vom geheimnis der selbstbewahrung

das reisebuch von renate sattler aus magdeburg über ihre besuche bei indianern in kanada und den usa im jahr 2000 ist ein literarisches tagebuch und zugleich begegnungsbuch. sie besuchte am sankt lorenz strom die mohawk, eine der sechs nationen der »Irokesenliga«. im kulturzentrum der mohawk wurde sie, als vertreterin der nichtregierungsorganisation »Arbeitskreis Vierte Welt«, in gegenseitigem respekt in die gemeinschaft aufgenommen. und sie war zu gast bei den lenni lenape, deren name »wahre Menschen« bedeutet, und die, von den amerikanern delaware genannt, zu den algonkin gehören. ergänzt wird der haupttext, in den sie an einigen stellen gedichte über momente ihrer reise eingeschoben hat, durch eine erzählung und einen erklärenden sachteil sowie fotografien.

als einen der vorzüge dieses buchs empfinde ich, daß die autorin den lesern lebensorte und lebensformen indigener völker mit einem reichtum an details in einer konkreten und prägnanten sprache sinnlich vor augen stellt und dabei zugleich einen blick fürs wesentliche hat, der eine möglichste menge an informationen mit reflexionen verbinden läßt. die beschreibungen sind persönlich, ohne ins bloß private abzugleiten. das verhältnis von vielen einzelheiten und dosierten verallgemeinerungen, die zu einer wesensschau führen, ist genau richtig. ich dachte beim lesen mitunter an die wirklichkeitsnähe und alltagsdichte amerikanischer erzähler oder unabhängiger amerikanischer filme. der sprachrhythmus folgt dem rhythmus des reisens, wahrnehmens, redens und nachdenkens. dabei nimmt sie sich selber als person zurück, rückt ihre indianischen gastgeber, mit denen sie teils seit vielen jahren befreundet ist, in den mittelpunkt, und lenkt die leser mit den wahrnehmungen ihrer augen. wer viel sieht, muß selbst nicht auftrumpfen.

man spürt, wie sich renate sattler selbstbewußt im fernen land bewegte, weil ihr die geschichte und kultur der indianer vertraut ist, und sie nur vor wölfen und mehr noch bären etwas angst hatte. die algonkin kennen einen mythischen wolf als häuptling im land der toten. einmal ertappte ich mich beim leser bei der erwartung, daß noch, wie im grimmschen märchen, ein sprechender bär erscheint, was aber nicht geschieht. ich vermute, ihre frühe hinwendung zu indianischen kulturen seit ihrer kindheit hängt auch zusammen mit eigenen außenseitererfahrungen, wie sie jeder kreativ und ideell veranlagte mensch erlebt. kreativität und ein positives interesse für andere kulturen gehören zusammen. renate sattler sah eine etwa 5000 jahre alte siedlungsstätte der mohawk und in der vitrine eines museums ein 6000 jahre altes kanu der irokesen. allerdings werden die exponate dort nur französisch ausgeschildert. worte indianischer herkunft im deutschen sind, neben kanu, schokolade, kakao, tomate und mais.

man kann die besiedlung amerikas durch europäer sowie die ausrottung, vertreibung und ausplünderung der indianer als ein muster der expansion westlicher zivilisationen sehen, die im gegenzug für diesen hohen preis modernisierungen lieferten, die für indigene völker vielfach keinen segen brachten. die folgen sind ungefähr so, als ob deutsche stämme, die nie die gelegenheit bekamen, einen staat zu gründen, im eignen land, das genau genommen zum besatzungsgebiet wurde, mißachtet und teils in reservationen leben würden, umgeben von einer fremden erobererkultur. hier existiert soetwas nur als irrationale und ausländerfeindliche völkische angstvision. indianervölker hingegen erleben solche zustände wirklich.

