ich laufe an schilf entlang durch einen versumpften wald. plötzlich ragt ein brunnen vor mir auf, der wohl von einer wüstung übrig blieb. ich steige in ihn hinab, ohne recht zu wissen, was ich darin suche. der vertikale abstieg ist bald versperrt und ich muß horizontal weiterkriechen. dabei habe ich einen schwefligen geruch in der nase, erblicke ein helles, doch sehr fernes licht vor mir und bewege mich an einer zähe fließenden, schmierigen und übel riechenden flüssigkeit entlang, die sich als abwasser erweist.
im nächsten augenblick sehe ich meine organe neben mir pulsieren und begreife, sie haben entweder meinen körper verlassen, oder ich bin, was mir wahrscheinlicher scheint, in ihn versunken. ich beschließe, mich nicht darum zu kümmern, und gleite weiter voran. aus den rohren, die mich umgeben, weht mir kalte luft entgegen. da ich über mir ich das kreischen von schwalben höre, die nahe am erdboden fliegen, um insekten zu fangen, ahne ich, daß ich mich nur knapp unter der erde befinde. ich presse mich gegen die steinplatten und versuche, den boden über mir aufzubrechen, was mir nach und nach gelingt. ich schaue nun aus der röhre. doch ich kann keine freude darüber empfinden. denn während ich immer noch festsitze, ragt mein kopf wie eine zielscheibe aus der erde, und ich fürchte, jeden moment könne jemand kommen und ihn, der sich über meinen körper erhoben hat, kurzerhand abschlagen.
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Traumnotate von Holger Benkel, KUNO, 2020
Die Frage nach der besonderen Kompetenz der Dichter für die Sprache und die Botschaft der Träume wurde durch Siegmund Freud fundamental neu gestellt. Im 21. Jahrhundert ist die Akzeptanz des Träumens und des Tagträumens weitaus größer als noch vor hundert Jahren. Träumen wird nicht mehr nur den Schamanen oder Dichter-Sehern als bedeutsam zugemessen, sondern praktisch jedermann. Gleichwohl spricht man den Dichtern noch immer eine ‚eigene‘ Kompetenz auf dem Gebiet des Traums zu – Freud sah sie sogar als seine Gewährsmänner an, mit Modellanalysen versuchte er diese Kompetenz zu bestätigen. Die Traumnotate von Holger Benkel sind von übernächtigter, schillernd scharfkantiger Komplexität.
In einem Kollegengespräch ergründeln Holger Benkel und A.J. Weigoni das Wesen der Poesie – und ihr allmähliches Verschwinden. Das erste Kollegengespräch zwischen Holger Benkel und Weigoni finden Sie hier.
fliegende wesen, Gedichte von Holger Benkel, erschienen in der Weberknecht-Edition, Magdeburg, 2018 – Ulrich Bergmann mit einer Rezension zum aktuellen Band.
kindheit und kadaver, Gedichte von Holger Benkel, mit Radierungen von Jens Elgner. Verlag Blaue Äpfel, Magdeburg 1995. – Eine Rezension des ersten Gedichtbandes von Holger Benkel finden Sie hier.
meißelbrut, Gedichte von Holger Benkel, mit siebzehn Holzschnitten von Sabine Kunz und einem Nachwort von Volker Drube, Dr. Ziethen Verlag, Oschersleben 2009. – Eine Rezension finden Sie hier. Ulrich Bergmann regte der Band zu einer Suche nach der Anderswelt an. André Schinkel liest darin Nachrichten aus der Knochenzeit.
Seelenland, Gedichte von Holger Benkel, Edition Das Labor 2015 – Benkel beweist als Lyriker in seinem Band Seelenland ein Gespür für das Unvertraute im Vertrauten, das Unheimliche des Alltäglichen, das Scheinhafte des Realen. Ulrich Bergmann denkt über den Gedichtband nach.
Gedanken, die um Ecken biegen, Aphorismen von Holger Benkel, Edition Das Labor, Mülheim 2013 – Benkels Gedanken, die um Ecken biegen gehen weiter als der geschriebene Text; sie sind kein Ende, sondern ein Anfang. Sie versuchen, diesen kleinen Rest an Sprache etwas aufzuhellen, und wagen es seine Ränder verstehbar zu machen.
Essays von Holger Benkel, Edition Das Labor 2014 – Einen Hinweis auf die in der Edition Das Labor erschienen Rezensionsessays finden Sie hier. Auf KUNO lesen Sie u.a. Rezensionsessays von Holger Benkel über die Brüder Grimm, Ulrich Bergmann, A.J. Weigoni, zur Lyrik von HEL = Herbert Laschet Toussaint, Haimo Hieronymus, Uwe Albert, André Schinkel, Ralph Pordzik, Friederike Mayröcker, Werner Weimar-Mazur, Holger Uske, Joachim Paul, Peter Engstler, Jürgen Diehl, Birgitt Lieberwirth, Linda Vilhjálmsdóttir, Sabine Kunz und Joanna Lisiak.