Vor zehn Jahren starb Ioona Rauschan. KUNO ruft sie an als Regisseurin in Erinnerung, die Redaktion will sie darauf aber nicht reduzieren:
Filmemachen ist mein Brotberuf, Gestaltung meiner Denkweise, Literatur mein intimstes Dasein. Ich möchte mich durch das, was ich geschrieben habe, irgendwann definieren lassen können. Nun ist das Internet eine virtuelle Babelbibliothek, eine – zugegeben – kuriose, unerwartete Abwandlung der Borgesschen Vision. Für Borges war Literatur ein unendlicher Fluss und Schriftsteller die anonymen Quellen, die diesen ständig ernähren.
Ioona Rauschan (1955 – 2010)
Die Novelle Die schöne Strickerin ist das späte Debüt von Ioona Rauschan, das Werner Kunstleben 1995 in der Düsseldorfer Edition Biograph herausbringt. Eine Preziose, die Kenner aufhorchen ließ. Hier deutete sich bereits auf der kurzen Strecke an, was sich in ihrem Roman Abhauen ausformulierte. Es ist alles vorbei, das Panorama ist längst vollständig – doch der Blick fächert sich schnell auf, es gibt viele Spiegelungen und Brechungen, und wenn man an einer Stelle genauer hinschaut, wird sie ungenau und nimmt verschiedene Schattierungen an.
Was der Schriftsteller Norman Manea in der FR zu Protokoll gabe dürfte auch auf Ioona Rauschan zutreffen, dem Versuch, wenigstens innerlich der rumänischen Diktatur Ceauşescus zu entkommen und in die Literatur zu flüchten:
Es war sicher ein Versuch, die direkte Konfrontation mit dem System zu vermeiden. Ich gehörte nicht zu den Dissidenten, die auf die Straße gingen. Mein Widerstand war ästhetischer Natur. Ich schrieb nicht über Helden, wie sie sich das System wünschte. Meine Helden sind Versager. Menschen, die vom System besiegt worden sind und sich in ihre Einsamkeit, in ihr eigenes Gefängnis zurückziehen, um ein Mindestmaß an Authentizität zurückzugewinnen, an realem Denken und Fühlen.
Versuchsanordnungen der Geschichte
Das Buch zeigt nicht, wie schwer es ist zu sterben. Es zeigt, wie schwer es ist, zu leben, sobald man verstanden hat, was es bedeutet zu sterben.
Raluca Ciortan
Abhauen ist eine Versuchanordnung mit sechs unterschiedlichen Menschen, zwei Frauen und vier Männern, deren Schicksale miteinander verknüpft sind. Sie werden an einem Februarsonntag im ersten Jahr des neuen Millenniums durch verhängnisvolle Zufälle gezwungen, dem Tod in die Augen zu sehen. Aufruhr und Konfrontation überraschen sie an den Wegkreuzungen des Lebens, wo sie sich fragen, wer sie sind, was sie sind und weshalb sie sind, falls sie tatsächlich sind. Sie fühlen sich in ihrer Haut nicht mehr wohl, müssen sich von der Stelle rühren, um einsam und unruhig durch eine neue, fremde Ich-Landschaft zu ziehen, die sich der äußeren nicht fügen will.
Sechs Nichtangepasste, die in einer Zeit verordneter Zielstrebigkeit keinen Halt finden und diesen auch nicht anstreben. Zwischen Versagen und Entsagung, Scheitern und Rebellion bleiben sie nicht nur sexuell zwitterhaft, androgyn. Sie entziehen sich jeglicher Zugehörigkeit, finden keine Bestimmung, sind noch immer auf der Suche nach einer kulturellen, sexuellen oder intellektuellen Identität. Es könnte auch alles anders gewesen sein. Daß die Geschichte einen anderen Verlauf hätte nehmen können, daß es oft nur auf Zufälle ankommt, daß man sich auf nichts verlassen kann – verschiedene Optionen werden von Rauschan radikal durchgespielt. Die Frage nach der Rolle und den Möglichkeiten des Einzelnen tritt ins Scheinwerferlicht, und der Roman scheint dabei gar keine ausdrückliche Antwort geben zu müssen.