während sich die besatzer als gottundgeldgegebene besitzer fühlen, besitz führt oft zur besatzung, schränkt die begrenzung auf verstreute reservationen die lebenschancen der indianer, deren lebensbedingungen vielfach hart sind, bis heute ein. selbst vertraglich zugesichertes land wird ihnen häufig nicht zurückgegeben. jüngst hob donald trump den baustopp für indianerland nahe der standing rock reservation in north dakota zugunsten von erdölbohrungen auf. die politische korrektheit wiederum führt inzwischen dazu, daß man menschen real ausbeuten und demütigen und in kriegen töten kann, dies aber nicht öffentlich fordern darf. der schein der humanität soll gewahrt bleiben. die moralische heuchelei ergänzt oder ersetzt so die religiöse.

in nordamerika leben heute etwa 2,4 millionen indianer in ungefähr 500 reservationen. einige der größten first nations sind die navaho, lakota und irokesen. die sechs nationen der »Irokesenliga« überleben in 17 weit verstreuten gebieten in drei staaten der usa und 2 kanadischen provinzen. eine der reservationen der mohawk wird durch die grenze zwischen den usa und kanada geteilt, wo sich die bewohner kontrollieren lassen müssen. von den lenni lenape, deren hauptteil im 19. jahrhundert vertrieben wurde, leben kleine gruppen in den staaten des östlichen waldlandes der usa. nach dem eintreffen der europäer in amerika starben innerhalb kurzer zeit große teile der indianischen bevölkerung, vermutlich 80 bis 90 prozent, die karibischen fast vollständig. auch im 20. jahrhundert verschwanden noch indianervölker. von manchen indianischen gemeinschaften blieben allein geographische namen.

renate sattler beschreibt detailliert, wie die irokesen, die sie als stolze menschen erlebte, die ihre recht verteidigen, trotz ihrer geschichte der vergangenen jahrhunderte, oder gerade deshalb, ihre identität und würde bewahren. dadurch konnten sie ihr politisches system und ihre religion durch alle zeiten hindurch erhalten. auffallend ist die bedeutung des gemeinschaftlichen lebens. der zusammenhalt wird umso wichtiger in zeiten, wo sie angegriffen werden und gemeinsam widerstand leisten. sie sind militärisch nie besiegt worden und haben sich nicht unterworfen. die »Irokesenliga« hat ihre unabhängigkeit von den usa und kanada erklärt. ihre angehörigen besitzen eigene stammesräte und pässe.

vollständig offenbaren sie die geheimnisse ihrer selbstbewahrung natürlich nicht, auch weil das eine entweihung wäre. ihre mythen und bräuche enthalten geheimnisse, wie gute literatur und kunst. der konflikt zwischen tradition und moderne, und umgekehrt, den viele völker und bevölkerungsgruppen der welt bis hin zu vernünftigen transformationen austragen müssen, ist einer der großen konflikte dieser epoche, der alles überlagernde hauptkonflikt jedoch der neokolonialismus einer ungerechten weltwirtschaftsordnung, die den interessen der stärkeren dient und der auch eurozentristische denkweisen entsprechen.

renate sattler berichtet, wie authentische indianische traditionen, trotz aller verluste, das leben in den siedlungen strukturiert und stabilisiert. der rat der friedenshäuptlinge der irokesen muß die auswirkungen seiner entscheidungen auf die angehörigen von sieben generationen bedenken. dies geht weit über die wirksamkeit der orakelsprüche von delphi hinaus, die man weise nannte. auch schildert sie das matrilineare stammesundclansystem der mohawk und seneca. »Das Clansystem ist mit den Frauen verbunden. Sie haben die gleichen Rechte in der Gesellschaft wie die Männer. Eine Frau, die eine Familie gegründet hat, für ihre Weisheit  und Geduld geachtet wird, kann zur Clanmutter auserwählt werden.« die clanmütter wählen die häuptlinge und können sie auch wieder abwählen. ein mann zieht nach der heirat ins haus seiner frau. die indianischen frauen, die oft zu großen autoritäten innerhalb ihrer gemeinschaften werden, haben meist früh kinder. in alternden gesellschaften sind auch die eltern älter.

