Ernsthaftigkeit und Lächerlichkeit all jener Beschwerden zu ertragen, die Ruheständler erleiden, könnte – muss aber nicht – zur Altersweisheit führen.
Alles, was ich anfasse, anzufassen versuche oder nicht einmal berühren will, fällt unweigerlich zu Boden. Und das vor allem, wenn ich mich verzweifelt bemühe, den drohenden Absturz zu verhindern.
Besonders, wenn mich mein naturgemäß stark eingeschränkter jugendlicher Schwung antreibt, entwickelt die Erdanziehung unüberwindliche Kräfte.
Der Altersgruppe 70 plus zugehörig, die bekanntlich zu seniler Bettflucht neigt, bin ich zumeist wenig ausgeschlafen.
Doch gibt es Nächte, die mich aus unerfindlichen Gründen mit überraschendemTiefschlaf beglücken. Stehe ich nach einer solchen Nacht voller Tatendrang auf, wachsen viele mögliche sich zu tatsächlichen Katastrophen aus.
Schon der an sich genügend breite Rahmen unserer Schlafzimmertür, der beim Einzug noch ausreichte, problemlos Doppelbett und antiken Kleiderschrank passieren zu lassen, wird nach solcher Nacht zu meinem ersten unüberwindlichen Hindernis, dem ich mich mit breiter Schulter schmerzfrei nähere, um nach schmerzhaftem Zusammenstoß über den Flur ins Bad zu stolpern. Natürlich werde ich spätestens am nächsten Tag unter der Dusche einen blauen Fleck am Oberarm entdecken. Aber so weit bin ich noch nicht. Zunächst verfehle ich bei einem rasant angesetzten Drehschwung den Platz vor dem Badezimmer-Spiegel und suche leicht schwindelig nach meinem Gegenüber. Und finde ich ihn, starrt der mich entsetzt an. Vermutlich wird auch sein Hirn gerade von Katastrophen-Gedanken geflutet, die mit der resignierenden Überlegung enden, doch besser wieder ins Bett zu gehen.
Um aber mein Gegenüber genauer in Augenschein zu nehmen, taste ich nach meiner Brille, die ich abends nach dem Zähneputzen immer auf der Ablage unter dem Spiegel deponiere. Meine Sehhilfe weicht allen Tastversuchen aus, fällt auf den Waschbeckenrand und von dort auf den gefließten Badezimmerboden. Zum Glück riet mir die Seniorchefin des Optikers meines Vertrauens zu bruchsicheren Kunststoffgläsern und einem ebenso bruchsicheren Gestell. „Glauben Sie mir, es lohnt sich. Mein Mann macht damit nur allerbeste Erfahrungen.“
Im übrigen fällt mir auch nur noch meine elektrischen Zahnbürste aus der Hand und landet auf der flauschigen Badematte, die meine Frau einst hinlegte, um auch andere Geräte vor ernsthaften Schäden zu schützen.
Beim Anziehen meiner Jeans, die, damit sie mich jugendlicher erscheinen lässt, zu eng geriet, kann ich das Gleichgewicht nicht halten und finde mich sitzend vor dem Schlafzimmerspiegelschrank wieder. Aus ihm blickt mir ein faltenreich verzweifelt sorgenvolles Gesicht entgegen. Ich strecke ihm die Zungen heraus und sehe dem alten Mann aus Gründen der Diskretion nicht beim mühsamen Aufstehen zu.
Während des Frühstücks hinterläßt der Kaffee noch einige kaum sichtbare Flecken auf meinem vorsichtshalber ohnehin kaffeefarbenen Pullover und das Glas mit dem gesunden Vitamin C haltigen Orangensaft rutscht, als ich nach einem Brötchen greife, nur wenige Zentimeter zur Seite. Vorgestern kippte es, natürlich randvoll. Und die klebrige goldgelbe Flüssigkeit ergoss sich über den Tisch, meine Hosenbeine und die frisch gewaschenen Kissen der Küchenbank. Dabei hatte ich in der Nacht zuvor noch nicht einmal besonders gut geschlafen.
Anschließend las ich in der Zeitungsbeilage, die sich an diesem Tag ausgerechnet an Seniorinnen und Senioren richtete, wie ungemein beruhigend Entspannungs-und Meditationsübungen sein können.
Der Ruhe wegen sind wir vor drei Jahren in ein Dorf gezogen, und um es noch ruhiger zu haben, in ein Haus unweit eines größeren Waldes.
Da ich wegen innerer Unruhe dringend Auslauf brauche, verlasse ich unser Haus und steige einen steilen Feldweg hinan.
Ganz aus der Puste erreiche ich den Wald, stolpere über den beachtlichen Ast einer imposanten Eiche, der beim letzten Herbststurm zu Boden ging und lande weich, nämlich mit meinem Hinterteil in einem erstaunlich großen Ameisenhaufen.
Als ich aufsehe, nähert sich mir jener Jagdpächter, dem ich bereits öfter hier begegnete. Wir unterhielten uns einige Male über Gott, die Welt und unsere Altersbeschwerden.
Schwungvoll stellt er Rucksack und Gewehr an jene imposante Eiche, reicht mir lachend die Hand und versucht, mich hochzuziehen. „Alter Glückspilz, hast Du mir nicht erzählt, dass dich auch das Rheuma plagt? Ameisensäure ist hervorragend dagegen, mein Lieber.“ Sogleich verliert mein Nothelfer das Gleichgewicht und sitzt schließlich neben mir zwischen schwarzen Insekten, die sich geschäftig über uns hermachen.
„Hast Du heute Nacht auch so gut geschlafen?“ will ich von ihm wissen.
„Ja, und ich habe geträumt, endlich einem weisen alten Mann zu begegnen.“
***
Anmerkung der der Redaktion: Gerne verweisen wir in diesem Zusammenhang noch einmal auf den Vorruhestandswahn, von Karl Feldkamp. Erschienen bei Satzweiss.com – Chichilli-Agency, 2011