DAS VERSTECK

ich lebe im haus meiner kindheit, doch nicht als kind, sondern während des zweiten weltkriegs, vor dem ich desertiert bin. hinter vorgeschobenen schränken auf dem boden versteckt, steige ich nur zum essen auf einer treppe zu den hausbewohnern hinab, die mich aufnahmen. im sommer ist meine kammer, die sich nicht lüften läßt, oft unerträglich stickig. gegen die winterkälte nutze ich einen bahnheizkörper. meine kontakte zur welt außerhalb des hauses sind auf geräusche reduziert. ich höre eisenbahnen, pferdefuhrwerke und autos vorbei fahren und die vögel singen. gewitter und regenschauer bieten abwechslung. ich kann die zeitung lesen, dazu einige bücher, die ich mitnahm, gelegentlich radio hören, die bewohner sprechen und gedichte schreiben. zugleich schreibe ich briefe an frühere bekannte und verwahre die blätter in großen briefumschlägen, die ich aber nicht abschicke. vorsicht ist das oberste gebot, damit mich niemand entdeckt, weshalb ich nie das haus verlasse, an keines der fenster trete und mich sofort verstecke, sobald jemand an der haustür klopft oder klingelt. während die hausbewohner bei luftalarm vorschriftsmäßig ihren keller aufsuchen, verberge ich mich in meiner kammer. weil mitunter dorfleute, die vom alarm überrascht wurden, um einlaß bitten, scheint die gefahr des entdecktwerdens größer als die wahrscheinlichkeit, ausgerechnet unser dorf würde bombardiert werden. die verdunkelung kommt mir sogar entgegen, indem sie mich umso unsichtbarer macht.

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Traumnotate von Holger Benkel, KUNO, 2020

Radierung von Francisco de Goya

Die Frage nach der besonderen Kompetenz der Dichter für die Sprache und die Botschaft der Träume wurde durch Siegmund Freud fundamental neu gestellt. Im 21. Jahrhundert ist die Akzeptanz des Träumens und des Tagträumens weitaus größer als noch vor hundert Jahren. Träumen wird nicht mehr nur den Schamanen oder Dichter-Sehern, als bedeutsam zugemessen, sondern praktisch jedermann. Gleichwohl wird den Dichtern noch immer eine ‚eigene‘ Kompetenz auf dem Gebiet des Traums zugesprochen – Freud sah sie sogar als seine Gewährsmänner an, mit Modellanalysen versuchte er diese Kompetenz zu bestätigen. Die Traumnotate von Holger Benkel sind von übernächtigter, schillernd scharfkantiger Komplexität.

Weiterführend

In einem Kollegengespräch ergründeln Holger Benkel und A.J. Weigoni das Wesen der Poesie – und ihr allmähliches Verschwinden. Das erste Kollegengespräch zwischen Holger Benkel und Weigoni finden Sie hier.

kindheit und kadaver, Gedichte von Holger Benkel, mit Radierungen von Jens Elgner. Verlag Blaue Äpfel, Magdeburg 1995. – Eine Rezension des ersten Gedichtbandes von Holger Benkel finden Sie hier.

meißelbrut, Gedichte von Holger Benkel, mit siebzehn Holzschnitten von Sabine Kunz und einem Nachwort von Volker Drube, Dr. Ziethen Verlag, Oschersleben 2009. – Eine Rezension finden Sie hier. Ulrich Bergmann regte der Band zu einer Suche nach der Anderswelt an. André Schinkel liest darin Nachrichten aus der Knochenzeit.

Seelenland, Gedichte von Holger Benkel, Edition Das Labor 2015 – Benkel beweist als Lyriker in seinem Band Seelenland ein Gespür für das Unvertraute im Vertrauten, das Unheimliche des Alltäglichen, das Scheinhafte des Realen. Ulrich Bergmann denkt über den Gedichtband nach.

fliegende wesen, Gedichte von Holger Benkel,  erschienen in der Weberknecht-Edition, Magdeburg, 2018 – Ulrich Bergmann mit einer Rezension zum aktuellen Band.

Gedanken, die um Ecken biegen, Aphorismen von Holger Benkel, Edition Das Labor, Mülheim 2013 – Benkels Gedanken, die um Ecken biegen gehen weiter als der geschriebene Text; sie sind kein Ende, sondern ein Anfang. Sie versuchen, diesen kleinen Rest an Sprache etwas aufzuhellen, und wagen es seine Ränder verstehbar zu machen.

Essays von Holger Benkel, Edition Das Labor 2014 – Einen Hinweis auf die in der Edition Das Labor erschienen Rezensionsessays finden Sie hier. Auf KUNO lesen Sie u.a. Rezensionsessays von Holger Benkel über die Brüder Grimm, Ulrich Bergmann, A.J. Weigoni, zur Lyrik von HEL = Herbert Laschet Toussaint, Haimo Hieronymus, Uwe Albert, André Schinkel, Ralph PordzikFriederike Mayröcker, Werner Weimar-Mazur, Holger Uske, Joachim Paul, Peter Engstler, Jürgen Diehl, Birgitt Lieberwirth, Linda Vilhjálmsdóttir, Sabine Kunz und Joanna Lisiak.