Über den narrativen Gehalt hinaus
In der Struktur des Romans finden sich die Mäander dieser Sinnsuche in der Konfrontation mit dem Schreiben selbst und der dadurch verursachten Aufruhr der Niederschrift wieder. Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Verrücktheiten. Im Dialog mit dem Unsinn entsteht oft erst der Sinn. Oder vielmehr das, was man gemeinhin dafür hält. Denn Sinn ist eben mehr als die Summe folgerichtiger Denkschritte. Diese logische Unschärfe ist die Bedingung der Möglichkeit von Poesie. In drei Teile gegliedert, die in jeweils vier Kapiteln vier der zwölf Stunden des Tages beschreiben, fließt der Roman von einem Zeitraum zum nächsten, so wie dies von den sechs unterschiedlichen Charakteren wahrgenommen und erlebt wird.
Das alles ist ein existenzphilosophisches Gedankenexperiment, das der Annahme folgt, daß der einzelne Mensch zwar aufgrund individueller Veranlagung geneigt sein mag, den einen Weg eher einzuschlagen als den anderen, daß aber ein entscheidender Moment oder eine Verkettung von Zufällen in der Lage sind, ein Schicksal grundlegend zu verändern – oder zu beenden.
Eine ausgedehnte Unzeit
empfindet eine der Figuren im Roman – die endliche Unendlichkeit der zwölf Stunden in der unendlichen Endlichkeit eines Lebens. Die lineare Romanchronologie entgleist immer wieder, um Bruchstücken einer fremden, dem Roman nicht zugehörigen Erzählsynchronie einen erneuerten, sich stets weiterschreibenden Zeitraum zu verschaffen. Traumwandlerisch durchquert die Autorin poetischer Blick die Wirklichkeitsebenen, sie sammelt Wörter, Ideen und Widersprüche, um die disparate Vielfalt mit leichter Hand zusammenzuführen. Durch das Erzählen wird jede dieser Varianten wirklich. Siebenmal bricht die Geschichte der sechs Charaktere entzwei, sieben surreale, Bild genannte Erzählelemente brechen in die Ist-Zeit des Romans ein, um gleichberechtigte Sein-Zeiten anderer wahrscheinlicher Romane zu öffnen. Ob dies Fenster oder reflektierende Spiegel sind, ist für die einzelnen Geschichten weniger relevant als für den Roman selbst. Die emotionale Kraft von Rauschans eindringlicher Sprache ist ungebrochen, wird jedoch zum Teil aufgehoben durch den dominierenden gedanklichen Überbau. Es ist ein für einen Roman recht ungewöhnliches Spannungsverhältnis zwischen Narration und Reflexion, in dem nicht der philosophische Anteil aus dem Erzählten erwächst, sondern eher umgekehrt.
Bruchstück der fortsetzbaren Niederschrift
Abhauen transzendiert die Beschränkungen einer einzelnen Existenz, einer einzelnen Erzählung, an die wir, im Leben wie im Lesen, gewöhnt sind, und erweitert die Wahrnehmung des menschlichen Daseins um den Möglichkeitsmodus. Obwohl die sieben Bilder mit ihm in keinem direkten inhaltlichen Zusammenhang stehen, sind sie ein Teil von ihm, der ihn bestimmt und definiert. Man könnte Abhauen als einen Roman lesen, der sich siebenfach in sieben Geschichten niederschreiben ließe. So wäre er bloß ein Bruchstück der fortsetzbaren Niederschrift seiner selbst, die er mutig und respektvoll der Fantasie des Lesers überläßt. Rauschans wachsame, im Erzähl-Augenblick so genau beobachtende Prosa vergegenwärtigt jedes dieser literarisch möglichen Leben so intensiv, daß sich niemals das Gefühl eines bloß spielerischen Als ob einstellt. Jedes mögliche Leben ist in dem Moment wahr, da es erzählt wird.
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Abhauen, Roman von Ioona Rauschan, 336 Seiten, Pop Verlag, Ludwigsburg 2008.
Auf der Schwelle. Ein Filmessay über Heinrich Heine von Ioona Rauschan. Edition Biograph, 1997
Die schöne Strickerin, Novelle von Ioona Rauschan, Edition Biograph, Düsseldorf 1995. (Antiquarisch erhältlich).
Weiterführend →
Ein Kollegengespräch mit Ioona Rauschan findet sich hier. Das Live-Hörspiel 5 oder die Elemente wurde in der Regie von Ioona Rauschan mit Marion Haberstroh und Kai Mönnich im Gutenberg-Museum zu Mainz uraufgeführt. Probehören kann man das Monodram Señora Nada (Regie Ioona Rauschan) in der Reihe MetaPhon. Das Hörbuch Gedichte mit einer Klangkomposition von Tom Täger auf CD erhältlich.