die irokesen nennen sich selbst haudenosaunee, leute des langhauses. und das langhaus ist symbol der »Irokesenliga«, ihrer regierung. archäologische funde von langhäusern haben ein alter von fast 1000 jahren. in langhäusern, die über 200 meter lang sein konnten, wohnten früher bis zu 100 personen. heute sind neu gebaute langhäuser vor allem zeremonialbauten und treffpunkte für traditionelle tänze und gesänge. vielfach leben die mohawk, die teils auch wohlstand erreicht haben, von kunsthandwerklichen arbeiten. sie verkaufen in holz und geweih geschnitzte figuren, geflochtene körbe, stickereien, silberschmuck, perlenketten, maisstrohpuppen, schildkrötenrasseln, rindenkanus. die arbeit für die erhaltung und vermittlung der indianischen kultur wird überwiegend ehrenamtlich geleistet.

die autorin berichtet aber auch vom einsatz der kanadischen armee und polizei mit panzern, kampfhubschraubern, schnellbooten und tränengas im jahr 1990, als ein golfplatz auf einem alten friedhof der mohawk erweitert werden sollte und die betroffenen dagegen protestierten, was die erzählung am schluß des buches nochmal aufgreift. für völker mit ausgeprägter tradition sind friedhöfe besonders heilig, weil die ahnen die kollektive identität und zugehörigkeit sowie das soziale gewissen der gemeinschaft repräsentieren. golf ist herrschaftssymbol. wer die golfplatzerweiterung blockiert, gilt als gefährder der herrschaft.

dem herkömmlichen westlichen blick auf indigene völker mißtraut renate sattler. mehrheitskulturen, und zumal siegreiche, verlangen von minderheiten und verlierern anpassung. nur der integrierte gilt als redlich. lateinisch integrāre bedeutet auch einrenken. die am perfektesten unterworfenen sind meist die privilegierten und die treuesten die überläufer. wenn es bei friedrich dürrenmatt heißt: »der wahre Sieg kommt nur den Besiegten zu.«, so meint er die aufgewachten besiegten, während die meisten menschengruppen bis zu ihrem ende schlafkollektive bleiben.

verweigerung ist eine legitime reaktion auf herrschaft. wenn mehrheiten auf nichtanpassung mit ausgrenzung reagieren, beweisen sie ihre unfreiheit. kulturen können sich einzig auf ihren eigenen grundlagen entwickeln, indem sie transformatorisch elemente anderer kulturen aufnehmen. sobald dies schlagartig und durch fremdbestimmung geschieht, entstehen  verwerfungen und gibt es verletzungen. freilich sollten sich auch mehrheitsverweigerer, individuell wie kollektiv, weiterentwickeln oder neu kreieren, damit sie nicht in stagnation und regression verfallen, die zu selbstbeengungen führen, wie man sie teils bei orthodoxen gemeinschaften findet.

in pennsylvania stieß die autorin auf orte deutscher besiedlung. manche religionsgemeinschaften wie herrnhuter oder quäker lebten früh vergleichsweise friedlich neben und mit ihren indianischen nachbarn. james fenimore cooper hat dies literarisch populär gemacht, doch auch verklärt. zugleich wurden irokesen und lenni lenape von den englischen und französischen kolonialmächten in kriegen benutzt. renate sattler erwähnt, daß indianer in der amerikanischen armee dienen und sogar im vietnamkrieg kämpften, obwohl das schicksal der vietnamesen dem ihrem ähnelte.

