Dass die schwedische Popgruppe ABBA im Frühjahr 1974 beim Grand Prix Eurovision de la Chanson mit Waterloo den großen Abräumer macht, ist für Ben Schneider und seine Freunde aus Lippfeld am Rand des Ruhr-Potts ein echter Schocker. Sie stehen auf die fetzigen Rhythmen ihrer Helden Jimmy Hendrix, John Lennon, Keith Richards, Bob Dylan, Deep Purple. ABBA ist im Vergleich dazu, wie Ben seiner Susanna verächtlich die Meinung sagt, „eine Erfindung für Kleinbürger mit Plüschgarnitur und zu viel Ohrschmalz in den Gehörgängen.“ Was Susanna nicht daran hindert, sich den ABBA-Rhythmen mit wippendem Fuß hinzugeben. Kein Zweifel, da zeichnet sich zwischen Ben und Susanna eine musikalische Rhythmus-Störung ab, ebenso wie unter der jugendlichen Dorfgemeinschaft in Lippfeld. Die Studierten unter ihnen, wie Bens Bruder Paul, ein angehender Soziologe, meinen, ABBA sei nicht authentisch, zwei glattgebügelte Kostüme auf Plateausohlen wären das, einfach peinlich. Mehr noch, Verrat am Geschmack derjenigen, die voll auf die fetzigen und peitschenden Rhythmen der angesagten angloamerikanischen Revoluzzer-Gruppen abfahren. Doch je stärker ABBA im Sommer 1974 im Kommen ist, desto schwieriger gestalten sich die Liebesrhythmen zwischen Ben und Susanna. Vor allem weil wegen der spürbaren musikalischen Störungslinien zwischen beiden ihre gegenseitige Zuneigung einen höheren Aufwand an Gestik und Mimik erfordert. Doch Ben bleibt optimistisch, so wie die Stimmung in den Songs: Open up your heart and let the lovin’ start . Ganz wie Leser/innen, die ganz sicher sind, dass das Liebesband zwischen Ben und Susanna halten wird, selbst wenn erst mal der Zug nach Nirgendwo fährt.
Der neugierig gewordene Leser wird nunmehr auch in Bens intime familiäre Verhältnisse eingeweiht, erfährt, dass sein Vater Musiker ist, Humphrey-Bogart-Fan, Schlagzeuger und Alkoholiker, der Whiskey in einem Schnapsglas entflammen kann. Und weil es mit Susanna nicht so richtig läuft, taucht ganz unverhofft Mona auf. Sie setzt – nicht ganz überraschend – neben Manni auf einer Parkbank mit einer Slim-Size–Kim auf den Lippen, während Ben Mick Jaggers Mona hört. Überhaupt, es läuft vieles drunter und drüber in der Gefühls-und Anmach-Szene von Ben, Mona, Manni … und Susanna. Doch weil es bald Don’t let it be heißt, wirft Ben auch mal einen Blick in Nietzsches Zarathustra, denn sein Lebensmotto lautet nun: Fliehe, mein Freund, in Deine Einsamkeit! Zumindest bis zur nächsten Party und all den Gerüchten, wer mit wem es angeblich getrieben hat, wer mal wieder so besoffen war, dass …, wer bei wem in der Klassenarbeit über den Bellum Gallicum abgeschrieben hat, welcher Hit am besten rüberkommt. Und so ganz nebenbei erfährt man, dass Ben inmitten des ganzen Tohuwabohu sich auf die Aufnahmeprüfung im Fach Piano am Folkwang-Konservatorium vorbereitet und dort auch angenommen wird. Trotz Psycho-Stress mit seiner Susanna, die dennoch weiter zu ihm steht. Kein Wunder, die ABBA-Rhythmen sind bei ihr jetzt ganz in den Background gerutscht, und Ben, der nun auf allegro barbaro und Beethoven eingestimmt ist, braucht die Abwechslung. Spätestens jetzt wird der LeserIn klar, dass er sich in einer spannenden Biografie fest gelesen hat und voller Neugier und Spannung durch satte 346 Seiten hastet. Wilde Teeny-Partys, Gerüchte am laufenden Band, rasante Einblicke in die Hard Rock-Milieus aus Lippfelder Perspektive, Dorf-Kirmes, klassische Piano-Ausbildung am Essener Folkwang-Konservatorium, der Langzeit-Flirt mit Susanna samt Happyend, und die ständigen Treffs mit seinen vielen Kumpels werden lebendig, raffiniert, ironisch und sarkastisch präsentiert. Ein Debütroman? Andreas Heidtmann, 1961 in Hünze geboren, zwischen Ruhrgebiet und Münsterland, Ausbildung als klassischer Musiker, Germanist, Lektor, Verleger ist ein begnadeter Erzähler, dem es gelingt, die oft beklagte Distanz zwischen Unterhaltungskultur und klassischer Hochkultur spielend zu überbrücken. Dabei greift er zurück auf die in den 1970er Jahren – nach der 1968-Revolte – sich abzeichnenden kulturelle Verschmelzung von hard rock-Musik, rhythmisch geglätteter Unterhaltungsmusik und klanglich überzeugenden Einschüben in die klassisch-akademische Konzertszene. Diese dreidimensionalen Sphären verbindet der Autor mithilfe geschickt montierter Dialoge, anschaulicher Milieuschilderungen, eleganten „Schlänkern“ zwischen Ich-Kommentaren und Autorrede, kulturkritischen Anmerkungen und häufigen Perspektivenwechseln. Auf diese Weise ist eine kultursoziologisch angereicherte Biografie entstanden, die einen quicklebendigen Einblick in die späten 1970er Jahre vermittelt und zugleich die oft beklagte Kluft zwischen Massen- und Hochkultur überwindet. Ein sogenannter Debütroman also, in dem die gebündelte Erfahrung von mehr als fünfzig Jahren bundesdeutscher Alltags- und Musikgeschichte steckt. Glückwunsch an den Autor und den Steidl-Verlag für sein wohlkalkuliertes Risiko!