebüchern des Leutnants Andrijewski, den Data tötete, weil der gegenüber seiner Schwester Ele Tutaschchia, „einen unbedachten Schritt“ unternommen hatte. Es folgen weitere Textabschnitte, wie ein Vernehmungsprotokoll über das Duell zwischen Tutaschchia und Andrijewski, ein Rapport über die polizeiliche Verfolgung von Data mit dramatischen Akzenten. Zwischendurch lesen wir den Bericht über Data, wie er vier Jahre im georgischen Untergrund verbringt, der Polizei manches Schnippchen schlägt und vom Volk bewundert wird. Weitere Berichte erzählen davon, wie sich Data als Handlanger von Bauern durchschlägt, den eisig kalten georgischen Winter überlebt, wie er hinterlistige Wucherer bestraft oder als Rächer der armen Bergbevölkerung auftritt. Die mit immer neuen Akzenten versehenen Erzählungen, vorgetragen aus der Perspektive unterschiedlicher Personen verleihen dem Roman eine vielschichtige narrative Struktur. Besonders aufschlussreich sind dabei auch die Berichte über die Bestechlichkeit der zaristischen Polizei, die Graf Szegedy in seinen Aufzeichnungen hinterlasse hatte. Sie benutzt der Erzähler, um die zahlreichen Aussagen über den legendären „edlen“ Räuber mit phantasiegeladenen Begegnungen auszuschmücken. Darunter waren auch die Plaudereien seiner Wirtin über diesen Data Tutaschchia, dem sie nicht nur Wollsocken gestrickt habe, sondern mit dem sie angeblich auch ein kurzweiliges Liebesverhältnis gehabt habe.
Die Tatorte wechseln ständig. Unter ihnen zeichnet sich vor allem eine Gefängnisrevolte mit anschließendem Ausbruch aus. Die lebendige Schilderung von Erniedrigungen, Berichten über Verbannung und brutalen Strafexerzitien sind in solchen Passagen sicherlich auf die Erfahrungen des Autors aus stalinistischen Gefängnissen zurückzuführen. Solche Passagen verweisen auch auf die wachsende revolutionäre Stimmung in vielen Provinzen des Zarenreichs am Ende des 19. Jahrhunderts hin. Doch die Vermutung, Data sei ein politischer Revolutionär gewesen, weist der Erzähler immer wieder zurück. Obwohl er an einer Reihe von Überfällen auch auf Polizeiposten beteiligt war, verknüpfte er seine Taten nicht mit explizit politischen Absichten. Selbst sein Tod bleibt legendär. Die einen beschwören, er habe sich das Leben genommen, die anderen behaupten, er sei auf einem Boot in die Türkei geflohen. Ein edler Räuber also, der stets für die Benachteiligten, die Ausgebeuteten da war und über den Tod hinaus lebt? Also eine idealisierte Gestalt, deren legendenreiches Leben bereits 1978 verfilmt wurde. Diesem Film ist auch die attraktive Abbildung des edlen Räubers auf der Titelseite des Romans entnommen. Ernst blickt er uns an, vor den Gestaden des Kaukasus und dem angeleuchteten Mond. So als ob uns sagen will: es erwarten euch rund 700 Seiten Übersetzung, in der Übertragung aus dem Georgischen von Kristiane Lichtenfeld, eine marathonreife Leistung, multipliziert mal einige tausend Stunden. Ob es allerdings ein Meisterwerk der georgischen Literatur des 20. Jahrhunderts geworden ist, mögen diejenigen entscheiden, die sich durch die zahlreichen übersetzten Prosawerke aus der kaukasischen Bibliothek des Pop-Verlags gelesen haben oder aus ihrem georgischen Blickwinkel ihre Stimme erheben.
Die Seite 7 veranlasst einen aufmerksamen Leser nach der Herkunft von Tutaschcha zu fragen, denn der edle Räuber vom Kaukasus ist schließlich der Namenträger der altgeorgischen heidnischen Gottheit, wie er auf Seite 685 erfährt. Tuta sei der Mond, „eine männliche, starke, kämpferische Gottheit“, die besonders in der westgeorgischen Provinz Megrelien verehrt“ wurde. Von ihr habe der Autor Tschabua Amiredschibi den Namen seines Helden abgeleitet. Also ein romantisches Heldenepos? Ja und nein.
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