in einer sage der susqueehenna-indianer aus dem nordosten der usa erzählt ein christlicher missionar einem indianer biblische geschichten, die letzterer mit seinen mythen beantwortet. der missionar entgegnet: »wie könnt ihr doch an solch dumme Fabeln glauben, die irgendein müßiger Kopf von euch ausgeheckt hat? Was ich euch aber erzählt habe, ist die reinste Wahrheit und stammt aus dem Mund des Allmächtigen selbst!« und der indianer erwidert: »es scheint, dass man bei deiner Erziehung doch die Hauptsache vergessen hat. Du sahst, dass wir so höflich waren, deine fabelhafte Geschichte zu glauben: warum glaubst du nun die unsrige nicht ebenfalls?«

urschöpfer darf genannt werden, wer etwas aus dem nichts erschafft. renate sattler zitiert den schöpfungsmythos der mohawk, der sich ähnlich bei anderen first nations findet und die matrilineare gesellschaft begründet. die himmelsfrau fällt aus einer friedlichen und harmonischen himmelswelt, wie ein kind aus dem körper der mutter, wird von den tieren unten, die alle wasserbewohner sind, aufgefangen und schläft auf dem rücken der großen meeresschildkröte ein, die als urmutter und schöpferin gilt. die tiere schaufeln vom meeresgrund erde herauf, woraus die schildkröte die urinsel formt. »Als die Frau erwachte, fand sie Nahrung neben sich. Sie blickte um sich und nahm Veränderungen wahr, die mit der Landschaft vor sich gegangen waren. Dann wanderte sie entgegen dem Uhrzeigersinn über die Oberfläche. Durch ihr Laufen beschleunigte sie die Veränderungen der Umwelt. Der Panzer der Schildkröte wuchs und formte die Schildkröteninsel.« die natur birgt die frau und die tiere, die sie aufnehmen, helfen ihr. das laufen gegen den urzeigersinn bedeutet die richtung zur krankheit sowie zu unglück und tod, also der gegenseite des lebens, die hier ebenfalls mitgedacht wird.

schließlich gebiert die frau, die auf geheimnisvolle weise schwanger wurde, eine tochter, die auf der schildkröteninsel heranwächst und männlichen zwillingen das leben schenkt, die in mythen meist der gute und der böse geist sind. einer der söhne verläßt die mutter, die dadurch stirbt, durch die achselhöhle. die großmutter begräbt ihre tochter, aus deren körper mais, bohnen und kürbis wachsen, hauptnahrungsmittel der irokesen, die sie die drei heiligen schwestern nennen. der konstruktive der zwillinge formt danach die ersten menschen und deren lebensraum. zahlreiche unserer lebensmittel stammen ursprünglich aus amerika, etwa mais, kartoffeln, kürbisse, tomaten, paprika, erdnüsse, sonnenblumenkerne, und wurden zuerst von indianern angebaut, mais seit annähernd 10000 jahren. die irokesen sind für ihre entwickelte landwirtschaft bekannt. eine fotografie von der reise zeigt wildmaispflanzen.

bei den lenni lenape gibt es neben dem schildkrötenclan truthahnclan und wolfsclan. weil schildkröten sehr alt werden, bedeuten sie für mitglieder eines schildkrötenclans ein ewiges leben. der truthahn wäre fast zum wappentier der usa geworden. dann hätte neil armstrong nach seiner mondlandung »Der Truthahn ist gelandet.« sagen müssen. unter anderem wollte benjamin franklin, schriftsteller, verleger, naturwissenschaftler, einer der gründerväter der usa, mitunterzeichner der amerikanischen unabhängigkeitserklärung, mitautor der us-amerikanischen verfassung und erfinder des blitzableiters, den wehrhaften truthahn im wappen des unabhängigen amerika haben. dann machte aber der seeadler das rennen. der adler der irokesen erscheint als bote des schöpfers und beschützer der menschen. den adlertanz, der flugbewegungen der adler nachahmt, hat renate sattler selbst mitgetanzt. im museum von kahnawake, in einer kanadischen reservation der mohawk, wird der adlertanz für touristen aufgeführt.

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Kanadischer Sommer / Zu Gast bei Irokesen und Delaware, von Renate Sattler. Verlag Edition AV, Bodenburg, 2018